Freitag, 29. Juni 2012

Wie mächtig ist Indien wirklich?

Indien ist in jeder Hinsicht ein wichtiges Land. Und ich bin Inder, auch was die Staatsangehörigkeit betrifft. Darum bin ich ein bisschen überdurchschnittlich interessiert an Nachrichten und Kommentare aus und über Indien. Aber ich gebe mir Mühe, diese im Kontext des Weltgeschehens zu lesen. Neulich las ich in einem editorischen Kommentar über das magere Ergebnis des Rio+20-Gipfels Folgendes: "Was hatten die Europäer doch schöne Ziele. Eine eigene Umweltbehörde der Vereinten Nationen. Feste Vorgaben für eine nachhaltige Entwicklung. Klare Zuständigkeiten, klare Absprachen – nichts davon haben sie … in Rio erreicht. Die neuen Mächtigen dieser Welt hatten etwas dagegen: Brasilien, Indien, China. … Für Europa ist Rio zur Demonstration der eigenen Ohnmacht geworden." (Süddeutsche Zeitung, 25.06.12).
Als ich dies las, fragte ich mich: soll ich jetzt ein bisschen stolz sein? Ist Indien mächtig geworden? Das ist Unsinn. Eine globale Vereinbarung verhindern zu können, ist kein Beweis von Macht, sondern von Ohnmacht. Wo die Zustimmung aller Länder notwendig ist, kann auch ein kleines, schwaches Land etwas leicht verhindern. Ein Beweis von Macht wäre, wenn Indien etwas Positives hätte durchsetzen können. So gesehen, sind in der Weltumweltpolitik nicht nur die Europäer ohnmächtig, sondern alle, inklusive Indien.
Die angebliche Macht von Indien, China und Brasilien besteht in ihrer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Diese Macht aber befähigt sie zu nichts Positivem. Im Gegenteil. Sie sind alle in der Defensive. Denn der neue Wohlstand ihrer jeweiligen Mittelschicht ist und wird auf Kosten der Umwelt erreicht – in viel höherem Grade als in Europa und Nordamerika. Sie werden deswegen auch international massiv kritisiert. Aber sie sind bereit, diese Kosten und auch die Kritik in Kauf zu nehmen, denn sie sehen keinen Weg, auf dem sie ihre Wirtschaft ökologisch nachhaltig entwickeln könnten. Gerade kurz vor der Rio+20-Veranstaltung hat das brasilianische Parlament durch ein neues Gesetz den Schutz der Amazonas-Regenwald gelockert. Es darf demnächst, wenn die Präsidentin ihren milden Widerstand aufgegeben hat, mehr vom Amazonas-Regenwald zerstört werden als bisher.
Anders als Brasilien ist Indien ein schon übervölkertes Land. Die Landfläche Indiens beträgt nur etwa 38% von der Brasiliens, und da leben heute über 1,2 Milliarden Menschen (in Brasilien etwa 190 Millionen). Nach der jüngsten Volkszählung (2011) wuchs die Bevölkerung Indiens im letzten Jahrzehnt jährlich durchschnittlich um 1,7%. Das heißt, gegenwärtig wächst die Bevölkerung jährlich mindestens um 18 Millionen. Premierminister Singh sagte neulich, Indien müsse jedes Jahr 8 bis 10 Millionen neue Jobs schaffen. Wie soll da weitere Entwicklung nachhaltig sein? Wie soll da die 250 bis 300 Millionen starke Mittelschicht ihren Wohlstand aufrecht erhalten, gar mehren, um die euro-amerikanische Mittelschicht einzuholen, ohne fortwährend die Umwelt zu degradieren?.
Das Perverse an dieser Bevölkerungsentwicklung ist, dass, während der Staat ohnmächtig dieser Entwicklung gegenübersteht, sich manche Denker der Mittelschicht und der Wirtschaftselite über diese Entwicklung, die sie eine "demographische Dividende" nennen, freuen. Klar, für sie bedeuten mehr Menschen mehr spottbillige Arbeitskräfte und mehr Konsumenten.
Aber trotz dieser aus ihrer Sicht positiven Entwicklung, ist neulich für die indische Wirtschaft eine schlechte Zeit angebrochen. Nach Medienberichten ist die Zeit der glorreichen Wachstumsraten der letzten Jahre (8 bis 9%) jäh zu Ende gegangen. Im letzten Jahr betrug die Wachstumsrate nur 6.5%. Im ersten Quartal dieses Jahres fiel sie weiter auf 5,3%. Indiens Währung, die Rupie, verliert an Wert gegenüber dem Dollar, Investitionen fallen, Inflationsrate steigt, und allerlei Defizite erodieren die Staatskasse (SZ/NYT., 11.06.12). Ausländische Investoren ziehen ihr Geld zurück. So könnte Indien seinen Status als G-20-Mitglied verlieren(BBC). Auf die Benzinpreiserhöhung im Mai dieses Jahres reagierte die Bevölkerung wütend. Sogar in der Hauptstadt Neu Delhi herrscht akuter Wassermangel. Eine Mafia kontrolliert das Geschäft mit Wasser. Das Bundesland West Bengalen, dessen Hauptstadt Kalkutta ist, hat große Mühe, die Gehälter seiner Angestellten zu zahlen. Es sitzt auf einem großen Schuldenberg und macht immer neue Schulden. Folglich wird West Bengalen das Griechenland Indiens genannt.
Aufgrund dieser wirtschaftlichen Schwäche kann sich Indien keine Wohltaten für die Umwelt leisten. Aber auch China und Brasilien nicht. Auch Chinas Wachstumsrate fällt, ihr Immobiliensektor verzeichnet einen Abschwung, die Exporte stagnieren, die Handelsbilanz verzeichnete zuletzt ein Minus. Auch Brasiliens Wirtschaft kühlt ab. Es ist halt so: entweder Wohlstand oder Umweltschutz. Beides können wir nicht haben.
Indien hat kaum Öl, aber eine große Bevölkerung. Wenn es einmal zum Klimaschutz einen weltweiten Emissionshandel gibt, bei dem alle Bürger der Welt eine gleiche Menge an Emissionszertifikaten zugeteilt bekämen, dann könnte Indien dadurch reich werden, dass es auf dem freien Weltmarkt viele Emissionszertifikate verkauft, wie heute z.B. Nigeria Öl verkauft. Für die große Mehrheit der Inder sehe ich keinen anderen Weg zum Wohlstand.

