Dienstag, 29. November 2011

Stuttgart im Gegensatz zu Zuccotti Park, New York

Zusammen betrachtet, kann man aus der Bewegung gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 und der Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS) nützliche politische Lehren ziehen.
Am 27. November wurde per Referendum entschieden, dass das Land Baden-Württemberg nicht aus der Finanzierung des Bahnprojekts aussteigen soll. Die Stuttgarter Demonstranten hatten eine, eine einzige und klare Forderung, nämlich, dass der Tiefbahnhof nicht gebaut werden soll. Nicht die Politiker, sondern die höchste demokratische Instanz, die Wählerschaft in Baden-Württemberg, hat die Forderung der Stuttgarter Demonstranten abgelehnt und ihnen so eine Abfuhr erteilt. Das kann den Demonstranten der Occupy-Bewegung nicht passieren. Denn sie haben keine Forderung gestellt, die abgelehnt werden kann.
In einem Zeitungsartikel las ich einen kurzen Bericht über das Vorspiel zu der Occupy-Bewegung, das im Bundesstaat Wisconsin stattgefunden hatte. Im Februar dieses Jahres brachte der Gouverneur einen gewerkschaftsfeindlichen Gesetzesentwurf ins Parlament ein. Aus Protest dagegen besetzten Studierende und gewöhnliche Lohnabhängige drei Wochen lang das Parlamentsgebäude. Es gab in der Hauptstadt Madison Demonstrationen von über hunderttausend Menschen. Aber, um es kurz zu fassen, die Bewegung endete mit einer Niederlage. Das Gesetz wurde verabschiedet, und bei den anschließenden Wahlen wurden die Politiker, die für das Gesetz gestimmt hatten, wiedergewählt. Der Autor Abra Quinn schreibt: "Daraus hat OWS eine Lehre gezogen: die Bewegung will keine Forderungen an die Parlamente mehr aufstellen, das könnte sie in eine wahlpolitische Farce verstricken" (SoZ, 12/2011).
Ist das Strategie oder Taktik? Was auch immer, ist es politisch klug, keine klare Forderung zu stellen? In den ersten Wochen der Besetzung des Zuccotti-Parks haben manche amerikanische Publizisten und sonstige Beobachter die Besetzer aufgefordert zu sagen, was ihre konkreten Forderungen sind. Einer gab ihnen auch diesbezüglich Ratschläge. Aber selbst wenn die Besetzer es gewollt hätten, bei der Spontaneität der Aktion und der großen Heterogenität ihres politischen Denkens und Hintergrunds, wäre das nicht möglich gewesen. So blieb es beim bloßen Ausdruck von Empörung.
Dennoch hat die Occupy-Bewegung mehr und politisch Sinnvolleres gesagt und geleistet als die Bewegung gegen Stuttgart 21. Die letztere hat nicht einmal überzeugend erklären können, warum das Projekt Stuttgart-21 verworfen werden sollte.
Wenn aus ökologischen Gründen die Dienstleistungsqualität öffentlicher Verkehrsmittel verbessert werden soll, dann warum sollen Menschen, insbesondere die Grünen, gegen ein Bahnprojekt sein? Das Argument, die Kosten seien zu hoch, ist ein sehr schwaches Argument in einem sehr reichen Land. Schließlich fordern alle Ökos, insbesondere die Grünen, dass Sonnen- und Windenergieprojekte mit viel Geld subventioniert werden sollen. Es wäre ein echt ökologisches und überzeugendes Argument gewesen, wenn die Gegner des Projekts verallgemeinernd gesagt hätten: wir brauchen keine Beschleunigung, Entschleunigung ist das Gebot der ökologischen Vernunft. Oder wenn sie gesagt hätten: jedes unnötige Bauprojekt ist eine Ressourcenverschwendung und umweltschädlich. Die Schönheit des Kopfbahnhofs wäre dann ein zusätzliches Argument.
Im Gegensatz zu den Stuttgartern mit ihrem knauserig klingenden Kosten-Argument gegen ein einzelnes Bauprojekt haben die Occupy-Bewegten mindestens ein großes allgemeines Problem thematisiert, nämlich die Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, 1% Superreichen und 99% "Armen". So haben sie indirekt ein bisschen zur Delegitimierung des Kapitalismus beigetragen, und das in den Hochburgen des Systems.
Es hat mich gar nicht gewundert, dass 58% der Wähler, von denen die meisten sicherlich arbeitende Menschen sind, das Projekt Stuttgart-21 befürwortet haben. In einer Zeit, in der innerhalb von vier Jahren eine zweite Rezession droht, die viele Arbeitsplätze vernichten würde, betrachten die Wähler die Zerstörung des Kopfbahnhofs und der Bau des Tiefbahnhofs wohl als eine gute, Arbeitsplätze schaffende, konjunkturpolitische Maßnahme. Schließlich hatten sie 2009 auch die Autowrackprämie gut geheißen. Der selige John Maynard Keynes, Guru der Gewerkschafter und der Sozialdemokraten, hatte sogar empfohlen, in Krisenzeiten Löcher im Boden graben und sie wieder zuschütten zu lassen.

