Freitag, 14. März 2014

Die Ukraine -- Einige Überlegungen zu dem Schlamassel

Gibt es bald wieder Krieg in Europa? Die Politiker beschwichtigen uns: Nein, soweit werde es nicht kommen. Aber die Krim setzt schon mit russischer militärischer Unterstützung ihre Unabhängigkeit durch, während die NATO-Länder und Russland einander mit Sanktionen bzw. Gegensanktionen drohen. Große Sorge ist also doch geblieben. Versuchen wir, den Schlamassel zu verstehen.

Es bringt uns nicht weiter, wenn man sagt, die Sache sei legal bzw. illegal, verfassungskonform bzw. verfassungswidrig. Oder wenn man sagt, diese Handlung verstoße gegen das Völkerrecht, oder sie tue das nicht. Das ist alles müßig. Es gibt in der deutschen politischen Umgangssprache den geistreichen Spruch: „legal, illegal, scheißegal“. Kein Putsch, keine Präsidentenvertreibung , kein Tyrannenmord, keine Revolution, keine einseitige Unabhängigkeitserklärung ist legal oder verfassungskonform. Und die Demonstranten auf dem Kiewer Maidan behaupten auch nicht, dass ihre Revolution verfassungskonform gewesen ist. Ben Ali und Mubarak waren rechtmäßige Präsidenten ihres jeweiligen Landes – nach irgendeinem geltenden Recht. Auch der despotisch herrschende König von Saudi Arabien, einer der besten Freunde des Westens, ist ein rechtmäßiger Herrscher. Janukowitsch war sogar ein richtig gewählter Präsident. Wen kümmert all das? Nach einiger Zeit gilt die normative Kraft des Faktischen. Ob das geplante Referendum auf der Krim und das Verhalten der Russen da verfassungs- bzw. völkerrechtskonform sind, ist auch egal. Die Russen haben den Amerikanern vorgezählt, wie viele völkerrechtswidrige Invasionen diese in den letzten Jahrzehnten begangen haben – von Panama und Grenada bis den Irak. Sogar ein Kolumnist der Washington Post hat zugegeben, die USA hätten kein moralisches Recht, Russland in dieser Hinsicht etwas vorzuwerfen. Auch Merkel hat kein solches Recht. Gerhard Schröder hat neulich auf einer Veranstaltung in Hamburg gesagt, auch Deutschland habe unter seiner Kanzlerschaft völkerrechtswidrig Serbien bombardieren lassen. Deswegen könne er seinem Freund Putin nichts vorwerfen. Manchmal reden die Großmächte auch Klartext. Die Amerikaner führen oft ihr „vitales Interesse“ als eine Rechtfertigung für eine Invasion an. Auch die Russen haben im aktuellen Krimkonflikt offen gesagt, sie werden ihr Interesse verteidigen. Wir einfache Menschen dürfen aber wohl zumindest fragen, ob eine Handlung wenigstens gerechtfertigt ist, ob sie etwas zur Bewahrung oder Förderung des Friedens in der Welt und zum Wohl der betreffenden Menschen beitragen könnte.

Wenn wir diese Fragen stellen, verlassen wir den Boden des Rechts und Völkerrechts und begeben uns auf den Boden der Ethik. Nach deutschem Recht ist unterlassene Hilfeleistung strafbares Vergehen. Im internationalen Recht gibt es so eine Pflicht nicht. Gerade deswegen entstand nach dem Genozid in Ruanda (1994) das ethische Prinzip der „Responsibility to protect“ (Verantwortung zu schützen). Natürlich können Großmächte auch dieses moralische Prinzip missbrauchen, wie neulich in Libyen geschehen. Aber das ist mindestens etwas besser als die strenge Einhaltung des Prinzips der Nichteinmischung in die innere Angelegenheit eines Staates.

Nach russischer Lesart ist die „Revolution“ in Kiew ein von Westmächten geschürter faschistischer Putsch gegen den Russland-freundlichen gewählten Präsidenten gewesen. Darum sei dieser Putsch nicht nur eine Gefahr für das legitime Interesse Russlands (Marinestützpunkt in Sewastopol, Gegenwehr gegen die Umzingelungspolitik der NATO etc.). Er sei auch eine Gefahr für den ethnisch russischen Bevölkerungsteil der Ukraine.

Man kann hier auf das Prinzip des nationalen Selbstbestimmungsrechts pochen und den Krimrussen, die die Mehrheit der Bevölkerung dieses Landesteils bilden, ruhigen Gewissens erlauben, selbst zu entscheiden, was sie wollen. Die ethnischen Russen machen hier knapp 60 Prozent der Bevölkerung aus. Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass bei der Volksabstimmung – auch ohne Manipulation – die Mehrheit für Abspaltung von der Ukraine und Angliederung an Russland stimmen würde. Aber das Problem ist nicht so einfach gelöst. Die übrigen 40 Prozent – die Krimtataren und die ethnischen Ukrainer – werden dann wohl Angst haben, unter russischer Herrschaft verfolgt oder diskriminiert zu werden. Prinzipienreiterei und sture Durchsetzung einer Volksabstimmung sind auch generell keine gute Politik. Besonders in solchen Situationen wie auf der Krim ist es immer besser vernünftig zu handeln und eine einvernehmliche Lösung des Problems anzustreben.

