Montag, 29. September 2014

Haben die Schotten Richtig Entschieden?


In den drei Tagen zwischen dem 18.9. und dem 21.9. berichteten die Medien über zwei Großereignisse, die, zusammengenommen, einige neue Besorgnisse über die Lage der Welt erregen müssten.

Am 18.9. stimmten die Schotten über die Frage ab, ob ihr Land das Vereinigte Königreich (United Kingdom) verlassen und ein unabhängiger Staat werden sollte. Die Mehrheit der Wähler (55%) antwortete mit Nein. Die sog. Unionisten, also die Nein-Sager, jubelten zwar anfangs über den Ausgang des Referendums. Später aber meldeten viele von Ihnen Sorgen darüber. Denn es zeigte sich, dass eine sehr große Minderheit, 45 Prozent der Wähler, wollten, dass Schottland die Union verlässt. Das ist ein zu hoher Prozentsatz, als dass Business-As-Usual wiederkehren könnte.

In der Tat, kurz vor dem Referendum, nachdem eine Umfrage eine Mehrheit für die Ja-Sager vorausgesagt hatte, war die Regierung in London samt allen Führern der drei großen Parteien in Panik geraten. Es folgten dann große Reform- und Autonomieversprechungen zugunsten Schottlands. Denn der Austritt Schottlands aus der Union, so fürchteten auch die schottischen Unionisten, hätte unabsehbare negative wirtschaftliche sowie politische Folgen für alle Teile der Union.

Die Ja-Sager hatten keine solche Angst. Sie waren total zuversichtlich, dass ein unabhängiges Schottland wirtschaftlich nicht nur lebensfähig, sondern auch eine Erfolgsgeschichte sein würde. Darauf angesprochen, sagten sie, ein unabhängiges Schottland mit seinen nur 5,3 Millionen Einwohnern (in einer Gesamtbevölkerung von knapp 64 Millionen) wäre ein reiches Land. Der Hauptgrund dieser Zuversicht war das Nordseeöl. Etwa 90 Prozent der dem Vereinigten Königreich gehörenden Lagerstätten würden nämlich im Falle von Scheidung Schottland gehören.

Das andere Großereignis war ein weltweiter Aktionstag. Am 21.9. demonstrierten in über 150 Städten der Welt jeweils Tausende besorgte Menschen (in New York 300000), die damit die Staats- und Regierungschefs der Welt aufforderten, endlich für den Klimaschutz konkrete und effektive Maßnahmen zu treffen. Sogar UNO-Generalsekretär Ban Ki Moon, der die letzteren zu einer Beratung über den Klimaschutz nach New York eingeladen hatte, marschierte mit.

Wenig überzeugende Argumente

Was ich an den Unabhängigkeitsbemühungen der Schotten befremdend fand, war ihre Argumentation. Sie sagten nicht, dass sie von der englischen Mehrheit unterdrückt oder irgendwie benachteiligt würden. Die Gesetze des Landes galten ja gleichermaßen für alle seine Teilvölker – Engländer, Schotten, Waliser und Nordiren. Die Schotten genießen sogar schon seit mehreren Jahren eine gewisse Autonomie, haben sogar eine eigene Regierung. Sie sagten zwar, dass sie Schotten sind und keine Briten. Aber wie stark und wie verbreitet ist dieses Identitätsgefühl? Alle Schotten sprechen und schreiben Englisch als ihre Hauptsprache, Schottisch-Gälisch spricht nur noch 1 Prozent. Sie sind alle weiße (außer den Immigranten aus Südasien und Afrika), und sie sind alle Christen. Ein Mensch hat doch in der Regel mehrere Identitäten!

Man kann natürlich sagen, unabhängig sein wollen ist sowohl für Individuen als auch für ein Volk sehr menschlich. Ein enttäuschter Ja-Sager sagte nach dem Referendum, er könne es nicht verstehen, dass ein Volk seine Unabhängigkeit nicht will. Aber weder ein Individuum noch ein Volk kann in der Realität nur seinem Gefühl folgen. Alle müssen auch Vor- und Nachteile von möglichen Entscheidungen überlegen. Die Mehrheit der Schotten auf beiden Seiten haben das getan. Während der Kampagne haben die Unabhängigkeitsbefürworter immer wieder betont, Loslösung vom Vereinigten Königreich würde den Schotten keine wirtschaftlichen Nachteile bringen. Als die Nein-Sager das Argument ins Feld führten, dass das Ölreichtum nicht mehr lange halten würde, behaupteten die Ja-Sager einfach, es gebe in den Lagerstätten immer noch sehr viel Öl. Außerdem wollten sie aus praktischen Gründen nach der Unabhängigkeit sowohl das Pfund Sterling als ihre Währung benutzen als auch die britische Königin weiterhin als ihr Staatsoberhaupt fungieren lassen.

