Es bringt uns nicht weiter, wenn
man sagt, die Sache sei legal bzw. illegal, verfassungskonform bzw. verfassungswidrig.
Oder wenn man sagt, diese Handlung verstoße gegen das Völkerrecht, oder sie tue
das nicht. Das ist alles müßig. Es gibt in der deutschen politischen Umgangssprache
den geistreichen Spruch: „legal, illegal, scheißegal“. Kein Putsch, keine
Präsidentenvertreibung , kein Tyrannenmord, keine Revolution, keine einseitige
Unabhängigkeitserklärung ist legal oder verfassungskonform. Und die
Demonstranten auf dem Kiewer Maidan
behaupten auch nicht, dass ihre Revolution verfassungskonform gewesen ist. Ben
Ali und Mubarak waren rechtmäßige Präsidenten ihres jeweiligen Landes – nach
irgendeinem geltenden Recht. Auch der despotisch herrschende König von Saudi
Arabien, einer der besten Freunde des Westens, ist ein rechtmäßiger Herrscher.
Janukowitsch war sogar ein richtig gewählter Präsident. Wen kümmert all das?
Nach einiger Zeit gilt die normative Kraft des Faktischen. Ob das geplante
Referendum auf der Krim und das Verhalten der Russen da verfassungs- bzw.
völkerrechtskonform sind, ist auch egal. Die Russen haben den Amerikanern
vorgezählt, wie viele völkerrechtswidrige Invasionen diese in den letzten
Jahrzehnten begangen haben – von Panama und Grenada bis den Irak. Sogar ein
Kolumnist der Washington Post hat
zugegeben, die USA hätten kein moralisches Recht, Russland in dieser Hinsicht
etwas vorzuwerfen. Auch Merkel hat kein solches Recht. Gerhard Schröder hat
neulich auf einer Veranstaltung in Hamburg gesagt, auch Deutschland habe unter
seiner Kanzlerschaft völkerrechtswidrig Serbien bombardieren lassen. Deswegen
könne er seinem Freund Putin nichts vorwerfen. Manchmal reden die Großmächte
auch Klartext. Die Amerikaner führen oft ihr „vitales Interesse“ als eine Rechtfertigung
für eine Invasion an. Auch die Russen haben im aktuellen Krimkonflikt offen
gesagt, sie werden ihr Interesse verteidigen. Wir einfache Menschen dürfen aber
wohl zumindest fragen, ob eine Handlung
wenigstens gerechtfertigt ist, ob sie etwas zur Bewahrung oder Förderung des
Friedens in der Welt und zum Wohl der betreffenden Menschen beitragen könnte.
Wenn wir diese Fragen
stellen, verlassen wir den Boden des Rechts und Völkerrechts und begeben uns auf
den Boden der Ethik. Nach deutschem Recht ist unterlassene Hilfeleistung
strafbares Vergehen. Im internationalen Recht gibt es so eine Pflicht nicht.
Gerade deswegen entstand nach dem Genozid in Ruanda (1994) das ethische Prinzip der „Responsibility to protect“ (Verantwortung zu schützen). Natürlich
können Großmächte auch dieses moralische Prinzip missbrauchen, wie neulich in
Libyen geschehen. Aber das ist mindestens etwas besser als die strenge
Einhaltung des Prinzips der Nichteinmischung in die innere Angelegenheit eines
Staates.
Nach russischer Lesart ist die
„Revolution“ in Kiew ein von Westmächten geschürter faschistischer Putsch gegen
den Russland-freundlichen gewählten Präsidenten gewesen. Darum sei dieser
Putsch nicht nur eine Gefahr für das legitime Interesse Russlands
(Marinestützpunkt in Sewastopol, Gegenwehr gegen die Umzingelungspolitik der
NATO etc.). Er sei auch eine Gefahr für den ethnisch russischen
Bevölkerungsteil der Ukraine.
Man kann hier auf das Prinzip
des nationalen Selbstbestimmungsrechts pochen und den Krimrussen, die die
Mehrheit der Bevölkerung dieses Landesteils bilden, ruhigen Gewissens erlauben,
selbst zu entscheiden, was sie wollen. Die ethnischen Russen machen hier knapp
60 Prozent der Bevölkerung aus. Darum ist es sehr wahrscheinlich, dass bei der
Volksabstimmung – auch ohne Manipulation – die Mehrheit für Abspaltung von der
Ukraine und Angliederung an Russland stimmen würde. Aber das Problem ist nicht
so einfach gelöst. Die übrigen 40 Prozent – die Krimtataren und die ethnischen
Ukrainer – werden dann wohl Angst haben, unter russischer Herrschaft verfolgt
oder diskriminiert zu werden. Prinzipienreiterei und sture Durchsetzung einer
Volksabstimmung sind auch generell keine gute Politik. Besonders in solchen
Situationen wie auf der Krim ist es immer besser vernünftig zu handeln und eine
einvernehmliche Lösung des Problems anzustreben.
