Sonntag, 8. Dezember 2013

Zwei verschiedene demographische Krisen -- Einige ökosozialistische Überlegungen


Ein Zeitungsartikel von Daley & Kulish (2013) unter der Überschrift „Deutschland: Zu wenig Menschen?“ erweckte in mir verschiedene Gedanken und alte Erinnerungen:

    Eins der ernstesten Probleme der Erdbevölkerung, das Problem der Übervölkerung, ist auch das am leichtesten zu verstehende. Schon im Alter von etwa 9 Jahren wurde mir zum ersten Mal das Problem des exponentiellen Bevölkerungswachstums bewusst. Es kam mir in den Sinn: Meine Eltern waren nur zwei Personen, und sie zeugten 6 Kinder, sodass unsere Familie in 12 Jahren auf 8 Personen anwuchs. Mir schien, das konnte nicht so weitergehen. Das Einkommen meines Vaters war schließlich begrenzt. Ich erzählte meinem nur eineinhalb Jahre älteren Bruder von meiner Sorge. Er sagte: „Du redest Unsinn.“ Wir standen an einem Teichufer, als ich mit dem Gespräch anfing. „Schau dir den Teich an“, sagte mein Bruder, “Wenn es regnet, fallen da hunderttausende von Regentropfen hinein. Und was geschieht? Nichts!“ Er hat Recht, dachte ich, obwohl ich nicht ganz zufrieden war.

    Damals konnte ich das Thema nicht weiterverfolgen, aber ich vergaß das Gespräch nie. Als erwachsener Mensch lernte ich später in der Hochschule die Bevölkerungstheorie von Malthus kennen. Unser Dozent in politischer Ökonomie kritisierte sie. Ein Mensch, sagte er, komme nicht nur mit einem Magen zur Welt, sondern auch mit zwei Händen. Er könne produzieren, was er benötige. Rückblickend glaube ich, mein zehn Jahre alter Bruder hatte das Problem eigentlich besser verstanden als unser Dozent. In der Tat passiert in einem bengalischen Teich nie etwas Besonderes. Wegen der Verdunstung sinkt der Wasserspiegel im Sommer. Doch in der folgenden Regenzeit füllt viel Wasser den Teich wieder auf. Es gibt da immer Wasser. Mein Bruder hatte intuitiv das Prinzip des steady state verstanden, und zwar das eines dynamischen, d.h. zyklischen steady state.

    Hingegen erinnerte mich das Bild eines mit zwei Händen geborenen Menschen an ein erschreckendes, aber happy-end Märchen, das ich als Kind gelesen hatte: Ein Dämon hatte ein Dorf heimgesucht. Er sagte, er werde alles zerstören. Die Dorfbewohner verzweifelten. Da ging ein kleines Mädchen zu dem Dämon und flehte ihn an zu verschonen, was noch stand. Der Dämon sagte, er würde ihrer Bitte nachgeben, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihm fortwährend genug Arbeit geben würde. Anderenfalls müsse er seine Zerstörungsarbeit wieder aufnehmen, da er nie aufhören könne zu arbeiten. Der Deal wurde gemacht. Der Dämon hörte mit der Zerstörung auf, und das Mädchen gab ihm eine sinnvolle Arbeit nach der anderen: ein gutes Haus für jede Familie im Dorf bauen, ein gutes Schulgebäude bauen, eine gute Straße, gute Möbel für jedermann etc. etc. Der Dämon tat all dies. Aber bald gingen dem Mädchen die guten Ideen aus. Es drohte die Gefahr, dass der Dämon wieder mit der Zerstörung begänne. Dann hatte das Mädchen eine Idee. Sie gab dem Dämon eins ihrer lockigen Haare und forderte ihn auf, es zu glätten. Der Dämon sagte, das sei zu wenig Arbeit für ihn. Aber das Mädchen bestand darauf. Der Dämon begann mit der Arbeit. Er zog das Haar und drückte es zwischen seinen Fingern, immer wieder, aber ohne Erfolg. Das Haar wollte nicht glatt werden. So wurde der Dämon für immer beschäftigt. Das Dorf war gerettet.

    Das heutige Problem der deutschen Wirtschaft ähnelt sehr dem des Märchendorfes. Meine kindliche Sorge wegen unseres Familienwachstums entsprach im Kleinen unserer heutigen Sorge um die wachsende Weltbevölkerung. Und mit seinem Gleichnis von dem Teich, in dem sich eigentlich nichts ändert außer dem Wasserstand, nahm mein Bruder das Steady-state-Ideal der Ökologen vorweg. Nur dass weder mein Bruder noch ich vor 68 Jahren wussten, dass es Phänomene gibt wie sintflutartigen Regen, gefolgt von verheerenden Überschwemmungen, sowie auch jahrelange Dürren wegen kümmerlicher Niederschläge.

Zu wenige Menschen

Über die Jahrzehnte hat das akkumulierte Industriekapital Deutschlands eine dämonische Größe erreicht. Der Dämon will ständig arbeiten, irgendetwas tun – ob Konstruktives oder Destruktives, spielt keine Rolle. Es ist egal, ob ein Haus gebaut oder abgerissen wird, die ausführenden Firmen machen Gewinn. Am unerträglichsten ist es, wenn Maschinen stillstehen. Allerdings braucht dieser Dämon noch Arbeiter, trotz allen Fortschritts in der Arbeitsproduktivität. Und hierbei ist ein ernstes, beängstigendes Problem entstanden: Deutsche Frauen bringen zu wenige Kinder zur Welt. Die Kinder von heute sind ja die Arbeiter von morgen.

    Es ist die eine Art demographische Krise, die die meisten Menschen schwer verstehen. Hören wir nicht schon seit Jahrzehnten, dass die Welt übervölkert ist? Versuchen nicht seit langem die Regierungen vieler Länder, die Geburtenrate zu senken? Hat uns nicht der erste Bericht an den Club of Rom (Meadows et al 1972) vor den unliebsamen Folgen der Begrüßung hoher Geburtenzahlen gewarnt?