Den Reichtum nicht teilen wollen

Hinter einer Handlung kann es mehrere Motive geben. Einfach unabhängig sein wollen ist für die Schotten zweifellos ein starkes Motiv gewesen. Die von den englischen Torys dominierte Zentralregierung des Vereinigten Königreichs und ihre Politik, insbesondere ihre reichenfreundliche und armenfeindliche Wirtschaftspolitik, waren sowieso sehr unbeliebt gewesen in Schottland, wo die Labor-Partei sehr stark vertreten ist. So dachten viele Schotten, sie könnten für ihr Land eine bessere Politik verfolgen, wenn sie sich vom Vereinigten Königreich loslösten. Außerdem kann man die Geschichte nie ganz vergessen. Schottlands Vereinigung mit England vor 307 Jahren war keine freiwillige. Sie wurde durch eine militärische Niederlage erzwungen. Dennoch vermute ich, hier hat ein anderes Motiv die Hauptrolle gespielt. Wie oben erwähnt, denken die Unabhängigkeitsbefürworter, es gebe in den Öllagerstätten in ihrem Teil der Nordsee immer noch sehr viel Öl. Dieses Öl, das Einkommen davon, wollten sie nicht wie bisher mit den übrigen Briten teilen.

Den Reichtum nicht mehr mit den ärmeren Teilvölkern in demselben Staat teilen zu wollen, ist ein Motiv, das auch bei anderen (obwohl nicht bei allen) separatistischen Bewegungen die Hauptrolle spielt. Das funktioniert auch dort, wo Vorhandensein von Bodenschätzen keine Rolle spielt. So ist Katalonien auch ohne Öl und andere Naturschätze die wirtschaftsstärkste Provinz von Spanien. Obwohl es stimmt, dass die Katalanen eine eigene entwickelte Sprache haben und sie auch benutzen, und dass sie deshalb auch ein starkes katalanisches Identitätsgefühl an den Tag legen, dürfte den Reichtum nicht teilen wollen das unausgesprochene Hauptmotiv für ihre Unabhängigkeitsbewegung sein. Das kann man auch über den Separatismus der Flamen in Nord-Belgien, und den der Norditaliener sagen.

Ein überzeugendes Beispiel dafür, wie weit diese Art von Separatismus führen kann, ist die tragische, durch einen brutalen Bürgerkrieg erzwungene Auflösung des ehemaligen sozialistischen Bundesstaates Jugoslawien durch den selbstsüchtigen Separatismus der Slowenen und Kroaten. Misha Glenny, der britische Journalist und Balkanexperte, fasste 1992 ein diesbezügliches Gespräch mit Mate Babic, ehemaligem Vize-Premierminister der kroatischen Regierung, folgendermaßen zusammen:

„ [D]as Ungleichgewicht zwischen slowenischer Zivilisiertheit und dem Entwicklungsland-Status im Kosovo [konnte] nur durch massive staatliche Kontrolle über die Wirtschaft korrigiert werden. Dies schuf Ressentiment im wohlhabenden Norden, dessen Früchte der Produktivität ins staubige Klima des Südens geschafft wurden, wo sie in der Sonne verdarben. Noch dazu bildete sich ein tiefes Misstrauen zwischen Slowenien und Kroatien [auf der einen Seite], wo eine eifrigere Arbeitsmoral Tradition hatte, und [auf der anderen Seite] Serbien, dem Grenzgebiet zu den korrupten wirtschaftlichen Wertmaßstäben des Osmanischen Reiches. Auf Gedeih und Verderb mit der serbischen Wirtschaft verbunden zu sein, die anscheinend mit Lotusblättern angetrieben wird, beinhaltete eine schädliche Langzeitwirkung auf die Wirtschaft in Slowenien und Kroatien. Als sich der politische Zerfall in Jugoslawien in den Republiken beschleunigte, sorgten die wirtschaftlichen Spannungen dafür, dass sich das Misstrauen noch vertiefte.“ (Glenny 1993: 107).

