Nach der Selbstauflösung der DDR und der osteuropäischen "sozialistischen" Regimes gab es viele Wendehälse. Es gab aber glücklicherweise in diesen Ländern auch geläuterte Kommunisten. In der Ex-DDR gab es die Kommunistische Plattform in der PDS. Sahra Wagenknecht war ein führendes Mitglied davon. Obwohl ich schon seit viel früher manche Kritik an der Theorie und Praxis des real existierenden Sozialismus hatte, bewunderte ich die Standhaftigkeit der Altkommunisten. Sie waren keine Opportunisten. Sie gingen nicht schnell zu der Siegerseite über. Sie, eine belächelte kleine Minderheit, die nach Meinung ihrer Kritiker nichts aus der neueren Geschichte gelernt hätten. vertraten immer noch tapfer ihre alten sozialistischen Überzeugungen
Als auch die PDS, später die Partei Die Linke, begann, zu einer zweiten sozialdemokratischen Partei zu werden, leisteten Wagenknecht und ihresgleichen Widerstand. Inzwischen ist sie aufgestiegen, ist gegenwärtig eine stellvertretende Vorsitzende der Bundestagsfraktion ihrer Partei. Und, was in einer Mediendemokratie noch wichtiger ist, sie wird häufig zu Fernseh-Talk-Shows eingeladen und gibt viele Interviews.
Aber gerade diese bewunderte Wagenknecht – "eine politische Enkelin von Rosa Luxemburg" – hat mich jetzt zutiefst enttäuscht. Gerade jetzt, wo sich die Krise des Kapitalismus zugespitzt hat, wo viele Leute in aller Welt nach einer Alternative zum Kapitalismus fragen, ist sie ein Freund des Kapitalismus geworden. Im letzten Jahr las ich eine Rezension ihres jüngsten Buches. Der Rezensent, CSU-Politiker Gauweiler, lobte es sehr. Und vor drei Wochen erläuterte sie in einem Spiegel-Interview (1/2013) ihre neue Liebe zum Kapitalismus.
Es gibt eine ultrakurze Keuner-Geschichte von Brecht: Ein Mann, der Herrn Keuner lange nicht gesehen hatte, begrüßte ihn mit den Worten: "Sie haben sich gar nicht verändert." "Oh!", sagte Herr Keuner und erbleichte. Der politische Schriftsteller Brecht meinte – ich interpretiere diesen Text so –, sich im Laufe der Jahre gar nicht zu verändern, ist ein Zeichen von Stagnation. Politische Positionen aufgrund von neuen Erkenntnissen oder Erfahrungen zu ändern, weiterzuentwickeln, zu verfeinern, ist im Prinzip etwas Positives. Aber zurück zum Kapitalismus?
Wagenknecht qualifiziert zwar den Glauben des heutigen Neoliberalismus an den Segen deregulierter Märkte als "stumpfsinnig" ab. Aber den Neoliberalismus der 1950er Jahre – den von Ludwig Erhard – findet sie großartig, weil er, anders als der heutige, eine soziale Marktwirtschaft und Wohlstand für alle versprach. Sie meint, Erhard wäre heute in ihrer Partei "am besten aufgehoben".
Schumpeter folgend, unterscheidet Wagenknecht zwischen "Kapitalisten" und "Unternehmern". Im Gegensatz zum Kapitalisten, für den ein Betrieb nichts als ein Anlageobjekt ist, das eine möglichst hohe Rendite abwerfen soll, ist der Unternehmer "jemand, der eine gute Idee hat, etwas Neues aufbaut und", was für Wagenknecht das Wichtigste zu sein scheint, "so den Wohlstand steigert". "Das Schlimme am heutigen Wirtschaftssystem ist" nach Wagenknecht, "dass es die Kapitalisten fördert und den Unternehmern das Leben schwer macht."
