Richard David Precht ist 47 Jahre jung. Er ist Professor, Autor von mehreren Bestsellern und zur Zeit wahrscheinlich der bekannteste Philosoph in Deutschland. Er wird sehr oft zu den Talkshows im deutschen Fernsehen eingeladen. Er ist auch ein sehr populärer Philosoph. Seine Bücher über lebensphilosophische Themen sind auch Otto Normalbildungsbürger verständlich. Und demnächst wird er noch bekannter werden. Im ZDF wird er nämlich eine neue Gesprächsreihe über (bestimmt) seriöse Themen moderieren.
Neulich las ich ein Gespräch, das ein Journalist des Kölner Stadtanzeigers mit ihm führte (KStA, 13.08.12). Es interessierte mich, weil, erstens, ich mich für populäre Philosophie interessiere und, zweitens, weil Precht ein Image als Weichspüler hat. Philosophen sind im allgemeinen tiefgründig denkende Menschen. Ich wollte wissen, warum ein populärer Philosoph so ein negatives Image hat.
Am Anfang findet man eher mutige Äußerungen, mit denen ich sympathisiere. Precht kritisiert das "Literatursyndikat um Grass, Jens, Walser. Lenz und andere …, das einer ganzen Generation von Autoren den Erfolg blockiert hat.". "Das andächtig-vollmundige Lob auf diese Herren" findet er "kitschig, wirklich kitschig". Die Verehrung für solche alten berühmten Schriftsteller sowie für alte Politiker wie Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Heiner Geißler und Hildegard Hamm-Brücher, die er pauschal "Großweise" nennt, findet er eine "in Ehrfurcht erstarrte Haltung". Das ist richtig gut. Vor allem der Großweise Helmut Schmidt, der wegen seines viel zitierten zynischen Spruchs "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" immer noch berühmt ist. Den kann ich auch nicht leiden. Und der Großweise Heiner Geißler, der viele Jahre lang Helmut Kohls Politik nicht nur mitgemacht, sondern auch öffentlich verteidigt hatte, begann nach seiner Pensionierung, den Turbokapitalismus zu kritisieren und wurde Mitglied des Attac. Was soll man zu solchen Leuten sagen?
Dann kommt aber die große Enttäuschung. Precht sagt: "Wir leben in einer Zeit des Umbruchs". Das klingt zunächst wunderbar. Aber was für ein Umbruch ist das? Precht sagt, dieser sei nicht aus Not geboren, sondern er sei "Folge einer technischen Erneuerung". "Das Internet und die sozialen Netzwerke züchten Menschen, die ihre Meinung sagen." Schon bei dem Wort "züchten" sollte man alarmiert sein. Internet et cetera züchten Menschen? Drei Tage zuvor hatte ich, ebenfalls in Kölner Stadtanzeiger (10.08.2012), ein Gespräch mit dem Psychiater und Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer gelesen, mit dem ein paar Tage später auch der TV-Sender 3Sat ein Gespräch führte. Prof. Spitzer hat neulich ein Buch veröffentlich, dessen Titel "Digitale Demenz" die Alarmglocken läuten lassen. Er sagt, kurz gefasst, zu viel Konsum und Gebrauch von den neuen digitalen Medien Menschen, besonders Schüler und junge Menschen, verblödet. Sie verlernen das Denken, was im Alter früh und leicht zur Demenz führt.
Precht aber wertet diese Entwicklung durchaus positiv. Er sagt, die heutige Erziehung (er redet hier nur über die reichen Länder) bringe "selbstbewusste Kinder hervor, die schon mit zwei Jahren gefragt werden, ob sie lieber Vanille- oder Schokoladenpudding möchten. Diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung wollen sie später als Jugendliche und Erwachsene nicht mehr abgeben. Das ist die Grundintuition der Piraten: Wir brauchen keine repräsentative Demokratie, denn was ich zu sagen habe, will ich selber sagen."
Selbstbestimmung und selber sagen wollen, auch das klingt gut. Aber haben die Piraten überhaupt etwas zu sagen? Sie lassen sich in die Parlamente wählen. Aber zu den Problemen des Landes, geschweige denn zu den Problemen der Welt, haben sie und ihre Wähler nichts zu sagen. Das ist leicht zu verstehen. Sie haben ja bisher über nichts nachgedacht. Ihr gemeinsamer Nenner ist ihre Liebe zum Computer und Internet. Und sie sind ständig beschäftigt mit diesen Instrumenten. Ihre Hauptforderung ist das Recht auf kostenloses Herunterladen von allem, was im Internet zu finden ist. Prof. Spitzers These ist bestätigt.
Aber Precht hält diese Entwicklung für einen "Umbruch", in positivem Sinne. Er versteht diese Lage sogar als "im Kern eine Systemkrise". Versteht er überhaupt, was eine Systemkrise ist? Oder will er den Begriff bewusst weichspülen?
Ohne Zweifel gibt es eine Systemkrise – nicht nur in Deutschland und der EU, sondern in der ganzen Welt. Aber das System, das in der Krise ist, ist nicht, wie Precht denkt, die repräsentative Demokratie, sondern der Kapitalismus. Selber sagen wollen ist in den repräsentativen Demokratien überhaupt kein Problem, Das ist schon längst ein Bestandteil solcher Demokratien und ist in deren Verfassungen fest verankert. Auch Selbstbestimmung ist da kein Mangelware. Selbst der Lissabonner Vertrag durfte von dem irischen Volk abgelehnt werden. Und Finanzminister Schäuble schlägt vor, dass das deutsche Volk selbst bestimmen soll, ob Deutschland seine Wirtschafts- und Finanzsouveränität an die EU abgeben sollte.
Die Europäer, die in der heutigen Krise am meisten leiden, sind gerade die jungen Leute, die als zweijährige zwischen Vanille- und Schokoladenpudding wählen durften. In Spanien sind über 40 Prozent der 15- bis 24jährigen ohne Arbeit. In Deutschland ist die Lage sehr viel besser. Dennoch demonstrieren hier Tausende von jungen Leuten gegen den Kapitalismus und entwickeln Visionen einer solidarischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ohne den Profitmotiv und ständiges Wachstum funktionieren kann.
Philosophen sollten eher über diese Lage der gegenwärtigen Welt nachdenken und den Übergang zu einer besseren vorbereiten.