Mittwoch, 23. November 2011

Viel Tun oder Nichts Tun? Das ist die Frage!

Vor etwa zwei Wochen las ich in der SZ (12.11.11) einen kurzen Redaktionsartikel mit der Überschrift "Lob des Nichtstuns". Schon die Überschrift genügte, mein Interesse zu wecken. Was, dachte ich, in einer deutschen Zeitung erscheint so ein Artikel! Zumal in der SZ, der führenden Zeitung des Landes für Wirtschaft und Finanzgeschäfte!
In dem Artikel ging es um den Vorschlag der Regierung Ecuadors, auf die Ausbeutung des neulich gefundenen großen Ölvorkommens im Yasuni-Nationalpark im Amazonasgebiet zu verzichten, wenn die Weltgemeinschaft das Land für die entgangenen Öleinnahmen entschädigt. Der Autor informiert uns: "Naturschützer loben die Initiative als Vorbild, wie rohstoffreiche Länder sich aus Abhängigkeiten lösen und neue Wege suchen könnten."
Nachdem ich bis zu diesem Satz gelesen hatte, dachte ich: welch ein Unsinn! Wo ist hier die Suche nach neuen Wegen? Und wo ist hier der Versuch, sich aus Abhängigkeiten zu lösen? Die Ecuadorianer hoffen bzw. fordern doch, dass reiche Länder ihnen (wie es der deutsche Entwicklungshilfeminister Dirk Niebel ausdrückte) fürs Nichtstun X Millionen oder Milliarden Dollar zahlen. Sieht das wie ein Streben nach Unabhängigkeit aus?
Die Regierung soll argumentiert haben, Ecuador brauche das Geld dringend für seine Entwicklung. Auch dies sieht nicht wie eine Suche nach neuen Wegen aus. Das ist der alte Weg, Entwicklung.
Das einzige, was in diesem Vorschlag Lob verdient, ist, dass die Regierung ihn gemacht hat, um ein Stück Urwald und die darin lebenden Urvölker zu schützen. Die Behauptung, sie wolle damit zum Klimaschutz beitragen, ist nicht überzeugend. Denn woher sollen die reichen Länder die Hunderte von Millionen Dollar haben, die sie Ecuador zahlen sollen?
Damit ist die grundsätzlichste Frage der Volkswirtschaftslehre angeschnitten: wie entsteht der Reichtum der Völker? Bevor die fossilen Brennstoffe in großem Ausmaß als Energiequelle eingesetzt wurden, waren "die Springquellen alles Reichtums", wie Marx es ausdrückte, "die Erde und der Arbeiter". Unter "Erde" könnte man Ressourcen wie fruchtbaren Boden, Wälder, (fischreiche) Gewässer und allerlei Mineralien verstehen. Energie und Know-how lieferten die Arbeiter. Auch fließendes Wasser, wehender Wind und die Wärme des Sonnenscheins (für die Landwirtschaft) waren als Energiequellen da.
Das waren aber die Reichtumsquellen der vorindustriellen Gesellschaften. Seit dem Beginn des Industriezeitalters jedoch kommt Energie hauptsächlich von den fossilen Brennstoffen. Wenn nun die reichen Länder Ecuador großzügig "für Nichtstun" mehrere Milliarden Dollar zahlen wollten, müssten sie diese Gelder zunächst einmal erwirtschaften. Und das geht bisher nur mit erhöhtem Einsatz von fossilen Energieträgern in Europa, Japan und Nordamerika, vielleicht auch in China, Indien und Brasilien. Ecuador kann also überhaupt nicht behaupten, es sei bereit, auf etwas zu verzichten. Es ist nicht bereit, auf das Geld von möglicher Ölförderung zu verzichten. Und von Erhöhung vom CO2-Ausstoß will es auch nicht wirklich ablassen. Beides soll in anderen Ländern geschehen.
Seit einiger Zeit hören wir viel von einem anderen Wind, der in einigen Teilen von Lateinamerika weht, besonders in Ecuador und Bolivien. "Buen vivir", gut leben, statt Wirtschaftswachstum und Wohlstand, soll da jetzt der neue Slogan sein. Das erinnert mich an den von Fritz Schumacher geprägten Slogan "small is beautiful".
Aber die führenden Politiker in Ecuador und Bolivien scheinen immer noch nicht die wahre Bedeutung dieser Slogans für ihr jeweiliges Land verstanden zu haben. Darum ließ Evo Morales eine Straße durch einen anderen Urwald des Amazonasgebiets bauen, bis die indigenen Einwohner des Gebiets ihn zwangen, das Projekt zu streichen. Die Straße nicht zu bauen und auf die in Aussicht gestellten wirtschaftlichen Vorteile von dem Projekt zu verzichten, das ist Nichtstun. Und Bolivien hat dafür keine Entschädigung gefordert.
Viele solche Verzichte sind notwendig, wenn die Menschheit die Natur und das Weltklima wirklich schützen will, oder, wie es der SZ-Autor ausdrückt, "der Natur und dem Weltklima wäre … mehr geholfen, wenn die Menschheit sich tatsächlich einmal auf Nichtstun verlegen würde."