Ich denke, die Krimrussen
haben gute Gründe für ihren aktuellen Wunsch. Unabhängigkeitsbestrebung eines
Teils eines Landes (bzw. Abspaltung eines Landesteils und dessen Eingliederung
in ein anderes Land) ist nicht per se etwas Schlimmes. Wir haben schon gesehen,
dass die ehemalige Tschechoslowakei auf Wunsch der Slowaken ganz friedlich
geteilt wurde, und die zwei Teile leben seither ganz friedlich nebeneinander.
Wenn die Schotten demnächst per Referendum entscheiden, die Vereinigung mit
England und Wales aufzulösen, dann werden die Engländer diese Entscheidung auch
hinnehmen. Aber es wird dann bestimmt auch Streit geben, vor allem übers Teilen
des Nordseeöls.
Das Beispiel der Tschechoslowakei
sollte uns aber nicht dazu verleiten zu denken, dass eine friedliche Teilung
eines Landes immer und überall möglich sei. Die Geschichte der neueren Zeit lehrt
uns, dass ein solcher Versuch auch in einer Katastrophe enden kann. Es gibt
mehrere Beispiele dafür: Biafra (Nigeria), Katanga (die Demokratische Republik
Kongo), der tamilische nördliche Teil SriLankas. Auch dort, wo solche Versuche gelungen
sind – 1947 in Indien, 1971 in Pakistan, in den 1990er Jahren in ehemaligem
Jugoslawien, neulich im Sudan – ging der Prozess meist mit Krieg und großen
Massakern einher. Mir fällt keine andere Ausnahme als die Tschechoslowakei ein.
Während es leicht ist,
Sympathie für die Unabhängigkeits- bzw. Abspaltungsbestrebung eines Teils eines
Landes zu empfinden, ist es sehr schwierig einen schon etablierten Staat in zwei Teile aufzuteilen oder ganz aufzulösen
(wie im Falle von Jugoslawien). Denn es gibt heute in der Welt kaum ein
größeres Land oder einen größeren Landesteil, wo nicht verschiedene Ethnien
bzw. Volksgruppen stark vermischt leben. Ich habe einmal einen türkischen
Linken, Führer einer politischen Gruppe in Deutschland, gefragt, ob er die
Unabhängigkeitsbestrebung der türkischen Kurden unterstütze. Er sagte, Nein. Er
hätte nichts dagegen, wenn sich die kurdischen Gebiete von der Türkei abspalten
würden; aber dann müssten die Kurden auch Istanbul und Ankara verlassen. Wie
würde das wohl enden?
Ein ähnliches Problem gibt es
auch im indischen Teil von Kashmir. Von dem mehrheitlich von Muslimen bewohnten
Kashmir-Tal ist die dort früher eingesessene Hindu-Minderheit längst vertrieben
worden. Aber im Süden des Bundeslandes, in der Provinz Jammu, bilden die Hindus
die Mehrheit. Und im Norden leben buddhistische Ladakhis. Wenn die muslimischen
Einwohner des von Indien regierten Teils Kashmirs sagen würden, sie könnten
nicht in Indien leben, da es ein mehrheitlich hinduistisches Land ist, und wenn
es ihnen irgendwie gelänge, ihr Gebiet von Indien abzuspalten und in die Islamische
Republik Pakistan einzugliedern, dann könnten die Hindus im übrigen Indien der
dort verstreut lebenden Muslim-Minderheit sagen, ihr könnt auch nach Pakistan
gehen. Eine große, grausame Vertreibung der Muslime würde dann das Ergebnis
sein, die zweite nach 1947. Auch die kleinen Völker, die in kleinen Bundesländern
im Nordosten Indiens leben – die Nagas, die Mijos, die Manipuris – würden ein
großes Problem haben, wenn sie auf Unabhängigkeit pochen und dabei irgendwie
Erfolg haben würden. Die Mehrheit der Inder würden ihnen dann wohl sagen: wir
wollen ab jetzt nichts mit euch zu tun haben. Seht zu, wie ihr mit eurer Unabhängigkeit
ökonomisch zurechtkommt. Diese kleinen Bundesländer sind weit entfernt von
einer Meeresküste. Ohne Zusammenarbeit mit Indien, würden sie keinen
Außenhandel betreiben können und keine ausländischen Investitionen bekommen.
Geographie ist halt Teil des Schicksals.