    Wenn das Problem nur darin läge, Arbeitskräfte zu finden, wäre es leicht zu lösen. Arbeitskräfte können aus vielen Ländern importiert werden – aus Ländern, in denen es einen Überfluss an jungen Menschen gibt, die nach Arbeit schreien. In der Tat haben in den 1960ern Deutschland und die meisten anderen Industriestaaten Europas auf diese Weise ihren Arbeitskräftemangel behoben. Aber bald bemerkten sie bestürzt, dass diese einfache Lösung einen bitteren Nachgeschmack hatte. Sie wollten Arbeiter importieren, doch es kamen Menschen. Menschen können Arbeit liefern, aber sie können auch zum Ärgernis werden. Die importierten Arbeiter ließen sich dort nieder, wo ihre neuen guten Arbeitsplätze waren; später folgten ihre Frauen und Kinder. Die erwachsenen Kinder heirateten und zeugten Kinder. Die Regierungen und die Einheimischen der Gastgeberländer, jedenfalls die meisten, missbilligten diese Entwicklung. Sie hätten eine Regelung vorgezogen, nach der die importierten Arbeitskräfte jeweils neun Monate arbeiteten, dann für drei Monate nach Hause gingen, wieder neun Monate arbeiteten und so weiter. Anfangs war das die Regelung in der Schweiz. Aber die Wirtschaftsbosse waren dagegen, und, natürlich, ihr Wille geschah. Bald gab es zu viele von diesen Einwanderern.

    Als Mitte der 1970er infolge der ersten Ölkrise in den Industriestaaten Europas eine Rezession einsetzte, versuchten die Gastländer, so viele Gastarbeiter loszuwerden wie möglich. In Westdeutschland, wo die allermeisten Gastarbeiter Türken waren, bot ihnen Kanzler Kohl eine Prämie für eine freiwillige Rückkehr an, aber ohne Erfolg.

    Was den christlichen Ländern Europas die meisten Sorgen machte, war der islamische Glaube der meisten Gastarbeiter. Als Kanzler Kohl in den 1980ern das erwähnte Angebot machte, sagte er in einem Gespräch mit Margaret Thatcher, der Grund für seine Initiative sei die ganz andere Kultur der Türken, die eine Integration sehr erschwerte.

    Schon in den frühen 1980ern konnte ich in Deutschland Fremdenfeindlichkeit beobachten. Man las Graffiti wie „Türken in die Türkei“, „Türken raus“. Schwarze und andere dunkelhäutige Menschen wurden oft auf der Straße angegriffen. Zwei von Türken bewohnte Häuser wurden in Brand gesteckt. Bei solchen Angriffen kamen mehrere Personen ums Leben. In den 1990ern griffen Neo-Nazis Ausländer aus allen armen Ländern an, einschließlich einiger aus Polen. Ihr Slogan: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Ähnliche fremdenfeindliche Vorfälle ereignen sich seither in fast allen europäischen Ländern. In einigen Ländern, wie z.B. in Belgien und den Niederlanden, gibt es die Furcht, die Einheimischen würden bald zur Minderheit im eigenen Land. Asylgesetze sind verschärft worden. Nach der Zerstörung des World Trade Center in New York am 11.9.2001 wurde es noch schlimmer.

    Was ich mit alledem sagen will, ist, dass Deutschlands Arbeitskräftemangel nicht mehr so leicht durch Import von Arbeitern aus armen Ländern zu beheben ist. Die Regierung ist durchaus willig, hochqualifizierte Arbeiter einwandern zu lassen, für eine begrenzte Zeit. Doch die Hunderttausende junger und ungelernter Ausländer, die hierher (oder in ein anderes reiches Land Europas) kommen wollen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen, bekommen weder Visum noch Asyl. Deutschland sei kein Einwanderungsland, wird behauptet. Doch die wirklichen Gründe dafür sind andere: Erstens gibt es die Furcht, von Ausländern überschwemmt zu werden. Und zweitens existiert auch die Angst vor Ärger mit ausländerfeindlichem Pöbel.

    Für Deutschlands Führung gibt es nur drei mögliche Lösungen dieses dringenden Problems: (1) Alle erwerbslosen Menschen aus den krisengeschüttelten Ländern Europas – Griechenland, Spanien, Portugal, Italien Polen, Rumänien, Bulgarien etc. nach Deutschland kommen lassen, sie nötigenfalls etwas ausbilden, sodann arbeiten lassen. Das ist nach den EU-Verträgen schon weitgehend möglich; (2) deutsche Frauen irgendwie dazu bewegen, mehr Kinder zu kriegen; (3) eine stagnierende Wirtschaft hinnehmen.

    Die erste Lösung setzt die Annahme voraus, dass die besagten krisengeschüttelten Länder sich niemals von Rezession und Stagnation erholen und deshalb zukünftig die Arbeit etwa der Hälfte ihrer Jugend nicht brauchen werden. Nach der vorherrschenden Wirtschaftsideologie ist dies schwer anzunehmen. Jeder hofft, die Krise wird bald vorbei sein. Überdies kann die deutsche Wirtschaft einfach nicht so vielen erwerbslosen Süd- und Osteuropäern Beschäftigungschancen anbieten, selbst wenn sie bereit sind, ausgebildet zu werden. Zwar arbeiten viele osteuropäische Frauen mittleren Alters als gelernte oder ungelernte Niedriglohn-Pflegerinnen für die rapide wachsende Zahl hoch-betagter Deutscher. Kürzlich kamen sogar junge Chinesinnen nach Deutschland, um diese Tätigkeit auszuüben. Aber bald werden auch die Bevölkerungen Europas und Chinas altern. In diesem Zusammenhang nennen Daley und Kulish Lettland und Bulgarien, deren Bevölkerungszahlen schneller abnehmen als die Deutschlands. Was energische junge Leute betrifft, so fühlen sich viele Portugiesen, Spanier und Italiener mit Qualifikation, Geschick und unternehmerische Fähigkeiten, die in heutigen Industrien gebraucht werden, gezwungen auszuwandern oder zurückzukehren in lateinamerikanische Länder; die Portugiesen sogar nach Angola und Mosambik. Die anderen, Leute ohne hinreichende Qualifikation oder Geschick, leben lieber von nationalen Sozialleistungen und wohnen im Hotel Mama, statt ihr Glück in Deutschland zu versuchen. Denn sogar deutsche Arbeiter auf vergleichbaren Stufen der Arbeiterhierarchie können nicht von ihren niedrigen Löhnen leben und müssen deshalb zusätzliche Sozialleistungen beantragen.