Kooperation tut not, nicht Separation

Das ist aber eine sehr kurzsichtige Politik. Das Zeitalter des Öls geht allmählich aber sicher zu Ende. Die alten bekannten Lagerstätten von Öl und anderen wichtigen Rohstoffen erschöpfen sich rapide. Wer hat nicht von Peak Oil, Peak Everything, gehört? Mit der progressiven Verteuerung des Öls, dieses Hauptschmiermittels der Weltwirtschaft, verlieren auch die heute noch reichen Länder den Boden unter den Füßen. Das ist auch der Hauptgrund für die nun 6 Jahre währende Weltwirtschaftskrise bzw. -stagnation (siehe Sarkar 2012). Und selbst wenn das Zeitalter des Öls nicht bald zu Ende geht, muss der globale Verbrauch der fossilen Brennstoffe rapide gesenkt werden, um die Menschheit vor immer verheerenderen Klimakatastrophen zu schützen. Die Menschheit befindet sich so in einer Zangengriffkrise.

Eine Lösung dieser Krise ist nicht in Sicht. Ein internationaler Klimagipfel scheitert nach dem anderen. Und es ist völlig ungewiss, ob überhaupt und, wenn ja, zu welchem Umfang die sogenannten erneuerbaren Energiequellen eines Tages die nichterneuerbaren fossilen und nuklearen Energiequellen werden ersetzen können (siehe dazu Sarkar 2004).

In einer solchen Situation müssten die Völker der Welt eigentlich mehr zusammenrücken, miteinander kooperieren und gemeinsam eine Lösung der großen Probleme suchen. Die Bewegungen zur Auflösung bzw. Aufspaltung von bestehenden Staaten der Welt sind in dieser Situation eine sehr bedauernswerte und kritikwürdige Angelegenheit, zumal sie die Gefahr von bewaffneten Konflikten bergen. Die Teilvölker und die Minderheiten in solchen Staaten sollten eher für Gleichheit, Menschenrechte und Minderheitenrechte innerhalb des bestehenden Staatsgebildes kämpfen. Eine separatistische Bewegung kann m.E. nur dann seine Berechtigung haben, wenn das dominierende Teilvolk oder die Mehrheit eine rücksichtslose brutale Herrschaft über die anderen ausübt.

Es ist außerdem in Betracht zu ziehen, dass es im heutigen neoliberalen, globalisierten Kapitalismus die großen transnationalen Konzerne sind, die mit ihren weltweiten Bündnissen die mächtigsten Herrscher über die Menschheit sind. Es ist eine Binsenweisheit, dass die heutigen Staaten viel von ihrer einstigen Macht verloren haben. Sie sind eigentlich nicht mehr ganz souverän. Die Hauptgegner aller politischen Aktivisten, egal, was ihre jeweilige Sache auch immer ist, sind diese transnationalen Konzerne und ihre Bündnisse. In dieser Situation kann man sagen: je kleiner ein Staat ist, desto ohnmächtiger ist er, desto mehr ist er den Konzernen ausgeliefert, desto weniger souverän ist er, und desto mehr ist er zum Handlanger der Konzerne reduziert.

Ökosozialisten und ähnlich denkende Menschen wissen, dass langfristig die politischen und ökonomischen Angelegenheiten der Menschheit aus verschiedenen Gründen in kleinen, weitgehend autonomen Einheiten organisiert werden müssen. Doch so weit sind wir noch lange nicht. In der Übergangszeit bis zu unserem Ziel, müssen wir Stärke in Einheit suchen. Heute sind separatistische Bewegungen ausgesprochen kontraproduktiv. Sie lenken uns nur von unserem eigentlichen Ziel ab.

Literatur

Glenny, Misha (1993) Jugoslawien – der Krieg, der nach Europa kam. München: Knaur.

Sarkar, Saral (2004) Ökosozialismus oder Barbarei – eine zeitgemäße Kapitalismuskritik. Mainz,Köln: Initiative Ökosozialismus.

http://www.oekosozialismus.net/oekosoz_akt_05_2008_rz.pdf

Sarkar, Saral (2012) Die aktuelle Weltwirtschaftskrise verstehen – ein ökosozialistischer Ansatz. Mainz, Köln: Initiative Ökosozialismus

http://www.oekosozialismus.net/Weltwirtschaftskrise+verstehen+_Deutsch_.pdf