Was ich mit all diesen
Beispielen sagen möchte, ist, dass es notwendig ist, jeden konkreten
Problemfall je nach Kontext und Konstellation zu beurteilen. Politische
Aktivisten wie wir haben eine Vision einer idealen zukünftigen Welt. Doch die
Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, sind Probleme der heutigen Welt. In dem
aktuellen konkreten Fall Ukraine-Krim, müssen wir bedenken, dass am Anfang das
ökonomische Problem des Landes im Vordergrund stand. Präsident Janukowitsch
entschied nach reichlicher Überlegung, dass für die Ukraine ökonomisch per
Saldo eine Assoziierung mit Russland vorteilhafter sei als eine mit der EU.
Nach manchen Kommentaren, die ich in den Medien (auch in den deutschen) gelesen
und gehört habe, war das Angebot der EU zu dürftig. In einer Situation, wo die
Ukraine fast pleite ist, wo das Land in diesem und dem nächsten Jahr zusammen 30
Milliarden Dollar braucht, um nur Insolvenz abzuwenden, bot die EU anfangs nur 800 Millionen Euro als
Soforthilfe an. Es lag auf der Hand, dass Russlands Hilfsangebot – 15
Milliarden Dollar Soforthilfe plus einen Rabatt von 33 Prozent bei Gaspreisen –
vergleichsweise viel günstiger war. Janukowitsch musste auch bedenken, dass für
die Industrien Russland ein großer Exportmarkt ist.
Der Präsident handelte wie
ein vernünftiger Vater, der seine Tochter, die Ukraine, mit einem reichen
Bräutigam vermählen wollte. Doch die Tochter (genauer gesagt, nur der westliche
Teil der Ukraine) war entschlossen, ihren Lieben, nämlich die EU, zu heiraten.
Es ist halt so, nicht alle Menschen handeln vernünftig, ökonomisch kalkulierend.
Es gibt Gefühle und Emotionen, und es gibt nationalen stolz, auch in der
Politik. Offensichtlich herrscht in der Westukraine einen Russenhass.
Geschichte ist schwer zu vergessen. Und es ist wahr, die Ukrainer haben unter
den Zaren und in der Stalin-Ära schwer gelitten. Trotzdem wäre es für die
Ukraine besser gewesen, wenn sie sich nicht von der EU abhängig gemacht hätte.
Die EU, die USA und der IWF werden ihr sicher die nötigen Rettungsdarlehen
geben, wie sie sie auch Griechenland gegeben haben. Aber unter den gleichen
Bedingungen, die Griechenland erfüllen muss. Der Staat wird vor der Pleite
gerettet werden. Aber die ukrainische Gesellschaft wird das gleiche tragische
Schicksal erleiden wie die griechische. Und sollten die Schulden einmal aus
geostrategischen Gründen gestrichen werden, würden die Ukrainer wohl die
gleichen Lebensverhältnisse „genießen“ wie die Bulgaren und die Rumänen,
besonders nachdem sie ihre Waren- und Arbeitsmärkte in Russland verloren haben.
Die Deutschen werden bald mit den Ukrainern genauso schlimm schimpfen wie sie
es schon seit ein paar Jahren mit den Griechen tun.
Die Krimrussen hingegen
handeln vernünftig; sie verlassen ein sinkendes Schiff. Die Ukraine ist pleite,
nicht aber Russland, das immer noch riesige Energievorkommen und andere
Ressourcen besitzt, deren Weltmarktpreise kontinuierlich steigen. Russland wird
die Kosten dieses seines geostrategischen Spiels leichter tragen können als die
EU. Die Ukraine sollte eigentlich die Krim gehen lassen. Die Halbinsel hat
keine wertvollen Bodenschätze und ist nicht Standort von wichtigen Industrien.
Die einzige Bedingung, die sie den Krimrussen auferlegen sollte, ist gleiche
Rechte und gleiche Behandlung der Tataren und der ethnischen Ukrainer.
Aus unserer Sicht, wäre es
viel besser, wenn der Streit zwischen den Großmächten einerseits und der
zwischen den ethnischen Ukrainern und ethnischen Russen friedlich und
einvernehmlich gelöst werden könnten. Denn schon jetzt sind alle anderen, dringenderen
Probleme Europas fast vergessen. Unsere Bewegungen für eine bessere Welt sind
um Jahre zurückgeworfen worden. Aber man kann dieser Krise auch etwas Positives
abgewinnen: Wenn die Ukrainer aufhören würden, über ihre Verhältnisse zu leben,
wenn die Westeuropäer und die Russen wegen des bevorstehenden Wirtschaftskriegs
mittels Sanktionen und Gaspreiserhöhungen eine leichte Rezession erlebten, dann
täte das der Umwelt gut.
Aber auch Russlands Ressourcen
werden eines Tages zur Neige gehen. Diese Krise erinnert mich wieder einmal an
ein Bild, das ich in der Ökologiebewegung mehrmals beschrieben bekommen habe: Ein
großes Blatt driftet auf dem Niagara-Fluss in der Richtung der Niagara-Fälle.
Auf dem Blatt driften einige Ameisen mit, die um die Macht kämpfen.