    Die zweite Lösungsidee hat wenig Aussicht auf Erfolg. Moderne Lebensverhältnisse und Emanzipation haben gewirkt, dass Kinderwunsch zurückgegangen ist. Auch der herrschende neoliberale Kapitalismus erschwert die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Vollzeitberuf, weil er massiv die Kraft aller Arbeitnehmer, besonders der weiblichen, aufzehrt. Und viele von den Frauen, die ein Kind wollen, finden einfach keinen Mann, der bereit ist, eine Familie mit ihnen zu gründen. Der völlige Mangel an Arbeitsplatzsicherheit unterminiert die Verantwortungsbereitschaft von Männern. Ein sehr großer Teil der deutschen Mütter sind alleinerziehende. Im Vergleich zum restlichen Europa, das in einer schier endlosen Wirtschaftskrise steckt, ist Deutschland eine Insel des Wohlstands und geringer Erwerbslosigkeit. Leicht vorzustellen ist deshalb, wie schwer es in den anderen Ländern ist, sich für eine Familiengründung und zwei oder drei Kinder zu entscheiden.

    Die dritte Lösung, also eine stagnierende Wirtschaft hinnehmen, ist für die meisten Menschen unmöglich – nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Leider ist sie jedoch die einzig realistische, ich glaube sogar unvermeidliche, Lösung der demographischen Krise der hier besprochenen Art. In reichen entwickelten Ländern, wo der demographische Übergang schon stattgefunden hat, – in Deutschland war das 1972 –, ist ein erneutes Bevölkerungswachstum unwahrscheinlich. Die von Daley und  Kulish zitierten Statistiken zeigen einen Bevölkerungsrückgang, der andauern wird – bei gleichzeitiger Alterung. Zwar mag ein Schrumpfen zu verhindern sein – durch erwünschte und/oder unerwünschte Zuwanderung aus übervölkerten Ländern. Aber wegen der Angst, von armen schwarzen, braunen und gelben oder islamischen Fremden überschwemmt zu werden, und wegen der Angst, dass das Land seine weiß-christliche Identität verlieren könnte, werden zur Verhinderung von Einwanderung immer strengere Gesetze und Regeln in Kraft treten. Die USA bauen immer längere und höhere Mauern entlang der mexikanischen Grenze; Ceuta und Melilla (zwei spanische Exklaven in Marokko) werden von zwei Reihen hoher Stacheldrahtzäune geschützt.

    Das Argument ist überzeugend, dass für die reichen Industrieländer eine stagnierende, besser noch eine schrumpfende, Wirtschaft eine gute Lösung ihrer demographischen Krise sei, weil sie gleichzeitig ein Beitrag zur Entschärfung der globalen ökologischen und Ressourcenkrise wäre. Also sollte die Wirtschaft absichtlich heruntergefahren werden – sofern das nicht schon durch die gegenwärtige Wirtschaftskrise geschieht, um sie der demographischen Realität anzupassen. Die weißen europäischen Völker, die die genannte demographische Krise erleben, werden nicht aussterben. Ihre Frauen, auch wenn sie modern und emanzipiert sind, wollen Kinder – im Durchschnitt zwei –, wie die Beispiele Frankreichs und einiger skandinavischer Länder zeigen. An irgendeinem Punkt des gegenwärtig andauernden Rückgangs wird die Geburtenrate wieder steigen – wahrscheinlich mit der Ausbildung eines humaneren Gesellschaftssystems, also eines ökosozialistischen, und einer arbeitsintensiver Wirtschaft, nachdem das Ressourcenproblem zu einem Knirschen im System geführt hat. Dies wird zu einer steady-state Bevölkerung führen. Deshalb brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.

Zu viele Menschen

Es gibt aber Gründe, sich wegen der demographischen Krise in den weniger entwickelten Ländern Sorgen zu machen, die eine Krise entgegengesetzter Art ist. In vielen dieser Länder platzt die Bevölkerung aus allen Nähten. Zu viele junge Leute suchen verzweifelt eine Arbeit, und zu wenige Arbeitsplätze können neu geschaffen werden. Indiens Bevölkerung, jetzt schon über 1,2 Milliarden, wächst jedes Jahr um 18 Millionen. Der Premierminister sagt, Indiens Wirtschaft müsse jedes Jahr 8 bis 10 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, um die jungen Leute ins Arbeitsleben zu integrieren. Eine Zeitlang, als die indische Wirtschaft mit jährlich 8 bis 9 % Wirtschaftswachstum boomte, begrüßten die Wirtschaftsführer das Bevölkerungswachstum als eine garantierte Quelle von billigen Arbeitskräften. Sie nannten es sogar Indiens „demographische Dividende“. Doch trotz dieser „Dividende“ fällt seit einiger Zeit die Wachstumsrate der indischen Wirtschaft. Der unerbittlichen Logik der Grenzen des Wachstums kann schließlich nicht getrotzt werden.

    Aus den oben genannten Gründen setzen hoch entwickelte Industrieländer alles daran, massenhafte Einwanderung billiger überschüssiger Arbeitskräfte aus weniger entwickelten Ländern zu unterbinden. Sogar das riesige, rohstoffreiche Russland, dessen Bevölkerung ebenfalls schrumpft, schottet sich gegen Arbeitskräfte aus Zentralasien ab. Darum gibt es auch für die übervölkerten weniger entwickelten Länder keinen einfachen Ausweg aus ihrer demographischen Krise. Wenn sie nicht zusehen wollen, wie ihre Bürger im Mittelmeer oder im Indischen Ozean vor der australischen Küste ertrinken, müssen sie spätestens jetzt ernsthaft beginnen, an der Schrumpfung ihrer Bevölkerung zu arbeiten.

Der Faktor Umwelt

Nun besteht das Problem nicht einfach darin, Arbeitsplätze für immer mehr junge Leute zu schaffen. Auch die Umwelt muss vor weiterer Schädigung bewahrt werden – nicht nur die globale und regionale Umwelt, für die die reichen 20% der Welt mehr tun müssen als die anderen, sondern auch die Umwelt jeden einzelnen Landes, deren Schutz die Aufgabe von Volk und Regierung des betreffenden Landes ist. Die Wurzeln vieler heutiger politischer Unruhen in der Welt können größtenteils auf die zwei zusammenhängenden Probleme zurückverfolgt werden. Je mehr nämlich die Bevölkerung wächst, desto mehr wird die Umwelt geschädigt, und je mehr die Umwelt geschädigt wird, desto weniger kann sie der Bevölkerung die Grundlage ihres Lebensunterhalts bieten.

