Zusammen betrachtet, kann man aus der Bewegung gegen das Bahnprojekt Stuttgart 21 und der Occupy-Wall-Street-Bewegung (OWS) nützliche politische Lehren ziehen.
Am 27. November wurde per Referendum entschieden, dass das Land Baden-Württemberg nicht aus der Finanzierung des Bahnprojekts aussteigen soll. Die Stuttgarter Demonstranten hatten eine, eine einzige und klare Forderung, nämlich, dass der Tiefbahnhof nicht gebaut werden soll. Nicht die Politiker, sondern die höchste demokratische Instanz, die Wählerschaft in Baden-Württemberg, hat die Forderung der Stuttgarter Demonstranten abgelehnt und ihnen so eine Abfuhr erteilt. Das kann den Demonstranten der Occupy-Bewegung nicht passieren. Denn sie haben keine Forderung gestellt, die abgelehnt werden kann.
In einem Zeitungsartikel las ich einen kurzen Bericht über das Vorspiel zu der Occupy-Bewegung, das im Bundesstaat Wisconsin stattgefunden hatte. Im Februar dieses Jahres brachte der Gouverneur einen gewerkschaftsfeindlichen Gesetzesentwurf ins Parlament ein. Aus Protest dagegen besetzten Studierende und gewöhnliche Lohnabhängige drei Wochen lang das Parlamentsgebäude. Es gab in der Hauptstadt Madison Demonstrationen von über hunderttausend Menschen. Aber, um es kurz zu fassen, die Bewegung endete mit einer Niederlage. Das Gesetz wurde verabschiedet, und bei den anschließenden Wahlen wurden die Politiker, die für das Gesetz gestimmt hatten, wiedergewählt. Der Autor Abra Quinn schreibt: "Daraus hat OWS eine Lehre gezogen: die Bewegung will keine Forderungen an die Parlamente mehr aufstellen, das könnte sie in eine wahlpolitische Farce verstricken" (SoZ, 12/2011).
Ist das Strategie oder Taktik? Was auch immer, ist es politisch klug, keine klare Forderung zu stellen? In den ersten Wochen der Besetzung des Zuccotti-Parks haben manche amerikanische Publizisten und sonstige Beobachter die Besetzer aufgefordert zu sagen, was ihre konkreten Forderungen sind. Einer gab ihnen auch diesbezüglich Ratschläge. Aber selbst wenn die Besetzer es gewollt hätten, bei der Spontaneität der Aktion und der großen Heterogenität ihres politischen Denkens und Hintergrunds, wäre das nicht möglich gewesen. So blieb es beim bloßen Ausdruck von Empörung.
Dennoch hat die Occupy-Bewegung mehr und politisch Sinnvolleres gesagt und geleistet als die Bewegung gegen Stuttgart 21. Die letztere hat nicht einmal überzeugend erklären können, warum das Projekt Stuttgart-21 verworfen werden sollte.
Wenn aus ökologischen Gründen die Dienstleistungsqualität öffentlicher Verkehrsmittel verbessert werden soll, dann warum sollen Menschen, insbesondere die Grünen, gegen ein Bahnprojekt sein? Das Argument, die Kosten seien zu hoch, ist ein sehr schwaches Argument in einem sehr reichen Land. Schließlich fordern alle Ökos, insbesondere die Grünen, dass Sonnen- und Windenergieprojekte mit viel Geld subventioniert werden sollen. Es wäre ein echt ökologisches und überzeugendes Argument gewesen, wenn die Gegner des Projekts verallgemeinernd gesagt hätten: wir brauchen keine Beschleunigung, Entschleunigung ist das Gebot der ökologischen Vernunft. Oder wenn sie gesagt hätten: jedes unnötige Bauprojekt ist eine Ressourcenverschwendung und umweltschädlich. Die Schönheit des Kopfbahnhofs wäre dann ein zusätzliches Argument.
Im Gegensatz zu den Stuttgartern mit ihrem knauserig klingenden Kosten-Argument gegen ein einzelnes Bauprojekt haben die Occupy-Bewegten mindestens ein großes allgemeines Problem thematisiert, nämlich die Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen, 1% Superreichen und 99% "Armen". So haben sie indirekt ein bisschen zur Delegitimierung des Kapitalismus beigetragen, und das in den Hochburgen des Systems.
Es hat mich gar nicht gewundert, dass 58% der Wähler, von denen die meisten sicherlich arbeitende Menschen sind, das Projekt Stuttgart-21 befürwortet haben. In einer Zeit, in der innerhalb von vier Jahren eine zweite Rezession droht, die viele Arbeitsplätze vernichten würde, betrachten die Wähler die Zerstörung des Kopfbahnhofs und der Bau des Tiefbahnhofs wohl als eine gute, Arbeitsplätze schaffende, konjunkturpolitische Maßnahme. Schließlich hatten sie 2009 auch die Autowrackprämie gut geheißen. Der selige John Maynard Keynes, Guru der Gewerkschafter und der Sozialdemokraten, hatte sogar empfohlen, in Krisenzeiten Löcher im Boden graben und sie wieder zuschütten zu lassen.