Politische Entwicklungen in Bolivien habe ich schon in zwei meiner Blog-Texte thematisiert. Das Land ist zurzeit nicht nur für die Linken interessant – d.h. nicht nur wegen der Bemühungen der derzeitigen Führung, dort einen "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" aufzubauen – sondern auch für Umweltschützer, weil seine mehrheitlich indianische Führung ein ziemlich ungewöhnliches Verständnis der Ökologieproblematik zu haben scheint.
Evo Morales und seine Genossen haben den alten Pachamama-Kult der Hochland-Indianer wieder belebt und zu einem Politikum entwickelt. Es gibt in Bolivien seit einiger Zeit ein "Gesetz der Mutter Erde". Für die Aymara und Quetschua ist die Mutter Erde eine, "Pachamama" genannte, Göttin, der das Leben entspringt. In dem Gesetz, das auch ein Teil der Verfassung ist, werden Mensch und Natur gleichgestellt. Nach Morales "sind die Rechte der Mutter Erde sogar wichtiger als die Menschenrechte" (zit. nach Peter Burghardt, SZ., 27.04.2011). Dieses Gesetz und diese Worte von Morales haben zunächst wohl nur einen symbolischen Wert. Sie symbolisieren die Absicht seiner Partei "Bewegung zum Sozialismus", einem ökologischen Sozialismus Bahn zu brechen.
Auch andere Leute und Parteien hatten sehr viel früher als Morales und seine Genossen den Begriff ökologischen Sozialismus (oder Ökosozialismus) auf ihre Fahne geschrieben. Ich erinnere mich dabei an einen 1982 in Bielefeld von diversen Linken, Grünen und Ökos abgehaltenen Kongress über das Thema Umwelt und Arbeit. Ich erinnere mich an einen Kongress der SPD in den 1980er Jahren und an mehrere in Deutschland veröffentlichte Bücher über dieses Thema. Doch da war nichts ernst gemeint. Was sie alle meinten, war nur etwas mehr Umweltschutz im gegebenen Rahmen einer hoch entwickelten Industriegesellschaft: Wachstum sollte nachhaltiges Wachstum sein. Für richtige Linke sollte diese Industriegesellschaft und diese Art von Wachstum eine sozialistische Prägung haben. Um die Idee den von Arbeitslosigkeit bedrohten Menschen schmackhaft zu machen, wurde immer wieder behauptet, Umweltschutz würde Tausende von neuen Arbeitsplätzen schaffen. Das war alles. Keine Rede von der Gleichstellung von Mensch und Natur, von gleichen Rechten für beide.
Wenn aber die bolivianische Führung die oben zitierte Aussage von Morales ernst meint, wenn sie die sich selbst gestellte Aufgabe ernst nimmt, die Natur vor der Zivilisation zu schützen, dann müsste sie darauf drängen, dass sich die Menschheit von weiten Teilen der zurzeit von ihr fast total besetzten Erde zurückzieht, sie wieder zur Wildnis werden lässt, große Areale von Wäldern, Savannen, Flüssen, Sumpfgebieten usw. so lässt, wie sie momentan sind, ihre eigene Zahl erheblich reduziert und, im Allgemeinen, alle Arten von Wirtschaftswachstum stoppt. Sie müsste der Menschheit knallhart sagen, dass die Erde nicht allein für Menschen da ist, dass auch die anderen Arten – Pflanzen und Tiere, sogar Insekten – Kinder der Pachamama sind, dass auch sie ein Recht auf genügenden Lebensraum haben.
Eigentlich ist dieser letzte Gedanke in den Zielformulierungen Artenschutz und Erhalt der Biodiversität enthalten. Doch wie schlecht es zurzeit mit diesen Zielen bestellt ist, brauche ich meinen Lesern nicht zu erzählen. Schuld daran sind, allgemein gesagt, die wachsende Population unserer eigenen Spezies und unsere wachsenden Wirtschaften. Diese zwei Faktoren sind es, die es notwendig machen, dass wir Menschen immer größere Teile der Erdoberfläche für uns erobern. Zwar läuft dieser Prozess seit dem Neolithikum, seit Beginn der Industriellen Revolution aber hat er sich sehr beschleunigt. Schon in den 1960er Jahren drehte ein Naturfreund einen Film, dem er den Titel gab "No Room for Wild Animals" (kein Raum für wilde Tiere).
Aber gerade die Linken – zumindest die große Mehrzahl von ihnen, die ja mit der bolivianischen Führung sympathisieren – wollen nichts von all dem hören. Den Begriff Wirtschaftswachstum haben sie nur durch taktisch kluge und wohl klingende Begriffe ersetzt: nachhaltiges Wachstum, qualitatives Wachstum, selektives Wachstum, grünes New Deal usw. Und Leute, die die Anzahl von Menschen auf der Erde für zu hoch halten, werden von ihnen pauschal als Rechte beschimpft. Vor etwa drei Monaten hatte ich mit einem alten linken Freund ein Gespräch über dieses Thema. Er meinte, die Weltbevölkerung werde bis 2050 bei 9 Milliarden peaken (d.h. aufhören, weiter zu wachsen), und diese Anzahl von Menschen könnten problemlos ernährt/versorgt werden. Die Frage, wie viel Lebensraum dann noch für andere Arten übrig bliebe, konnte ich nicht stellen. Der Freund musste gleich gehen. Keine Zeit für politisch unkorrekte Fragen.
Eigentlich sind Rechte der Natur und nichtmenschlichen Lebens keine Erfindung der bolivianischen Führung. Auf der Grundlage der jahrzehntelangen Naturschutzbewegung in Europa und den USA formulierten in den 1980er Jahren Denker wie Arne Naess, Bill Devall und George Sessions eine philosophische Position, die sie Deep Ecology (Tiefenökologie) nannten. Das erste und wichtigste der acht Grundprinzipien ihrer "Tiefenökologie-Plattform" lautet: "Das Wohlbefinden und Blühen des menschlichen und nichtmenschlichen Lebens auf der Erde haben einen Wert aus sich selbst heraus (intrinsischen, inhärenten Wert). Diese Werte sind unabhängig von der Nützlichkeit der nichtmenschlichen Welt für menschliche Zwecke."
Die Tiefenökologen unterscheiden zwischen ihrer Position und der der großen Mehrheit der Umweltschützer, die sagen, der Mensch brauche Umweltschutz, der auch wirtschaftlich nützlich sei, weil dadurch viele Arbeitsplätze bei der Umweltschutztechnologie geschaffen werden könnte. Diese Haltung nennen sie shallow ecology (seichte Ökologie).
Morales und seine Genossen wussten wohl kaum etwas von deep ecology. Diese Ökophilosophie ist sogar in den intellektuellen Kreisen Deutschlands relativ unbekannt. Es ist ein großes Verdienst der Bolivianer, dass sie ihre Kombination von Tiefenökologie und Sozialismus (ihre Version des Ökosozialismus) in unser Bewusstsein gerückt haben. Ich wünsche ihnen auch in der Praxis viel Erfolg und den Mut, den vielen Widerständen zu trotzen.
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