Ich denke, die Krimrussen haben gute Gründe für ihren aktuellen Wunsch. Unabhängigkeitsbestrebung eines Teils eines Landes (bzw. Abspaltung eines Landesteils und dessen Eingliederung in ein anderes Land) ist nicht per se etwas Schlimmes. Wir haben schon gesehen, dass die ehemalige Tschechoslowakei auf Wunsch der Slowaken ganz friedlich geteilt wurde, und die zwei Teile leben seither ganz friedlich nebeneinander. Wenn die Schotten demnächst per Referendum entscheiden, die Vereinigung mit England und Wales aufzulösen, dann werden die Engländer diese Entscheidung auch hinnehmen. Aber es wird dann bestimmt auch Streit geben, vor allem übers Teilen des Nordseeöls.

Das Beispiel der Tschechoslowakei sollte uns aber nicht dazu verleiten zu denken, dass eine friedliche Teilung eines Landes immer und überall möglich sei. Die Geschichte der neueren Zeit lehrt uns, dass ein solcher Versuch auch in einer Katastrophe enden kann. Es gibt mehrere Beispiele dafür: Biafra (Nigeria), Katanga (die Demokratische Republik Kongo), der tamilische nördliche Teil SriLankas. Auch dort, wo solche Versuche gelungen sind – 1947 in Indien, 1971 in Pakistan, in den 1990er Jahren in ehemaligem Jugoslawien, neulich im Sudan – ging der Prozess meist mit Krieg und großen Massakern einher. Mir fällt keine andere Ausnahme als die Tschechoslowakei ein.

Während es leicht ist, Sympathie für die Unabhängigkeits- bzw. Abspaltungsbestrebung eines Teils eines Landes zu empfinden, ist es sehr schwierig einen schon etablierten Staat in zwei Teile aufzuteilen oder ganz aufzulösen (wie im Falle von Jugoslawien). Denn es gibt heute in der Welt kaum ein größeres Land oder einen größeren Landesteil, wo nicht verschiedene Ethnien bzw. Volksgruppen stark vermischt leben. Ich habe einmal einen türkischen Linken, Führer einer politischen Gruppe in Deutschland, gefragt, ob er die Unabhängigkeitsbestrebung der türkischen Kurden unterstütze. Er sagte, Nein. Er hätte nichts dagegen, wenn sich die kurdischen Gebiete von der Türkei abspalten würden; aber dann müssten die Kurden auch Istanbul und Ankara verlassen. Wie würde das wohl enden?

Ein ähnliches Problem gibt es auch im indischen Teil von Kashmir. Von dem mehrheitlich von Muslimen bewohnten Kashmir-Tal ist die dort früher eingesessene Hindu-Minderheit längst vertrieben worden. Aber im Süden des Bundeslandes, in der Provinz Jammu, bilden die Hindus die Mehrheit. Und im Norden leben buddhistische Ladakhis. Wenn die muslimischen Einwohner des von Indien regierten Teils Kashmirs sagen würden, sie könnten nicht in Indien leben, da es ein mehrheitlich hinduistisches Land ist, und wenn es ihnen irgendwie gelänge, ihr Gebiet von Indien abzuspalten und in die Islamische Republik Pakistan einzugliedern, dann könnten die Hindus im übrigen Indien der dort verstreut lebenden Muslim-Minderheit sagen, ihr könnt auch nach Pakistan gehen. Eine große, grausame Vertreibung der Muslime würde dann das Ergebnis sein, die zweite nach 1947. Auch die kleinen Völker, die in kleinen Bundesländern im Nordosten Indiens leben – die Nagas, die Mijos, die Manipuris – würden ein großes Problem haben, wenn sie auf Unabhängigkeit pochen und dabei irgendwie Erfolg haben würden. Die Mehrheit der Inder würden ihnen dann wohl sagen: wir wollen ab jetzt nichts mit euch zu tun haben. Seht zu, wie ihr mit eurer Unabhängigkeit ökonomisch zurechtkommt. Diese kleinen Bundesländer sind weit entfernt von einer Meeresküste. Ohne Zusammenarbeit mit Indien, würden sie keinen Außenhandel betreiben können und keine ausländischen Investitionen bekommen. Geographie ist halt Teil des Schicksals.