    Nehmen wir zum Beispiel Ägypten. 1979 zählte seine Bevölkerung 40 Millionen; 2011, als der Aufstand gegen die Regierung Mubarak stattfand, waren es 85 Millionen. Über die Lage der Umwelt in Ägypten lesen wir: „Bodenverdichtung und steigender Meeresspiegel haben bereits zum Eindringen von Salzwasser in das Nildelta geführt; Überfischung und Überentwicklung bedrohen das Ökosystem des Roten Meeres; unregulierte und unnachhaltige Landwirtschaftspraktiken in ärmeren Gegenden sowie mehr extreme Temperaturen verstärken Bodenerosion und Wüstenbildung. Die Weltbank schätzt, dass Umweltschäden Ägypten jährlich 5% des BIP kosten.“ (Friedman 2013A)

    Nehmen wir ferner als Beispiel den Iran, wo 2009 die Jugend der Mittelschicht gegen das Regime revoltierte. 1979, als dort die islamische Republik gegründet wurde, hatte das Land 37 Millionen Einwohner, gegenwärtig sind es 75 Millionen. Was aber für die Zukunft des Landes noch gefährlicher ist, ist die Verschlechterung der Lage der Umwelt. Der frühere Landwirtschaftsminister des Landes Issa Kalantari sagte kürzlich:

 „Unser bedrohliches Hauptproblem – gefährlicher als Israel, Amerika oder politische Kämpfe – sind die Frage des Lebens im Iran.“…“Es besteht darin, dass die iranische Hochebene unbewohnbar wird. … Die Grundwassermenge hat abgenommen, und eine negative Wasserbilanz ist weitverbreitet. … Ich mache mir große Sorgen um die nächsten Generationen. … Wenn diese schlechte Situation nicht behoben wird, wird der Iran in 30 Jahren zu einer Geisterstätte. … Alle natürlichen Wasservorkommen im Iran trocknen aus, … Wüsten breiten sich aus. … Die Menschen werden fortziehen müssen. Aber wohin? Ich kann ohne weiteres sagen, dass von den 75 Millionen Einwohnern Irans 45 Millionen unsicheren Lebensumständen entgegengehen.“ (Zit. nach Friedman 2013A)

    Auch der gegenwärtige Bürgerkrieg in Syrien wurde zum Teil verursacht durch das Zusammentreffen von Bevölkerungswachstum, der sich verschlechternden Lage der Umwelt und einer schlechten Wirtschaftspolitik. Syriens Bevölkerung wuchs von 8,7 Millionen im Jahre 1980 auf gegenwärtig etwa 23 Millionen. Der Missmut der Bevölkerung begann mit einer Dürre, die bald zur Haupttriebkraft der Erhebung gegen das Regime wurde. Ein amerikanischer Journalist, Thomas Friedman, umschrieb folgendermaßen, was ihm ein syrischer Ökonom erzählt hatte:

„Die Dürre hat Syriens Bürgerkrieg nicht verursacht, sagte der syrische Ökonom Samir Aita, aber, fügte er hinzu, das Versagen der Regierung, der Dürre angemessen zu begegnen, spielte eine enorm große Rolle, den Aufstand anzuheizen. Was geschah, Aita erklärte, war, dass Assad nach seiner Machtübernahme im Jahre 2000 den bis dahin regulierten Agrarsektor in Syrien für Großbauern öffnete, von denen viele Spießgesellen der Regierenden waren. Sie kauften viel Land auf und pumpten soviel Wasser hoch, wie sie wollten, bis schließlich der Grundwasserspiegel stark sank. Das führte zur Vertreibung von Kleinbauern in die Städte, wo sie nach Arbeit herumsuchen mussten.“

Friedman kommentierte„In einer Ära des Klimawandels werden wir wohl viele weitere Konflikte dieser Art erleben.“ (Friedman 2013 B)

Widerstände gegen Geburtenkontrolle

Seit Jahrzehnten gibt es zu viele Widerstände gegen alle politischen und sonstigen Maßnahmen, das Bevölkerungswachstum zu stoppen oder wenigstens unter Kontrolle zu bringen. Sie kommen vor allem von traditionellen Linken (Kommunisten, Sozialisten), den Dritte-Welt-Solidaritätsgruppen, Konservativen, Nationalisten, Feministinnen und tief religiösen Leuten. Oft repräsentiert dieselbe Person zwei oder mehr von diesen Gruppen. Zunächst möchte ich die Argumente und Standpunkte dieser Leute zusammenfassen:

    (1) Einer von ihnen, ein Dokumentarfilmer aus Österreich, der jüngst einen Film gedreht hat, in dem die Idee der Bevölkerungskontrolle rundum verdammt wird, sagte kürzlich: „Wenn man die gesamte Weltbevölkerung auf dem Gebiet Österreichs unterbringen würde, hätte jeder Weltbürger 11 qm zur Verfügung. Der Rest der Erde wäre dann leer“ (Zit. Nach Weitlanger 2013). Vor einigen Jahren hatte ein Vertreter des Vatikan bei einer Konferenz Ähnliches gesagt: Die gesamte damalige Weltbevölkerung könnte problemlos im Bundesstaat Texas der USA, leben.

    (2) Es gibt keinen Grund zur Sorge; erstens, weil sich die Weltbevölkerung bald stabilisieren wird, und zweitens, weil es genug Nahrungsmittel in der Welt gibt. Zudem kann die Lebensmittelproduktion um das Mehrfache des gegenwärtigen Niveaus gesteigert werden.

    (3) Was als Übervölkerungsproblem erscheint, ist in Wahrheit ein Verteilungsproblem. Wenn der Reichtum und die Ressourcen der Welt fair verteilt würden, gäbe es nirgendwo Armut. Es gibt nicht nur genug Nahrung in der Welt, sondern auch genug von den anderen nötigen Ressourcen.

    (4) Die reichen Industrieländer mit nur 20% der Weltbevölkerung verbrauchen 80% der Ressourcen der Welt, von denen also nur 20% für den Rest der Weltbevölkerung bleiben, also für die 80%. Die besagten 20% der Weltbevölkerung verursachen auch 80% der weltweiten Verschmutzung und ökologischen Schädigung.