Freitag, 8. Juni 2012

Die Krise und der grüne europa-patriot Fischer

In meinem letzten Blog-Text "Wer kümmert sich um unsere Schulden bei der Natur" (29.05.12) habe ich darüber geklagt, dass zur Zeit auch die Grünen vehement einen Kurswechsel zur Wachstumspolitik fordern. Inzwischen ist es notwendig geworden, noch einmal etwas zu diesem Thema zu schreiben. Denn Joschka Fischer veröffentlichte am 4.06.12 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel mit dem feurigen Titel "Das europäische Haus steht in Flammen". Auch für seine Kritik an Frau Merkels Austeritätspolitik benutzt Fischer das Bild eines Brandes. Er schreibt, Feuerwehrfrau Merkel lösche mit Kerosin.
Zwei Sachen sind gut an Fischers flammender Kritik. Es schien bis vor einigen Monaten, als wären die meisten Deutschen zufrieden mit dem Krisenmanagement ihrer Regierung. Im Vergleich zu den anderen großen Wirtschaften der EU ging es ja Deutschland glänzend. Durch seine hyperbolische Formulierung heizt Fischer jetzt auch hierzulande die Debatte über die Krise an. Und zweitens, anders als die meisten Deutschen denkt Fischer an ganz Europa, nicht nur an Deutschland.
Doch Fischers Argumente sind falsch. Für seine Kritik bemüht er die Wirtschaftsgeschichte. Er schreibt: Eigentlich sollte die Erkenntnis, "… dass eine solche Sparpolitik in einer großen Finanzkrise diese nur zur Depression verschärft," seit der Großen Depression der 1930er Jahre Allgemeingut sein. Die Sparpolitik von Hoover in den USA und Brüning in Deutschland waren damals tatsächlich ein falsches Rezept gegen die Krise. Woran aber Fischer nicht gedacht hat, ist, dass seit 1932 viel Wasser den Bach hinuntergeflossen ist. In den folgenden 80 Jahren haben Ökonomen viel Krisenforschung gemacht und viel über die Krisendynamik gelernt. Auch ist es Wirtschaftspolitikern – Keynesianern sowie Neoliberalen – bis 2007 immer gelungen, die kleinen und die paar großen Krisen zu überwinden. Aber diesmal gelingt das ihnen nicht, obwohl sie alles Erdenkliche versuchen. Warum?
Die Antwort ist ganz einfach. Vor 80 Jahren gab es noch sehr viel Potential für weiteres Wirtschaftswachstum. Darum gelang es Roosevelt mit seinem New Deal die Lage in den USA zu bessern, bis der Zweite Weltkrieg die Depression endgültig überwand. Darum gelang es auch Hitler, mit seinen Infrastrukturinvestitionen und Kriegsvorbereitungen Deutschland aus der Großen Depression zu führen. Später schaffte es eine Mischung von Kriegskeynesianismus und zivilem Keynesianismus, einen 25 Jahre dauernden "langen Boom" zustande zu bringen.
Dieses Potential scheint jetzt weitgehend erschöpft zu sein. Politiker konnten lange die 1972 vorausgesagten Grenzen des Wachstums ignorieren. Aber jetzt kommen die Warnungen von vielen Seiten wieder. Am 4.06.sagte sogar Martin Faulstich, der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) klar und deutlich: „In einer begrenzten Welt kann es kein unbegrenztes Wachstum geben“. Und am 5.06. sendete Arte in bester Sendezeit einen Dokumentarfilm, in dem sogar die ganze Fortschrittsidee in Frage gestellt wurde. Es war da von einer Fortschrittsfalle die Rede.