Was ich mit all diesen Beispielen sagen möchte, ist, dass es notwendig ist, jeden konkreten Problemfall je nach Kontext und Konstellation zu beurteilen. Politische Aktivisten wie wir haben eine Vision einer idealen zukünftigen Welt. Doch die Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind Probleme der heutigen Welt. In dem aktuellen konkreten Fall Ukraine-Krim, müssen wir bedenken, dass am Anfang das ökonomische Problem des Landes im Vordergrund stand. Präsident Janukowitsch entschied nach reichlicher Überlegung, dass für die Ukraine ökonomisch per Saldo eine Assoziierung mit Russland vorteilhafter sei als eine mit der EU. Nach manchen Kommentaren, die ich in den Medien (auch in den deutschen) gelesen und gehört habe, war das Angebot der EU zu dürftig. In einer Situation, wo die Ukraine fast pleite ist, wo das Land in diesem und dem nächsten Jahr zusammen 30 Milliarden Dollar braucht, um nur Insolvenz abzuwenden, bot die EU anfangs nur 800 Millionen Euro als Soforthilfe an. Es lag auf der Hand, dass Russlands Hilfsangebot – 15 Milliarden Dollar Soforthilfe plus einen Rabatt von 33 Prozent bei Gaspreisen – vergleichsweise viel günstiger war. Janukowitsch musste auch bedenken, dass für die Industrien Russland ein großer Exportmarkt ist.

Der Präsident handelte wie ein vernünftiger Vater, der seine Tochter, die Ukraine, mit einem reichen Bräutigam vermählen wollte. Doch die Tochter (genauer gesagt, nur der westliche Teil der Ukraine) war entschlossen, ihren Lieben, nämlich die EU, zu heiraten. Es ist halt so, nicht alle Menschen handeln vernünftig, ökonomisch kalkulierend. Es gibt Gefühle und Emotionen, und es gibt nationalen stolz, auch in der Politik. Offensichtlich herrscht in der Westukraine einen Russenhass. Geschichte ist schwer zu vergessen. Und es ist wahr, die Ukrainer haben unter den Zaren und in der Stalin-Ära schwer gelitten. Trotzdem wäre es für die Ukraine besser gewesen, wenn sie sich nicht von der EU abhängig gemacht hätte. Die EU, die USA und der IWF werden ihr sicher die nötigen Rettungsdarlehen geben, wie sie sie auch Griechenland gegeben haben. Aber unter den gleichen Bedingungen, die Griechenland erfüllen muss. Der Staat wird vor der Pleite gerettet werden. Aber die ukrainische Gesellschaft wird das gleiche tragische Schicksal erleiden wie die griechische. Und sollten die Schulden einmal aus geostrategischen Gründen gestrichen werden, würden die Ukrainer wohl die gleichen Lebensverhältnisse „genießen“ wie die Bulgaren und die Rumänen, besonders nachdem sie ihre Waren- und Arbeitsmärkte in Russland verloren haben. Die Deutschen werden bald mit den Ukrainern genauso schlimm schimpfen wie sie es schon seit ein paar Jahren mit den Griechen tun.

Die Krimrussen hingegen handeln vernünftig; sie verlassen ein sinkendes Schiff. Die Ukraine ist pleite, nicht aber Russland, das immer noch riesige Energievorkommen und andere Ressourcen besitzt, deren Weltmarktpreise kontinuierlich steigen. Russland wird die Kosten dieses seines geostrategischen Spiels leichter tragen können als die EU. Die Ukraine sollte eigentlich die Krim gehen lassen. Die Halbinsel hat keine wertvollen Bodenschätze und ist nicht Standort von wichtigen Industrien. Die einzige Bedingung, die sie den Krimrussen auferlegen sollte, ist gleiche Rechte und gleiche Behandlung der Tataren und der ethnischen Ukrainer.

Aus unserer Sicht, wäre es viel besser, wenn der Streit zwischen den Großmächten einerseits und der zwischen den ethnischen Ukrainern und ethnischen Russen friedlich und einvernehmlich gelöst werden könnten. Denn schon jetzt sind alle anderen, dringenderen Probleme Europas fast vergessen. Unsere Bewegungen für eine bessere Welt sind um Jahre zurückgeworfen worden. Aber man kann dieser Krise auch etwas Positives abgewinnen: Wenn die Ukrainer aufhören würden, über ihre Verhältnisse zu leben, wenn die Westeuropäer und die Russen wegen des bevorstehenden Wirtschaftskriegs mittels Sanktionen und Gaspreiserhöhungen eine leichte Rezession erlebten, dann täte das der Umwelt gut.

Aber auch Russlands Ressourcen werden eines Tages zur Neige gehen. Diese Krise erinnert mich wieder einmal an ein Bild, das ich in der Ökologiebewegung mehrmals beschrieben bekommen habe: Ein großes Blatt driftet auf dem Niagara-Fluss in der Richtung der Niagara-Fälle. Auf dem Blatt driften einige Ameisen mit, die um die Macht kämpfen.

 
Fertiggeschrieben am 13.03.2014.