Samstag, 5. November 2011

Auch eine Krise der Demokratie

Gerade, am Abend vom 3. November 2011, habe ich eine Nachricht gehört, die deutlich macht, wie hohl das politische System Demokratie inzwischen geworden ist. Griechenlands Premierminister Papandreou hatte vor zwei Tagen angekündigt, er werde das griechische Volk per Referendum entscheiden lassen, ob sein Land das Rettungspaket akzeptieren soll, das die Eurozone-Bosse – Merkel, Sarkozy et al. – für die Rettung Griechenlands und gleichzeitig für die Rettung der Eurozone und des Euro geschnürt hatten. Merkel und Sarkozy waren böse. Sie zitierten Papandreou zu einem dringlichen Treffen und lasen ihm die Leviten. Papandreou kam zurück nach Athen und sagte im Parlament, das griechische Volk – Erfinder der Demokratie sowie des Begriffs Europa – brauche kein Referendum für die wichtigste Entscheidung in seiner neuren Geschichte.
Ich möchte noch ein Beispiel geben, allerdings einer anderen Art. Vor ein paar Monaten veranstaltete in der Hauptstadt von Indien ein alter, bis dahin wenig bekannter Sozialarbeiter namens Anna Hazare einen Hungerstreik. Er wollte dadurch erreichen, dass in seinem Land, wo Mahatma Gandhi in der Zeit der britischen Kolonialherrschaft dieses Mittel oft benutzt hatte, Korruption in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens effektiv bekämpft wird. In kurzer Zeit sammelten sich mehrere tausend indische Staatsbürger um ihn und demonstrierten jeden Tag für die Verabschiedung eines strengen und effektiven Gesetzes, das es ermöglichen würde, dass eine unabhängige Instanz selbst die höchsten Persönlichkeiten der Politik und des Beamtentums wegen Korruption bestraft. Hazares Anti-Korruptionsbewegung breitete sich aus. Die Volksvertreter, die nicht leugnen konnten, dass Indiens Politik, Wirtschaft und Verwaltung hochgradig mit Korruption durchsetzt sind, boten Gesetzesentwürfe an, die Hazare und seine Anhänger nicht zufrieden stellen konnten. Diese beharrten auf ihrer Forderung nach einem sehr viel strengeren und sehr viel effektiveren Gesetz. Die demokratisch gewählten Volksvertreter, die längst kein Ansehen mehr im Volk genießen, argumentierten, in einer parlamentarischen Demokratie wie der Indiens dürften nur sie entscheiden, was für ein Gesetz gut für das Land sei. Das nützte nichts. Die Bewegung gewann jeden Tag tausende neue Anhänger im ganzen Land. Die Politiker gaben schließlich nach, akzeptierten die Forderung von Hazare und seinen Anhängern.
In beiden Fällen haben Leute, die nicht demokratisch legitimiert waren, entschieden, was in Griechenland bzw. Indien geschehen soll. Im Falle Griechenlands waren es sogar Politiker von anderen Ländern. Im Falle Indiens war es der Druck der Straße, kein Referendum. Es waren vielleicht 20 tausend Inder – eine winzige Zahl im Vergleich zu der Gesamtbevölkerung von 1,2 Milliarden. Das zeigt, dass, aus verschiedenen Gründen, die Demokratie nicht so richtig funktioniert. Griechenland hat de facto seine Souveränität verloren, in Indien das Parlament seine Macht.