    (5) Die Diskussion über die Übervölkerung ist nur ein Horrorszenario, ein Manöver der herrschenden Klassen der Welt, um die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken von den wahren Ursachen der Armut, der Ressourcenkrise, der globalen Erwärmung, der Umweltverschmutzung usw. Betsy Hartman, eine prominente Kritikerin des Übervölkerungsdiskurses, soll gesagt haben, nicht von ungefähr werde das Thema der sieben Milliarden Weltbevölkerung ausgerechnet jetzt diskutiert, wo die Menschen endlich politisch aktiv würden und ihre Aufmerksamkeit auf die ungerechte Verteilung und das Chaos auf dem Finanzmarkt richteten (Vergl. Weitlanger 2013). (Diese Behauptung ist aber insofern falsch, als Rufe nach Bevölkerungskontrolle mindestens 40 Jahre alt sind.)

Der Irrtum von der Einen Welt

Auf den ersten Blick erscheinen solche Argumente überzeugend, aber einer genaueren Betrachtung halten sie nicht stand. Sie leiden an dem, was man den Irrtum von der Einen Welt nennen könnte. Ein Ideal wird hier für die Wirklichkeit gehalten. In dem berühmten Brundtland-Bericht von 1987 hieß es: „Die Erde ist eine Einheit, aber die Welt ist es nicht. Wir alle sind für die Erhaltung unseres Lebens abhängig von einer gemeinsamen Biosphäre. Dennoch verfolgt jede Gemeinde, jedes Land Überleben und Wohlstand ohne Rücksicht auf andere. (WCED 1987:27; Hauff 1987: 31). Im Idealfall sollten wir uns vor allem als Menschen ansehen und nicht als Inder, Briten, Chinesen, Ugander, Russen usw. Und idealerweise sollte das Interesse (das Wohlergehen und die Zukunft) der ganzen Menschheit eines der Hauptanliegen jedes Menschen sein. Das sollte zwar unsere Zukunftsvision bleiben. Derzeit jedoch, in der realen Welt, in der wir leben und in der wir handeln müssen, sind wir so weit entfernt von dem Ideal, dass bloße Stammessolidarität als etwas Großartiges gilt.

    Vor diesem realen Hintergrund, zu einer Zeit, in der die österreichische Regierung nicht einmal 7.000 Wirtschaftsflüchtlingen aus problemgeschüttelten Ländern Asyl gewähren wird, ist es völliger Unsinn, uns glauben machen zu wollen, dass es noch viele dünn bevölkerte Gegenden auf der Erde gibt, in denen man größere Zahlen von Menschen aus den dicht besiedelten Ländern ansiedeln könnte (siehe Zitat weiter oben). Kein Staat der Welt würde diesen Vorschlag annehmen, nicht einmal der kontinentale Staat Australien mit seinen lediglich 25 Millionen Einwohnern. Es gibt keine leeren Landflächen mehr wie in früheren Jahrhunderten. Überall werden immer mehr Barrieren errichtet, um die Masseneinwanderung der Armen dieser Welt zu verhindern.

    Was nutzt die Aussage, dass es genug Nahrung in der Welt gebe, die, gleichmäßig verteilt, für die Ernährung der gesamten Weltbevölkerung ausreichen würde? Bauern in Ländern mit Agrarüberschüssen würden ihre Erzeugnisse gern an jeden verkaufen, der das bezahlen kann, aber sie werden nichts verschenken, was sie mit harter Arbeit und erheblichen Investitionen erwirtschaftet haben. Wo will die wachsende Zahl von armen Leuten in den weniger entwickelten Ländern das Geld hernehmen, Lebensmittelimporte zu bezahlen? Übrigens mag es heute genug Nahrungsmittel für alle geben, aber wie wird es zukünftig aussehen – mit einer viel größeren Weltbevölkerung und klimabedingten Missernten?

    Was die für die Weltwirtschaft benötigten Ressourcen angeht, scheinen die Gegner der Bevölkerungskontrolle nicht zu wissen, dass die meisten nur begrenzt zur Verfügung stehen, nicht erneuerbar sind und rapide erschöpft werden, während die Weltbevölkerung ständig wächst. Was erneuerbare Ressourcen angeht – Süßwasser, Holz und andere organische Rohstoffe – so ist auch deren Verfügbarkeit durch ihre Erneuerbarkeitsrate begrenzt. Obwohl die Landfläche fast gleichbleibt (das kann sich in naher Zukunft durch den steigenden Meeresspiegel ändern), verschwindet fruchtbares Land unter Beton- und Asphaltdchungel oder wird unfruchtbar durch Bodenerosion, Versalzung usw. Die Gegner der Bevölkerungskontrolle scheinen noch nie etwas von den Grenzen des Wachstums und dem Problem der Nachhaltigkeit gehört zu haben. Überdies sind zum Leben unbedingt notwendige Ressourcen wie fruchtbarer Boden, Wasser und fossile Brennstoffe ungleichmäßig über den Globus verteilt. Ackerland kann gar nicht importiert werden, Wasser nur begrenzt.

    All das bedeutet, dass die Völker der Welt ihre Probleme selbst lösen müssen, zur Zeit jedenfalls.

Der Glaube an technologische Lösungen

Gegner der Bevölkerungskontrolle hoffen, dass die Nahrungsmittelproduktion um ein Mehrfaches der heutigen Menge gesteigert werden kann. Es ist hinreichend bekannt, dass die Grüne Revolution in der Landwirtschaft in den 1960er und 1970er Jahren sowie danach die Lücke zwischen dem Nahrungsmittelbedarf der Weltbevölkerung und der globalen Produktion schließen konnte. Es ist jedoch auch bekannt, dass der Preis für diese technologische Lösung – hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs und der Umweltschäden (z.B. abnehmende Artenvielfalt, Bodenschäden, und Gesundheitsschäden durch Pestizide) – sehr hoch war. Mit zunehmender Bevölkerungszahl wird dieser Preis weiter steigen. Wie Nafis Sadik vom United Nations Population Fund (UNFPA) 1990 schrieb, „ist die Bevölkerungszahl immer Teil der Gleichung. Für jede gegebene Art Technologie, für jedes gegebene Niveau von Verbrauch oder Verschwendung, für jedes gegebene Niveau von Armut oder Ungleichheit gilt: je mehr Menschen da sind, desto größer ist die Auswirkung auf die Umwelt.“ (Sadik 1990: 10). Müssen wir wirklich erst ein Problem schaffen oder ein bestehendes verschlimmern, indem wir unsere Anzahl erhöhen, und dann nach einer technologischen Lösung suchen, diesmal vielleicht durch die Erzeugung genetisch manipulierter Nahrungsmittel mit potentiell gefährlicher Auswirkung auf die Natur und unsere Gesundheit?

