Bei nachholender Lektüre alter Zeitungen fand ich eine interessante Buchbesprechung (SZ, 25.02.2012). Schon der Titel ist sensationell: "Fette Jahre". Bernt Rürup, ehemals Mitglied des Sachverständigenrates und Wirtschaftsjournalist Dirk Hinrich Heilmann veröffentlichten dieses Buch Anfang dieses Jahres, d.h. erst vor ein paar Monaten. Der Titel ist sehr mutig, aber auch gewagt. Wie können sie das nur, zumal Rürup ein weiser Wirtschaftswissenschaftler sein soll? Hören wir doch Menschen allenthalben nur von Krisen reden. Des Rätsels Lösung: die Autoren beschränken ihren Blick auf Deutschland.
Tatsächlich, verglichen mit den anderen Industrieländern Europas, auch im Vergleich zu Japan und den USA, geht es Deutschland insgesamt sehr gut, die Autoren sagen "blendend". Deutschlands Wirtschaft blendet tatsächlich, im doppelten Sinne des Wortes. Einerseits: es gibt keine Rezession, zumindest noch nicht. Die Arbeitslosigkeit, die offizielle, ist niedrig. 2011 betrug die Neuverschuldung des Staates nur ein Prozent. Die Exporte überstiegen eine Billion Euro. Rürup und Heilmann prognostizieren für Deutschland eine glänzende Zukunft und wagen überaus positive Prognosen bis 2030. Andererseits: Millionen arbeitenden Deutschen droht Altersarmut. Für solche Leute, sagt die zuständige Ministerin selbst, ist eine Zusatzrente notwendig. Der Niedriglohnsektor mit Mini- und Teilzeitjobs expandiert seit langem. Es gibt keinen gesetzlichen Mindestlohn. Millionen Arbeitende können nicht von ihrem Lohn leben und beantragen deshalb zusätzlich Hartz IV. Hunderttausende können ihre Stromrechnung nicht bezahlen usw. usf. Diese Fakten sind Rürup und Heilmann sicher nicht unbekannt gewesen, als sie ihr Buch schrieben. Bei solchem Faktenmaterial kann man nicht von fetten Jahren reden. Das Deutschlandbild der Autoren ist schlicht falsch, reines Wunschdenken.
Rürup und Heilmann sind keine seltenen Ausnahmen unter Ökonomen und Wirtschaftspublizisten. Ungefähr zur gleichen Zeit erschien in New York Times (Beilage zur SZ, 20.2.2012) ein Artikel von Chrystia Freeland mit ähnlichem Wunschdenken als Inhalt, diesmal bezogen auf die ganze Menschheit. Sie stellt fest, dass dank der Globalisierung und der technologischen Revolution der letzten Dekaden sowohl im Westen als auch in den aufstrebenden Märkten der ehemaligen Dritten Welt eine neue Klasse von Raubrittern ("robber barons") entstanden ist, die durch Ausbeutung der Billiglohnarbeit der urbanisierenden Bauern von China, Indien, Brasilien usw. superreich geworden sind. Diese Leute "leben im Stil einer plutokratischen Pracht des 21. Jahrhunderts, eine Pracht, die sogar Rockefeller und Carnegie geblendet hätte." Für diese Raubritter seien diese Dekaden das neue goldene Zeitalter ("the new gilded age"). Freeland stellt auch fest, dass dieser von den Raubrittern ermöglichte Übergang zum neuen Zeitalter auch vielen Millionen Menschen – besonders in den BRICS-Ländern – den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht und Hunderte von Millionen von Armut befreit. Sie erwähnt zwar auch die "Belastungen und Konflikte", die aus diesem Prozess resultieren ("Jede Veränderung ist hart", sagt sie). Aber "schließlich wird die Menschheit prosperieren. … Der Kapitalismus wirkt ", zitiert sie übereinstimmend John van Reenan, den Chef des Center for Economic Performance am London School of Economics. Allerdings, anders als Rürup und Heilmann, denken Freeland und Reenan, dass es mittelfristig, d.h. etwa 30 oder 40 Jahre lang, "große Erschütterungen" geben könnte, bevor die Menschheit prosperiert.
Die großen Erschütterungen, die Freeland und Reenan voraussehen, sind schon längst im Gange. Hier nur einige Beispiele aus den BRICS-Ländern: In China, dem erfolgreichsten unter diesen Ländern, brodelt es seit etlichen Jahren. In der mehrheitlich von den muslimischen Uighuren bewohnten Provinz Xinjiang kommt es immer wieder zu blutigen Aufständen gegen die Dominanz der Han-Chinesen. Gegen dasselbe Übel kämpfen in Tibet buddhistische Mönche mit dem Mittel der Selbstverbrennung. Aber nicht nur die Minderheiten, selbst Han-Chinesen gehen oft auf die Barrikaden. Überall gibt es spontane Protestdemos, nicht immer gewaltlos, gegen verschiedenerlei Missstände, behördliche Willkür, Unterdrückung und Ungerechtigkeiten – fast 500 täglich.
Auch in Indien gibt es ethnische und interreligiöse Konflikte (wie z.B. neulich im Bundesland Assam). Migranten aus unterentwickelten Bundesländern in ein entwickelteres Bundesland werden oft verfolgt (z.B. im Bundesland Maharashtra), weil sie den Einheimischen Jobs wegnehmen.
In der Südafrikanischen Republik, seit einiger Zeit auch ein BRICS-Land, wächst die Wut der schwarzen Unterklasse gegen den herrschenden ANC und deren Führungsschicht. Mitte August dieses Jahres wurden dort 34 streikende schwarze Bergarbeiter eines Platin-Bergwerks von der Polizei erschossen.
Aber nicht nur in den BRICS-Ländern und der übrigen Dritten Welt, sondern auch in den entwickelten Ländern gibt es seit einigen Jahren große Erschütterungen. Die Krise in der EU (insbesondere die in der Eurozone) und die gewalttätigen Demos in Griechenland, England und Spanien sind nur ein paar Beispiele davon. In Bezug auf die nicht enden wollende Krise in den USA redet man schon von einem "Hoffnungsdefizit".
Für Prinzip Hoffnung habe ich viel Verständnis. Ohne Hoffnung ist es sehr schwer zu leben. Aber muss die Hoffnung so eine krude sein, "fette Jahre", glänzende Zukunft, "gilded age" der Raubritter? Wir müssen realistisch sein, um die Hoffnung auf eine bessere Welt halbwegs Wirklichkeit werden zu lassen. In materieller Hinsicht kann die Welt nicht mehr prosperieren, denn da gibt es die Grenzen des Wachstums. Aber in Hinsicht auf zwischenmenschliche Beziehung und Frieden zwischen den Völkern könnte noch viel mehr erreicht werden.