Von der jüngsten weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise hat sich die Welt immer noch nicht erholt. Deutschland ist ein Ausnahmefall. Dreieinhalb Jahre Krise; das ist außergewöhnlich lang. Zwar dauerte die Große Depression der 1930er Jahre ein ganzes Jahrzehnt, bis der Zweite Weltkrieg sie beendete. In den folgenden dreißig Jahren aber – dank hauptsächlich dem Kriegskeynesianismus, der eine neue große Depression verhinderte – meinten alle Ökonomen, sie hätten genug über die Geheimnisse und Prinzipien der kapitalistischen Wirtschaftsdynamik gelernt, um sagen zu dürfen, dass es keine große Krise mehr geben würde.
Die gegenwärtige Krise aber will nicht enden. Die Staatsverschuldungskrise hat die Banken- und Finanzkrise von 2008–2009 abgelöst. Griechenland steht vor dem Bankrott. Wenn es pleite geht, gehen wahrscheinlich auch Irland, Island, Portugal und Spanien pleite. In Großbritannien, Italien, den USA usw. ist die Erholung sehr schwach. In den USA ist die offizielle Arbeitslosigkeit immer noch höher als 9%. Zudem droht da wieder eine Dot-com-Blase zu entstehen. Die US-Bundesregierung kann im August dieses Jahres zahlungsunfähig werden, wenn nicht die gesetzliche Schuldenobergrenze nach oben verschoben wird. In vielen großen Privatbanken – seit kurzem selbst in der Europäischen Zentralbank – schlummern große Mengen von wertlosen Wertpapieren.
Man kennt solche Fakten. Doch was ist die Erklärung für eine solche Faktenlage? Warum ist es so schwierig, Griechenland mit noch ein paar hundert Milliarden Euro Kredit aus der Krise zu helfen. Warum tut sich der US-Kongress so schwer, die Schuldenobergrenze des Bundes nach oben zu verschieben? Warum denken die Regierenden in den oben genannten Problemländern, rabiate Sparmaßnahmen durchsetzen zu müssen, um die Schuldenlast in den Griff zu bekommen, wodurch sie ja garantiert die Erholung verhindern? Warum tut das auch die spanische Regierung, trotz der offiziellen Arbeitslosigkeitsrate von 21%? Warum schweigen momentan alle Keynesianer, wo doch 2008–2009 gerade weltweite große keynesianische Konjunkturprogramme eine neue große Depression abwenden konnten?
Hier hilft ein Blick auf Asien. Die zwei großen Wirtschaftsmächte, China und Indien, die ja stolz darauf waren, dass die schwere Krise von 2008–2009 ihnen nichts anhaben konnten, leiden jetzt an hoher Inflation, die mit ihren hohen Wachstumsraten von jährlich 8 bis 10 Prozent zusammenhängt. In beiden Ländern verursacht die Inflation Rückgang des Realeinkommens, d.h. der Kaufkraft, der Bevölkerungsmehrheit. Die Regierenden fürchten große Unruhen. In Indien gab es schon Massendemonstrationen. Darum versuchen die Regierenden der beiden Länder das Wirtschaftswachstum zu bremsen, um die Inflation zu kontrollieren. Sogar die Europäische Zentralbank hat schon signalisiert, dass sie zum selben Zweck bald den Leitzinssatz erhöhen würde.
Den Zusammenhang zwischen Wirtschaftswachstum und Inflation müssen wir verstehen. Solange in der Welt riesige Mengen von leicht zugänglichen und kostengünstig abbaubaren bzw. extrahierbaren Ressourcen vorhanden waren, konnte Wirtschaftswachstum problemlos vorangetrieben werden. In einer solchen Lage hing Inflation in der Regel mit übermäßigen Lohnforderungen der Arbeiterklasse zusammen. Heutzutage ist das aber kein maßgeblicher Faktor. Wie wir wissen, sinkt seit etlichen Jahren überall das Realeinkommen der abhängig arbeitenden Menschen. Heute sind der maßgebliche Grund für Inflation die seit schon einigen Jahren steigenden Preise der vom Volk und der Wirtschaft benötigten Gütern und Ressourcen: Lebensmittelpreise, Energiepreise, Preise von Industriemetallen, Preise von Kunstdüngern etc. Sogar Preise vom Metallschrott steigen. Heutzutage werden in Deutschland sogar stillgelegte Bahngleise, Stromkabel, Regenwasserrohre gestohlen. Diese Lage lässt sich mit einem Begriff zusammenfassen: die Grenzen des Wachstums, die schon sehr spürbar geworden sind. Wenn in einer solchen Lage der Staat versucht, mittels Schuldenmachen die Konjunktur anzukurbeln oder die Routine-Staatsaufgaben zu finanzieren, dann ergibt sich nur Inflation.
Dabei ist auch inzwischen, was den Wohlstand betrifft, die Aussagekraft des Bruttoinlandprodukts (BIP) als ziemlich gering erkannt worden. Es gibt schon mehrere, sogar hoch offizielle, Versuche, neue, überzeugendere Kriterien für die Messung des Wohlstands zu erarbeiten. Es wird gefordert, dass durch Naturzerstörung erzielte Erträge sowie defensive und kompensatorische Ausgaben als Kosten und nicht mehr als Einkommen gebucht werden.
Vor diesem Hintergrund muss man die zahlreichen Protest-Demos in vielen Ländern als bloße Abwehrkämpfe verstehen. So versteht man auch die zerstörerische Wut der jungen Leute in London und Athen besser. Wenn aber die Grenzen des Wachstums erreicht sind, wenn aber trotzdem eine Minderheit des Volkes versucht, immer mehr von dem Nationaleinkommen an sich zu reißen, dann kann sie das nur auf Kosten der Mehrheit tun. Die "Empörten", wie sich heutzutage die jungen Protestierenden in Europa nennen, verstehen leider diese Zusammenhänge nicht. Sie verstehen nicht, dass die Menschheit als Ganzes nicht länger "über ihre Verhältnisse", mit anderen Worten, über die Tragfähigkeit der Erde, leben kann. Ein Volk könnte das, aber nur wenn es andere Völker ausbeutet. In Indien mag die genannte Minderheit 200 Millionen stark sein, in China vielleicht 300–400 Millionen. Aber verglichen zu der Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes sind sie immer noch eine Minderheit.
Wenn man da auch bedenkt, dass in Indien und China kein nennenswerter Sozialstaat existiert, dass der Staat gegen die Proteste der Armen mit brutaler, oft tödlicher, Gewalt vorgeht, dann versteht man auch die gewaltsamen Kämpfe der Ausgebeuteten und Unterdrückten in diesen Ländern. In Indien schwelt seit Jahren ein bewaffneter Kampf der von den Maoisten geführten Ureinwohner gegen den Staat und Industrie- und Bergbaukonzerne. In China gibt es seit Jahren regelmäßig gewaltsame Unruhen auf dem Land. Neulich explodierten dort Autobomben vor Regierungsgebäuden, und einmal eine Benzinbombe in einer Bank.
Oft sind die Auslöser der Proteste, die Polizeibrutalität nach sich ziehen, Enteignung von Acker- oder Weideland zugunsten von Straßen- oder Industrie- oder Bergbauprojekten. Die Betroffenen sind nicht bereit, ihr Land herzugeben, selbst wenn ihnen dafür eine Entschädigung angeboten wird. Von ihrem Land können sie leben, sagen sie, nicht aber von einer einmaligen Entschädigungszahlung.
Die allgemeine Erklärung für die heutige missliche Lage in der Welt ist: die Erde kann uns nicht mehr soviel geben, wie wir von ihr haben wollen.