    Es gibt ein paar ältere Studien, in denen behauptet wurde, es könne genügend Nahrungsmittel für eine wachsende Weltbevölkerung erzeugt werden, ohne auf neue, hohe Biotechnologie zurückzugreifen. 1982 wurde in einer Studie der Food and Agriculture Organisation (FAO) und der UNFPA behauptet, in den weniger entwickelten Ländern (ohne China) gebe es genug Land, um 33 Milliarden Menschen ernähren zu können – allerdings nur, wenn jeder Quadratmeter kultivierbaren Landes und große Mengen Kunstdünger sowie weitere Chemikalien benutzt würden, für die Produktion einer gerade ausreichenden Menge vegetarischer Nahrung (Vergl. Sadik 1990: 7). Es gab aber auch ein Modell für die Erzeugung ausreichender Nahrung für 15 Milliarden Menschen mit einem mäßigen Einsatz von Kunstdünger und anderen Chemikalien. Es wurde behauptet, dieses Modell erlaube einen ökologisch umsichtigen Umgang mit der Natur (vergl. Simon 1991: 30) In jener Zeit nahm man allgemein an, dass sich die Weltbevölkerung zwischen 2050 und2100 bei 11 bis 14 Milliarden stabilisieren würde.

    Beide dieser Modelle müssen verworfen werden. Wenn die Menschen in den weniger entwickelten Ländern (ohne China) genug Nahrung für ihren Teil der für 2050 vorausgesagten 9 Milliarden Menschen erzeugen wollen, und das mit nur mäßigem Einsatz von Kunstdünger und anderen Chemikalien, damit sie die Umwelt nicht zu sehr schädigen, dann muss die Landwirtschaft sehr extensiv werden. Dann würden sie mehr Ackerland benötigen, während sie gleichzeitig infolge zunehmender Urbanisierung und Industrialisierung rapide kultivierbares Land verlieren. Dies ist nicht nur ein Szenario für die Zukunft; der zweite Teil dieser Entwicklung beobachtet man schon jetzt. Dieses Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bei Ackerland hat schon die Aufmerksamkeit von internationalen Investoren erweckt. Seit fünf oder mehr Jahren jagen sie nach fruchtbarem Land in weniger entwickelten Ländern, besonders in Afrika und Südamerika. Auch Investoren aus China und ölreichen arabischen Staaten beteiligen sich an diesem Ansturm. Nach Medienberichten hat kürzlich eine staatseigene chinesische Gesellschaft 100.000 ha Ackerland in der Ukraine gepachtet, wo sie Weizen für die chinesische Bevölkerung anbauen will (Süddeutsche Zeitung, 23.09.2013).

    Außerdem würde die Verwirklichung dieser Modelle bedeuten, dass ein großer Teil der noch verbliebenen Wälder (einschließlich der kostbaren Regenwälder) verlorenginge. Selbstverständlich könnte der Ressourcenbedarf der Luxusindustrien radikal ignoriert werden. Doch selbst die Befriedigung der Grundbedürfnisse von 9 Milliarden Menschen würde eine Menge Holz als Baumaterial und als Energiequelle erfordern. Denn Erdöl und Erdgas (mithin viele andere Mineralstoffe) würden mittelfristig äußerst knapp und sehr teuer werden (Kohle ist schlecht fürs Klima). Das würde unvermeidlich zu andauernder Abholzung immer weiterer Wälder führen. Abgesehen davon, dass wir Menschen selbst einen gewissen Anteil der Landfläche mit Wald bedeckt haben müssten und möchten, sind Wälder (wie auch Sümpfe und andere Biotoparten) der Lebensraum von vielen Tier- und Pflanzenarten, die wir, nebenbei bemerkt, auch für unser seelisches, spirituelles und geistiges Wohlbefinden brauchen. Hat der Mensch das Recht, sich noch mehr Lebensraum anzueignen auf Kosten der anderen Arten der Natur?

    Falls wir uns für intensivere Landwirtschaft entscheiden, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass es auch Grenzen der Produktionssteigerung durch immer mehr Chemikalieneinsatz gibt. Schon 1984 schrieb Lester Brown vom Worldwatch Institute, dass Feldfrüchte immer weniger auf zusätzlichen Kunstdüngereinsatz ansprachen, besonders in der Landwirtschaft hoch entwickelter Länder. Während der 1950er Jahre erbrachte die Anwendung einer zusätzlichen Tonne Kunstdünger im Durchschnitt weitere 11,5 Tonnen Getreide. Während der 1960er fiel diese Zahl auf 8,3 Tonnen, in den 1970ern war sie nur noch 5,8 Tonnen (Brown 1984: 179). Und um 1980 stellten Wissenschaftler fest, dass Gewinn pro Einheit Technologieeinsatz im Allgemeinen fiel (vergl. Trainer 1985: 211)

    Heute würde gewiss jeder vernünftige Mensch zustimmen, dass es leichter ist, Geburtenraten zu verringern als Wachstumsraten von Nahrungsmittel- und Industrieproduktion zu steigern.

Die Politik der Übervölkerung

Die übrigen der weiter oben angeführten Argumente der Gegner von Bevölkerungskontrolle sind stets in emotional aufgeladenem Stil vorgetragen worden, fallen aber in die Kategorie billige Politik. So beklagte vor etlichen Jahren eine feministische Aktivistin aus Bangladesch, westliche Politiker, NRO-Aktivistinnen und Institutionen wie die Weltbank, die Bevölkerungskontrollmaßnahmen in diesem Land befürworteten und unterstützten, würden versuchen, Bangladesch zu entvölkern. Zwei ähnlich scharfe Ausdrücke, die von anderen benutzt worden sind, sind „Völkermord“ und „Entsorgung der Armen“.

