Unterwegs zum von Attac-Deutschland organisierten Kongress "Jenseits des Wachstums!?" in Berlin, wo ich an einer Podiumsdiskussion teilnahm, las ich einen Bericht in der SZ (20.5.11) über Protestaktionen in Spanien, die stark den Aktionen der ägyptischen Demokratiebewegung ähnelten. Der Kongress war schon seit etwa einem Jahr in Vorbereitung. Der Anlass dafür war die globale, vielseitige Finanz- und Wirtschaftskrise und die große Ökologiekrise mit der Klimakrise als der Spitze des Eisbergs. Aber auch die großen, teils gewalttätigen, Proteste in Athen und London wirkten als ein Hintergrund. Die Protestaktionen in Spanien, besonders die in Madrid, kamen jetzt dazu.
Der Untertitel des Kongresses lautete "Ökologische Gerechtigkeit, Soziale Rechte, Gutes Leben". Ich bekam nicht den Eindruck, dass sich die Kongressteilnehmer, inklusive der Organisatoren und der Referenten, des Widerspruchspotentials zwischen den im Titel und Untertitel benutzten Begriffen bewusst waren. Denn es stellt sich die Frage, ob die sozialen Rechte, die bis vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise in Westeuropa gültig waren, und das heutige westeuropäische Verständnis eines guten Lebens ohne weiteres mit dem Prinzip der ökologischer Gerechtigkeit vereinbar sind? Die Frage wurde aber auf dem Kongress gar nicht gestellt.
Der SZ-Reporter schreibt aus Madrid: es sind "gut bis exzellent ausgebildete Kinder des Bürgertums, 20-, 30-jährige Männer und Frauen…, die die Perspektivlosigkeit, die beruflichen Warteschleifen namens Praktika, die schlecht bezahlten Jobs, die unsicheren Renten" usw. beklagten. Er berichtet: "Viele der jungen Leute mit Hochschuldiplom fühlen sich mit ihren 600-Euro-Jobs längst als Sklaven. … Fast jeder zweite junge Spanier ist ohne Job." Eine solche Lage stellt die totale Negation des Traums eines guten Lebens dar, den die jungen Spanier in Madrid, aber auch junge Griechen, Briten und Deutsche, hegen.
Auf dem Kongress aber erzählte uns Frau Martinez aus Ecuador, dass dort sowohl die Regierung als auch die Mehrheit des Volkes ein im Regenwaldgebiet neu entdecktes Ölfeld nicht ausbeuten wollen –. um den Regenwald zu schützen und zur Begrenzung des CO2-Ausstoßes beizutragen. Wenn aber dieses Ölreichtum unausgebeutet einfach tief im Boden liegen bleibt, frustriert das natürlich viele exzellent ausgebildete, aber arbeitslose, junge Ecuadorianer. Die Idee der Regierung, dass der reiche Westen im Namen der ökologischen Gerechtigkeit Ecuador für diesen Verzicht finanziell kompensieren soll, war von Anfang an illusorisch. Würde der Westen diese Forderung (und andere ähnliche) erfüllen, hätte er noch weniger Mittel für die Erfüllung der Träume der Jugend in Madrid, Athen und London.
Die Formulierung "jenseits des Wachstums" ist ziemlich vage. Es klingt, als bestünde ein Konsens darüber, dass es Grenzen des Wachstums gibt und dass diese schon erreicht oder gar überschritten sind. So einfach war es aber auf dem Kongress nicht. Auf den Veranstaltungen, bei denen ich anwesend war, wurde häufig die Meinung vertreten, dass es möglich sei, dank weiterem, umweltfreundlichem technologischem Fortschritt diese Grenzen nach oben zu verschieben. Oder man sagte, während einige Branchen schrumpfen müssten, müssten andere wachsen. Zur Begründung wurde zum einen die Überzeugung geäußert, dass durch Effizienzsteigerung Wirtschaftswachstum vom Ressourcenverbrauch entkoppelt werden könne, so dass während die Wirtschaft weiterhin wachse, der absolute Ressourcenverbrauch sinke. Zum anderen ging man fest davon aus, dass in drei bis vier Jahrzehnten der gesamte Energiebedarf Deutschlands, gar der Welt, durch erneuerbare Energien gedeckt werden würde.
Um solche illusorischen Glaubensbekenntnisse zu hören, hätte man nicht zu diesem Kongress fahren müssen. Man hört und liest so was fast jeden zweiten Tag – besonders von Parteien, aber auch von großen Umweltverbänden. Der Haupttitel des Kongresses aber ließ einen denken, dass man da nach einer neuen, einer anderen Wirtschaftsform oder -richtung suchen will, weil weiteres Wirtschaftswachstum unmöglich geworden ist – nicht zuletzt wegen seiner hohen ökologischen Kosten –, weil gar eine Schrumpfung absolut notwendig geworden ist. Diese letzte Meinung wurde zwar auch von zwei Referenten geäußert. Aber ich bekam nicht den Eindruck, dass sie ernst genommen wurde.
Der Kongress litt an einer Schwäche: nämlich, er wurde von etablierten partei- und gewerkschaftsnahen Stiftungen gesponsert. Deren Vertreter sowie Vertreter von großen, etablierten Umweltorganisationen mussten halt die Positionen ihrer Partei bzw. Organisation vertreten. Diese glauben bekanntlich immer noch fest an die Möglichkeit eines nachhaltigen Wachstums. Ralf Füchs von der Grün-nahen Heinrich-Böll-Stiftung meinte sogar, es würde bis 2050 möglich sein, dass die 9 Milliarden Menschen, die dann in der Welt leben würden, etwa den gleichen, aber bis dahin nachhaltigen, Wohlstand genießen würden wie die Westler. Ich halte eine solche Hoffnung für lächerlich und auch gefährlich.
Bei solchen hoch optimistischen Zukunftsszenarien erübrigt sich natürlich die Frage, ob eine Überwindung des Kapitalismus notwendig ist. Zwei Referenten, die für eine Schrumpfung der hoch entwickelten Wirtschaften plädierten, bzw. sie für unvermeidlich hielten, meinten, für einen solchen Prozess sei eine Art Sozialismus notwendig. Viele thematisierten die Frage gar nicht, viele wichen ihr aus. Einige andere redeten einer "solidarischen Ökonomie" das Wort, wobei unklar bleibt, ob eine solche Ökonomie nur ein Sektor innerhalb einer kapitalistischen Volkswirtschaft sein soll oder mehr.
Der Madrider SZ-Reporter zitiert aus einem Plakat: "Wenn ihr uns nicht träumen lässt, bringen wir euch um den Schlaf." Aber die herrschende Klasse und ihre Parteien brauchen keine Angst zu haben. Denn "die Empörten", wie sich die Demonstranten dort nennen, sind nur empört, sie sind keine Systemveränderer. Auf einem anderen Plakat steht: "Wir sind keine Systemfeinde – das System ist uns gegenüber feindlich." So ist es, leider.