Ich denke, wir sollen diese Verhältnisse nicht bedauern. Volksvertreter haben nie die Interessen des gesamten Volkes vertreten. Die Parteien vertreten nur die Interessen eines Teils des Volkes, die Volksvertreter, im besten Fall, die Interessen eines Teils der Wähler ihres Wahlkreises. Meistens vertreten sie die Interessen ihrer Klientel, im schlimmsten Fall ihr eigenes privates Interesse. Darum spricht man ja auch von Demokratie als einem Mittel, mit dem Verhandlungen zwischen den verschiedenen Interessengruppen in der Gesellschaft ermöglicht werden. Und seitdem Staaten von Export und Import sowie von ausländischen Investitionen abhängig geworden sind, haben sie auch ihre ökonomische Unabhängigkeit verloren. In dieser tatsächlichen Lage, entspräche es eher der Wahrheit, wenn wir das gegenwärtige politische System Plutokratie nennen würden statt Demokratie. Denn es ist wahr, Geld regiert die Welt.
Was aber sehr viel schlimmer ist, ist die Tatsache, dass eine sehr große gesellschaftliche Interessengruppe an den Verhandlungen über die Verteilung von Ressourcen und die Handhabung der Biosphäre nicht teilnehmen kann, weil sie noch nicht geboren ist. Die künftigen Generationen werden aber ganz sicher geboren werden. Ihre Interessen werden jedoch von den gegenwärtig lebenden Generationen völlig ignoriert. Mit unserem steigenden Ökologiebewusstsein müssen wir dazu noch auch über die Rechte der anderen Spezies der Erde reden. Auch diese können nicht an den Verhandlungen zwischen den Interessengruppen teilnehmen.
Dieses Manko jedweder bekannten Variante des demokratischen politischen Systems kann nicht behoben werden, es sei denn, dass irgend etwas Nichtdemokratisches unternommen wird. Kann man durch eine demokratisch verabschiedete Verfassungsänderung verhindern, dass die gegenwärtig lebenden Generationen eines Volkes über ihre Verhältnisse leben, das heißt auf Kosten der künftigen Generationen und anderer Völker, wie es die Griechen, Italiener usw. getan haben? Kann man auf diese Weise verhindern, dass die gegenwärtig lebenden Menschen die Ressourcen der Erde erschöpfen und die Umwelt zerstören? Das ist nicht möglich. Denn jede Verfassungsänderung kann demokratisch durch eine weitere Verfassungsänderung rückgängig gemacht werden.
Übrig bleibt nur die Möglichkeit einer allgemeingültigen Hegemonie von zwei ethischen Prinzipien, nämlich vom Prinzip der Nachhaltigkeit und vom Prinzip der Gerechtigkeit inklusive der Gerechtigkeit zwischen den gegenwärtig lebenden und den künftigen Generationen. Diese Hegemonie kann nur eine kulturelle sein. Sie muss aber soviel Kraft (nicht Macht) haben, dass kein Präsident, Premier oder Kanzler es wagen würde, sie zu verletzen. Wie sie zustande gebracht werden kann, darüber muss noch nachgedacht werden.