Zwar reden nicht alle Befürworter einer Neuauflage der Wachstumspolitik einfach vom Wachstum. Grüne im allgemeinen, aber auch viele andere, sprechen etwas differenzierter. Seit Anfang der gegenwärtigen Krise reden sie von einem Green New Deal. Grünes Wachstum. nachhaltiges Wachstum, ökologische Ökonomie und grüne Energie sind alte Parolen. Seit Fukushima gibt es auch die Parole Energiewende. Trotzdem stagnieren die Wirtschaften von Europa und den USA. Die Energiewende, die das Herzstück eines Green New Deals in Deutschland sein sollte, kommt nicht gut voran; sie kämpft mit vielen Problemen.
Der eigentliche Grund dafür hat der deutsche Wirtschaftsminister Rösler so formuliert: "Aus meiner Sicht fehlt in der energiepolitischen Debatte ein Stück weit Ehrlichkeit" Er nannte das EEG "ein reines Subventionsgesetz". (Online Focus, 5.06.2012).Woher sollen aber die Subventionen kommen, wenn die Wirtschaft stagniert und gerade die Hauptquelle des Reichtums der Industriegesellschaften, nämlich die fossilen Energien, ersetzt werden sollen durch die teuren erneuerbaren Energien? Inzwischen hört man, dass einige führende Unions- und FDP-Politiker zum Sturmangriff auf das EEG aufrufen. (Die Grünen, in DNR-Fachverteiler, 5.06.2012)
Fischer fordert "uneingeschränkter Kauf der Staatsanleihen der Krisenländer durch die EZB; Europäisierung der nationalen Schulden mittels Euro-Bonds, Wachstumsprogramme, um eine Depression in der Euro-Zone zu verhindern und Wachstum zu generieren." Er stellt sich die "wüste Polemik in Deutschland über ein solches Programm" vor und kontert: "… der Boom der deutschen Exportwirtschaft gründet genau auf solchen Programmen in den Schwellenländern und in den USA. Hätten China und die USA seit 2009 nicht massiv und teils schuldenfinanzierte Steuergelder in ihre Wirtschaften gepumpt, dann hätte es den Exportboom in Deutschland kaum gegeben."
Dieses Argument von Fischer ist unsinnig, auch wenn wir, um der Argumentation willen, annähmen, dass es in der Welt noch Potential für weiteres Wachstum gibt. Wenn die Krisenländer Griechenland, Portugal, Irland und Spanien neue Schulden machen, um ihre neue "Wachstumsprogramme" zu finanzieren (sie hatten doch vor 2008 auf diesem Wege viel Wachstum erzielt!), dann werden sie die Schulden haben, und die deutsche Exportwirtschaft wird boomen. Das wäre sicher gut für die deutsche Wirtschaft Aber wäre das auch gut für die Krisenländer? Das ist kein Europapatriotismus. Europapatriotisch wäre, wenn die Deutschen und die anderen Europäer bewusst bevorzugt Produkte der europäischen Krisenländer kaufen würden. Aber das wäre Planwirtschaft, verboten im neoliberalen globalisierten Kapitalismus.