    Nehmen wir an, dass die derzeitig ungleiche und ungerechte Verteilung von Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen der Erde durch eine Art Weltrevolution überwunden werden könnte, die den Kapitalismus und das Patriarchat abschaffte und eine gleiche Verteilung der genannten Ressourcen realisierte. Natürlich wäre das an sich eine großartige Sache, denn dann wären nicht nur alle zurzeit lebenden Menschen frei von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern sie würden auch ein gewisses Maß von Wohlstand genießen. Doch das würde der Menschheit nicht helfen, die Probleme der Schrumpfung ihrer Ressourcenbasis, der zunehmenden Umweltdegradation und der Erderwärmung mit ihren verheerenden Folgen zu lösen. Nur würde die Schuld an diesen Geißeln der Menschheit von nun an gleichmäßig verteilt sein. Also würde die dringende Notwendigkeit, unsere Bevölkerungszahlen und unseren Ressourcenverbrauch zu senken, auch nach einer solchen Revolution bestehen bleiben. Gott sei Dank ist es mittlerweile auch vielen wohlhabenden Mitgliedern der gegenwärtig lebenden Generationen klar geworden, dass sie ihren Wohlstand auf Kosten der Natur und der zukünftigen Generationen genießen. Und ihnen sind mehr Gründe für unsere derzeitigen Nöte bewusst als nur der Kapitalismus und der Imperialismus.

    Für die Gegner der Bevölkerungskontrolle ist es unnötig, etwas gegen das Bevölkerungswachstum zu unternehmen, denn sie sind sich sicher, dass sich die Weltbevölkerung um 2050 bei 9 Milliarden stabilisieren wird. Dieser Glaube beruht auf der Theorie des demographischen Übergangs. Sie fußt auf Beobachtungen in westeuropäischen Ländern und besagt: Nachdem ein Land ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht hat, fallen sowohl die Geburten- als auch die Sterberaten und erreichen schließlich die gleiche Höhe, so dass sich die Bevölkerung stabilisiert.

    Nun wächst tatsächlich in vielen wohlhabenden westlichen Ländern die Bevölkerung nicht mehr. Und in vielen weniger entwickelten Ländern sinken die Wachstumsraten. In Indien begrenzen nach meiner Beobachtung Mitglieder der gebildeten Mittelschicht die Zahl ihrer Kinder im Schnitt auf zwei. Aber die gebildete Mittelschicht Indiens zählt nur zwei- bis dreihundert Millionen. Der Rest von Indiens 1,2 Milliarden Menschen folgt diesem Beispiel nicht.

    In Westdeutschland fand der demographische Übergang schon 1972 statt. Es besteht aber keine Aussicht mehr, dass die große Zahl der armen Länder insgesamt jemals das Wohlstandsniveau erreichen würden, das Westdeutschland 1972 erreichte. Für die meisten von ihnen ist der Entwicklungstraum vorbei. Und selbst wenn Wohlstand irgendwie kommt – z.B. durch die Entdeckung großer Ölfelder – ist das keine Garantie, dass der demographische Übergang einsetzt. In Saudi-Arabien – mindestens seit Mitte der 1970er ein sehr reiches Land – hat der demographische Übergang noch nicht begonnen. Seine Bevölkerung ist von 9,8 Millionen im Jahre 1980 auf 29,2 Millionen im Jahre 2012 angewachsen. Die derzeitige Wachstumsrate wird auf 1,5% geschätzt (Angaben in Wikipedia). Deshalb sollten wir diesen friedlichen automatischen Weg zu einer stabilen Weltbevölkerung auf einem niedrigeren Niveau vergessen.

    In der Tat wird sich die Weltbevölkerung an irgendeinem Punkt stabilisieren, weil sie einfach nicht endlos wachsen kann. Einige Fachleute meinen sogar, sie werde schon im Jahr 2040 beginnen, sich zu verringern. (vgl. Weitlanger 2013) Was geschehen wird, was schon geschieht, ist, dass immer mehr Menschen sterben würden, bevor sie alt werden. Mangelernährung, schlechte Hygieneverhältnisse, diverse Krankheiten einschließlich der durch Umweltverschmutzung verursa-chten, das Fehlen ausreichender medizinischer Versorgung, Kriege und Bürgerkriege, Terror-istenangriffe, scheiternde und gescheiterte Staaten – all dies fordert bereits unzählige Opfer. In Syrien haben schon nach zweieinhalb Jahren Bürgerkrieg mehr als ein hunderttausend Menschen vorzeitig das Leben verloren.

Objektive Hindernisse – Was kann getan werden?

Abgesehen von irrationaler, rein politisch motivierter Opposition gibt es auch einige objektive, durch die reale Welt bedingte Hindernisse für Bevölkerungskontrolle – ökonomische, kulturelle und religiöse. In weniger entwickelten Ländern wie Indien, wo es für die Armen keine institutionalisierte Altersabsicherung gibt, haben Söhne traditionell die Pflicht, die betagten Eltern zu versorgen. Um sicherzustellen, dass mindestens zwei der lebenden Kinder Söhne sind, muss ein armes Paar im Schnitt 5 Kinder zeugen. Dies ist äußerst rationales wirtschaftliches Verhalten. Außerdem sind Kinder für viele Bauern billige Arbeitskräfte, die nur für Kost und Logis „wie Esel“ arbeiten. In den frühen 1970er Jahren machte Mahmood Mamdani eine Studie über das indische Dorf Manupur, wo zuvor ein intensives Familienplanungsprogramm völlig fehlgeschlagen war. Mamdani schrieb:

„Kein Programm hätte Erfolg gehabt, weil Geburtenkontrolle den Kerninteressen der Mehrzahl der Dorfbewohner widersprach. Geburtenkontrolle zu praktizieren hätte bedeutet, mutwillig ein wirtschaftliches Desaster heraufzubeschwören. (Mamdani 1972 : 21)

    Objektive Hindernisse sind auch kulturelle Tradition und religiöser Glaube, sowie oft Wettstreit zwischen religiösen Gruppen, durch größere Zahlen stärker zu werden. Sie wären jedoch an sich nicht unüberwindbar. Die meisten Menschen passen sich ja modernen Zeiten an. Diese fordern allerdings auch, dass jeder seine eigenen materiellen Interessen wahrnimmt und sonst nichts. Der Widerspruch zwischen den unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen der Armen und den Interessen der Nation sowie kommender Generationen ist eine harte Realität und deshalb schwerer zu überwinden.

