Indien ist in jeder Hinsicht ein wichtiges Land. Und ich bin Inder, auch was die Staatsangehörigkeit betrifft. Darum bin ich ein bisschen überdurchschnittlich interessiert an Nachrichten und Kommentare aus und über Indien. Aber ich gebe mir Mühe, diese im Kontext des Weltgeschehens zu lesen. Neulich las ich in einem editorischen Kommentar über das magere Ergebnis des Rio+20-Gipfels Folgendes: "Was hatten die Europäer doch schöne Ziele. Eine eigene Umweltbehörde der Vereinten Nationen. Feste Vorgaben für eine nachhaltige Entwicklung. Klare Zuständigkeiten, klare Absprachen – nichts davon haben sie … in Rio erreicht. Die neuen Mächtigen dieser Welt hatten etwas dagegen: Brasilien, Indien, China. … Für Europa ist Rio zur Demonstration der eigenen Ohnmacht geworden." (Süddeutsche Zeitung, 25.06.12).
Als ich dies las, fragte ich mich: soll ich jetzt ein bisschen stolz sein? Ist Indien mächtig geworden? Das ist Unsinn. Eine globale Vereinbarung verhindern zu können, ist kein Beweis von Macht, sondern von Ohnmacht. Wo die Zustimmung aller Länder notwendig ist, kann auch ein kleines, schwaches Land etwas leicht verhindern. Ein Beweis von Macht wäre, wenn Indien etwas Positives hätte durchsetzen können. So gesehen, sind in der Weltumweltpolitik nicht nur die Europäer ohnmächtig, sondern alle, inklusive Indien.
Die angebliche Macht von Indien, China und Brasilien besteht in ihrer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Diese Macht aber befähigt sie zu nichts Positivem. Im Gegenteil. Sie sind alle in der Defensive. Denn der neue Wohlstand ihrer jeweiligen Mittelschicht ist und wird auf Kosten der Umwelt erreicht – in viel höherem Grade als in Europa und Nordamerika. Sie werden deswegen auch international massiv kritisiert. Aber sie sind bereit, diese Kosten und auch die Kritik in Kauf zu nehmen, denn sie sehen keinen Weg, auf dem sie ihre Wirtschaft ökologisch nachhaltig entwickeln könnten. Gerade kurz vor der Rio+20-Veranstaltung hat das brasilianische Parlament durch ein neues Gesetz den Schutz der Amazonas-Regenwald gelockert. Es darf demnächst, wenn die Präsidentin ihren milden Widerstand aufgegeben hat, mehr vom Amazonas-Regenwald zerstört werden als bisher.
Anders als Brasilien ist Indien ein schon übervölkertes Land. Die Landfläche Indiens beträgt nur etwa 38% von der Brasiliens, und da leben heute über 1,2 Milliarden Menschen (in Brasilien etwa 190 Millionen). Nach der jüngsten Volkszählung (2011) wuchs die Bevölkerung Indiens im letzten Jahrzehnt jährlich durchschnittlich um 1,7%. Das heißt, gegenwärtig wächst die Bevölkerung jährlich mindestens um 18 Millionen. Premierminister Singh sagte neulich, Indien müsse jedes Jahr 8 bis 10 Millionen neue Jobs schaffen. Wie soll da weitere Entwicklung nachhaltig sein? Wie soll da die 250 bis 300 Millionen starke Mittelschicht ihren Wohlstand aufrecht erhalten, gar mehren, um die euro-amerikanische Mittelschicht einzuholen, ohne fortwährend die Umwelt zu degradieren?.
Das Perverse an dieser Bevölkerungsentwicklung ist, dass, während der Staat ohnmächtig dieser Entwicklung gegenübersteht, sich manche Denker der Mittelschicht und der Wirtschaftselite über diese Entwicklung, die sie eine "demographische Dividende" nennen, freuen. Klar, für sie bedeuten mehr Menschen mehr spottbillige Arbeitskräfte und mehr Konsumenten.
Aber trotz dieser aus ihrer Sicht positiven Entwicklung, ist neulich für die indische Wirtschaft eine schlechte Zeit angebrochen. Nach Medienberichten ist die Zeit der glorreichen Wachstumsraten der letzten Jahre (8 bis 9%) jäh zu Ende gegangen. Im letzten Jahr betrug die Wachstumsrate nur 6.5%. Im ersten Quartal dieses Jahres fiel sie weiter auf 5,3%. Indiens Währung, die Rupie, verliert an Wert gegenüber dem Dollar, Investitionen fallen, Inflationsrate steigt, und allerlei Defizite erodieren die Staatskasse (SZ/NYT., 11.06.12). Ausländische Investoren ziehen ihr Geld zurück. So könnte Indien seinen Status als G-20-Mitglied verlieren(BBC). Auf die Benzinpreiserhöhung im Mai dieses Jahres reagierte die Bevölkerung wütend. Sogar in der Hauptstadt Neu Delhi herrscht akuter Wassermangel. Eine Mafia kontrolliert das Geschäft mit Wasser. Das Bundesland West Bengalen, dessen Hauptstadt Kalkutta ist, hat große Mühe, die Gehälter seiner Angestellten zu zahlen. Es sitzt auf einem großen Schuldenberg und macht immer neue Schulden. Folglich wird West Bengalen das Griechenland Indiens genannt.
Aufgrund dieser wirtschaftlichen Schwäche kann sich Indien keine Wohltaten für die Umwelt leisten. Aber auch China und Brasilien nicht. Auch Chinas Wachstumsrate fällt, ihr Immobiliensektor verzeichnet einen Abschwung, die Exporte stagnieren, die Handelsbilanz verzeichnete zuletzt ein Minus. Auch Brasiliens Wirtschaft kühlt ab. Es ist halt so: entweder Wohlstand oder Umweltschutz. Beides können wir nicht haben.
Indien hat kaum Öl, aber eine große Bevölkerung. Wenn es einmal zum Klimaschutz einen weltweiten Emissionshandel gibt, bei dem alle Bürger der Welt eine gleiche Menge an Emissionszertifikaten zugeteilt bekämen, dann könnte Indien dadurch reich werden, dass es auf dem freien Weltmarkt viele Emissionszertifikate verkauft, wie heute z.B. Nigeria Öl verkauft. Für die große Mehrheit der Inder sehe ich keinen anderen Weg zum Wohlstand.