Was hat all das mit sozialistischer Politik zu tun? Unternehmer zu fördern könnte doch auch die CDU oder die SPD! Außerdem, arbeitet ein Schumpeterscher Unternehmer nicht für seinen eigenen Profit? Beutet er seine Arbeiter nicht aus? Ist eine soziale Marktwirtschaft nicht bloß ein Euphemismus für etwas sozialeren Kapitalismus – mit seinen (nach Schumpeter) normalen und nützlichen periodischen Krisen und hohen Arbeitslosenzahlen? Wagenknecht hat ihre grundsätzliche Ablehnung des Kapitalismus aufgegeben. Sie ist also doch auch ein Wendehals geworden.
Für Politiker und politische Parteien ist es legitim, zwischen ihrem kurz- und mittelfristigen Programm und ihrem langfristigen Ziel zu unterscheiden. Aber Wagenknecht sagt: "Mein Ziel ist nicht die Planwirtschaft," sie wolle ja keine "Zwangswirtschaft" (sind die zwei das gleiche?), denn "eine moderne Gesellschaft braucht [angeblich] Märkte". Ihr Ziel sei der "kreative Sozialismus." Klar, ihr Ziel ist soziale Marktwirtschaft mit Privateigentum an Produktionsmitteln und Konkurrenz zwischen den Unternehmen, sprich "sozialer" Kapitalismus. In ihrem kreativen "Sozialismus" werden natürlich kreative Schumpetersche Unternehmer gefördert.
Sie will die Unternehmen nicht enteignen, sondern nur die Beschäftigten daran beteiligen. Wenn der Unternehmer stirbt, wird der Betrieb nicht vererbt, sondern größtenteils den Beschäftigten übergeben.
Der neue Gedankengang von Wagenknecht, dieser ganze Diskurs, ist von vorgestern, kalter Kaffe. All das haben wir schon früher gehabt: "sozialistische" Marktwirtschaft, Ota Siks "Mitarbeitergesellschaft", Betriebe im Besitz der Belegschaft, das Jugoslawische Modell usw. Das alles war kein Sozialismus. In einer "sozialistischen" Marktwirtschaft mit Betrieben im Besitz der Belegschaften werden die Betriebe samt ihren Arbeitern nicht miteinander kooperieren, sondern um Marktanteile und Profit konkurrieren. Es wird reiche und arme Betriebe, reiche und arme Arbeiter geben. Die reichen Betriebe werden die armen ausbeuten (wie damals in Jugoslawien). Es wird das übliche Chaos des Marktes, das konjunkturelle Auf und Ab und Arbeitslosigkeit geben. In den 1960er und 1970er Jahren mussten arbeitslose Jugoslawen ihre marktsozialistische Heimat verlassen und sich bei deutschen Kapitalisten verdingen.
Wagenknecht hat die gegenwärtige Krise des Kapitalismus einfach nicht verstanden. Sie ist immer noch beschäftigt mit der Suche nach dem besten Weg, den Wohlstand der Deutschen zu steigern, und sie erweist sich dabei als eine gute Keynesianerin. Sie sagt: "Je ungleicher die Verteilung, desto langsamer wächst der Kuchen. Weil wir sinkende Renten und … miese Arbeitsverhältnisse haben, können sich die Leute viele Dinge nicht mehr leisten. … Steigen die Einkommen der Mehrheit, wird der Binnenmarkt gestärkt, und dann verbessern sich auch die Chancen, dass der Kuchen wieder größer wird." Das ist durchschnittliches Gewerkschafterniveau. Man sieht da keine Spur von Gedanken über Grenzen des Wachstums. Dem Leser des Interviews kommt vor, als hätte sie nichts von den ökologischen und Ressourcenkrisen gehört. Schade! Sie hätte sich auch zu einer Ökosozialistin entwickeln können.
Es stellt sich nun die Frage, wie diese regressive Veränderung im Denken der Kommunistin Wagenknecht geschehen konnte. Ich habe eine Vermutung: Bei Parteien, die ganz entschlossen den parlamentarischen Weg eingeschlagen haben, und bei ihren durchschnittlichen Mitgliedern und Führern gilt das Primat des Sessels im Parlament. Ohne Sessel in den Parlamenten sind sie weg vom Fenster. Wagenknecht, die jetzt ja eine führende Person in ihrer Partei ist, meint wohl, durch diese Wende könnte sie ihre Partei nach mehreren Wahlniederlagen noch retten.