    Trotzdem muss bald etwas getan werden, um das Bevölkerungswachstum zu beschränken. Wir können nicht warten, bis eine sozialistische Revolution stattgefunden hat und die Macht in die Hände von Revolutionären übergegangen ist, die den Kapitalismus und das Patriarchat abschaffen. Wenn heute nichts geschieht, wird sich die Situation weiter verschlimmern, und schließlich werden in einem Land nach dem anderen reaktionäre Kräfte ihre Art von „Revolution“ machen – vielleicht sogar durch Wahlsiege, wie kürzlich in Ägypten und Tunesien geschehen – und dann ihre Republik errichten. Auch sie werden es nicht schaffen, Ordnung in eine brisante Situation zu bringen. Dann wird eine Gesellschaft nach der anderen zusammenbrechen und in einer Herrschaft von Chaos und Terror enden. Die Macht wird dann von örtlichen und regionalen Kriegsfürsten ausgeübt werden, und die werden gegeneinander Krieg führen, um ihr Herrschaftsgebiet auszudehnen.

    Das ist nicht einfach Pessimismus in Bezug auf die Zukunft. Solche Dinge geschehen schon heute, unmittelbar vor unseren Augen. Man denke nur an Somalia, Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Pakistan und Ägypten. Tunesien hängt prekär an einem dünnen Faden. Sogar in Europa gewinnen reaktionäre Kräfte an Boden – in Griechenland und Ungarn, und, in einem geringeren Maß, sogar in Frankreich und Großbritannien. In der zweiten Gruppe dieser Länder ist die sich verschlechternde Wirtschaftslage der Grund für die besorgniserregende Situation. In der erstgenannten Ländergruppe aber ist das schnelle Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahrzehnte der wichtigste Faktor bei der Entstehung der jetzigen Situation gewesen.

An dieser Stelle möchte ich drei Aussagen von Paul Ehrlich zitieren, der in den 1960ern und 1970ern an vorderster Front einer öffentlichen Kampagne zur Bevölkerungskontrolle stand. An Sozialisten gewendet schrieb er:

„Langfristig könnte die fortwährende Degradation unserer Umwelt mehr Tod und Elend bringen als jedes denkbare Auseinanderklaffen von Nahrung und Bevölkerung.“

    „Die Schlacht zur Rettung unseres Planeten ist nicht nur eine Schlacht für Bevölkerungskontrolle und ökologische Vernunft, sondern auch gegen Ausbeutung, Krieg und Rassismus.“

    [Aber] „was auch immer Ihre Sache sei, kämpfen Sie auf verlorenem Posten, wenn wir die Bevölkerung nicht kontrollieren.“ (alle zit. nach Weißmann 1971: XI & XV).

    Ich stimme voll und ganz zu. Das Eintreten für Bevölkerungskontrolle darf nicht den imperialistischen Kräften des Westens überlassen werden. Das heißt, alle Typen von Sozialisten müssen ihre veralteten Programme revidieren. Zusätzlich zu ihren andauernden und langfristigen Bemühungen, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und Rassismus zu schaffen, müssen sie kurz- und mittelfristig Politiken und Programmen Vorrang geben, die dem Bevölkerungswachstums, der Umweltschädigung und, allgemein gesprochen, der nicht nachhaltigen Nutzung des Planeten Einhalt gebieten. Auch solche Politiken, und nicht nur Wirtschaftswachstum, können die materielle Lage der Armen und der Arbeiterklasse verbessern.

    In weniger entwickelten Ländern, wie z.B. Indien, kann eine vom Volk gewählte Regierung im Rahmen einer kurz- und mittelfristigen Politik sozialdemokratischer Art den Armen, nur den Armen, eine garantierte soziale und Altersabsicherung anbieten, die vom Staat finanziert wird. Als Gegenleistung müssen die Begünstigten die Zahl ihrer Kinder auf zwei begrenzen. Der Staat kann alle Maßnahmen zur wirksamen Geburtenkontrolle voll finanzieren, so dass sich der angesprochene Teil der Bevölkerung keine Sorgen um die Kosten machen müsste. Er kann eine entschiedene Politik für die Emanzipation der Frauen und ihre Stärkung durch Bildung betreiben. Er kann wirksam Kinderehen verbieten, indem er das Mindestheiratsalter auf, sagen wir, 21 Jahre anhebt.

    Eine solche Wohlfahrtspolitik wäre natürlich noch keine sozialistische Politik. Aber, in den Problemländern durchgeführt, würde sie deren Gesellschaften vor völligem Ruin bewahren. Außerdem würde sie den Weg zu einer zukünftigen ökologisch-sozialistischen Gesellschaft ebnen.

 

Literatur

Brown, Lester (1984) „Securing Food Supplies“; in Brown et al. (1984).

Brown, Lester et al. (1984) State of the World. New York: W. W. Norton.

Daley, Susanne & Nicholas Kulish (2013) “Germany: Too Few People?” In The New York Times, 13.08.2013.

Friedman, Thomas (2013A) “Mother Nature and the Middle Class”, in The New York Times, 21.09.2013.

Friedman, Thomas (2013B) “Without Water, Revolution”, in The New York Times, 18.05.2013.

Hauff, Volker (Hrsg.) (1987) Unsere gemeinsame Zukunft (der Brundtland-Bericht1987):. Greven: Eggenkamp.

Mamdani, Mahmood (1972) The Myth of Population Control. New York: Monthly Review Press.

Meadows, Donella, Jorgen Randers & Dennis Meadows (1972) The Limits to Growth. New York: Signet.

Meek, Ronald L. (ed.) (1971) Marx and Engels on The Population Bomb. Berkeley: The Ramparts Press.

Trainer, F. E. (1985) Abandon Affluence!. London: Zed Books.

Sadik, Nafis (UNFPA) (1990) The State of World Population 1990k. New York: UNFPA.

Simon, Gabriela (1991) “Wie viel ist zu viel?”; in blätter des iz3W (November).

Weitlanger, Wolfgang (2013) „Population Boom: Film Widerlegt Überbevölkerung“. Im Internet: http://www.pressetext.com/news/20130917002

World Commission on Environment and Development (WCED) (1987) Our Common Future (besser bekannt als “Brundtland Report”). Oxford: Oxford University Press.

Weißmann, Steve (1971): “Forward”; in Meek (1971).

Wikipedia.

 

Geschrieben im September 2013.
Übersetzt aus dem englischen Original von Dr. Jürgen Zenke, Köln.
Redigiert von Ludwig Hörner.

 

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