Im Januar dieses Jahres begann ich mit dieser Serie von Kommentartexten. Vielleicht darf ich jetzt, Ende Dezember, versuchen, summarisch zu zeigen, in welcher Richtung sich die Menschheit in den zwölf Monaten voller mehr oder weniger weltbewegenden Ereignissen entwickelt hat, was klar geworden ist und was für Schlüsse wir daraus für die Zukunft schließen müssen.
Beginnen wir mit einer knappen Skizze der Lage bei der materiellen Basis. Danach gehen wir zum politischen Überbau über. Es ist klar geworden, dass die gegenwärtige Weltwirtschaftskrise keine vorübergehende Sache ist, wie es die früheren Wirtschaftskrisen waren. Sie begann 2007, und noch signalisiert kein Licht das Ende des Tunnels. Die Schuldenkrise in Europa entzieht sich jeder Lösungsidee. Wenn die Staaten eisern sparen, vertieft sich die Rezession, und dann gibt es noch weniger Steuereinnahmen. Wenn sie die Konjunktur ankurbeln wollten, müssten sie noch mehr Geld leihen, das ihnen Investoren nicht geben wollen, oder nur zu viel höheren Zinssätzen als früher. Neue Schulden zu erhöhten Zinssätzen machen, um alte Schulden zu bedienen, vergrößert nur die Schuldenlast, kurbelt die Konjunktur nicht an.
Madame Lagarde, Chefin des IWF, hat uns neulich in dieser Sache reinen Wein eingeschenkt: "Der Ausblick auf die Weltwirtschaft ist im Augenblick … ziemlich düster". Sie fürchte eine neue große Depression wie in den 1930er Jahren (SZ, 17.12.2011). "The Party is Over", lautet der Titel einer geplanten BBC-Sendung über die wirtschaftliche Lage in Europa. Außer in Deutschland steigt fast überall die offizielle Arbeitslosigkeit, oder sie verharrt auf hohem Niveau. In Spanien beträgt sie 23 Prozent, bei jungen Leuten über 40%. Der Jobmarkt wird zunehmend zu einem Prekariatsmarkt. Nach der US-Statistikbehöde können 48% der US-Amerikaner als arm gelten. Das reale Durchschnittseinkommen aller US-Familien ist seit 2007 um 6,7% gesunken (JW. 20.12.11). Die zwei ehemaligen Lokomotiven, die die Weltwirtschaft aus der Krise ziehen sollten, China und Indien, verlieren an Zugkraft.
Die Rohstoffe werden immer knapper. Ihre Preise steigen weiter oder bleiben trotz Stagnation oder gar Rezession in der Weltwirtschaft hoch. Frau Merkel reist höchstpersönlich sogar in die Mongolei auf der Suche nach sicheren Rohstoffquellen für die deutsche Industrie. Und Bergbauingenieure bohren nach vielen Jahrzehnten wieder im Erzgebirge, um minderwertige Zinnerz zu fördern.
Was die Lage der Umwelt betrifft, sehen alle schwarz. Die UN-Klimakonferenz in Durban ist gescheitert, weil kein Staat den erreichten Wohlstand bzw. das Recht auf nachholende Entwicklung aufgeben wollte. Verbindliche Beschlüsse zum Klimaschutz sind bis 2020 aufgeschoben worden. Vattenfall musste wegen Widerstand der Bevölkerung ein Versuchsprojekt, CO² in unterirdischen Hohlräumen zu speichern, fallenlassen. Die Solarmodulindustrie in westlichen Industrieländern leidet gerade unter einer Krise. Obama wird demnächst die Forderung der Republikaner akzeptieren müssen, die Pipeline "Keystone XL" bauen zu lassen, die Öl (einschließlich des Öls aus Ölsand) von Kanada bis zu den Raffinerien am Golf von Mexiko transportieren soll.
Gerade in einer solch schlechten Lage der materiellen Basis begannen die Araber ihre demokratische Revolution. Und in Europa und den USA begannen die Occupy-Bewegung der Empörten und die teils gewalttätigen Protestdemos der Wütenden gegen die Sparpolitik ihrer jeweiligen Regierung.
Der Spruch "zuerst kommt das Fressen, dann die Moral" hat leider immer noch seine Gültigkeit. Die Occupy-Bewegten in den USA und Europa und die gewalttätigen Protestierenden in Athen und London wollen hauptsächlich eines: Sie wollen ihren bis 2007 gewohnten Lebensstandard zurückgewinnen bzw. sich einen höheren Anteil an dem schrumpfenden Kuchen sichern, als den, den die Regierung ihnen geben will. Beim Arabischen Frühling hingegen schien es anfangs anders zu sein. Die Hunderttausende, die in Tunesien und Ägypten gegen die Diktatoren kämpften, forderten scheinbar hauptsächlich Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und freie Wahlen.
In beiden Ländern haben inzwischen freie Wahlen stattgefunden. Gewonnen haben aber nicht die Kämpfer der demokratischen Revolution, sondern die Islamisten. Nach dem anfänglichen Schock fanden die enttäuschten jungen Revolutionäre auch Erklärungen. Einer von ihnen sagte: "Wähler haben das Gefühl, dass säkulare Parteien in der Vergangenheit korrumpiert waren und dass sie den Lebensstandard nicht erhöht haben. … Der Preis von Zucker, der Preis von Reis – das ist, was die Wähler interessiert." In einem anderen Bericht liest man: in Ägypten hatte es zwischen 2006 und 2008 viele Streiks und Proteste von Fabrikarbeitern gegeben. Es gab 2008 sogar einen Generalstreik. Als der Aufstand begann, waren die Forderungen grundsätzlich: "Ein Ende der Korruption und der Polizeibrutalität, unabhängige Justiz, bezahlbare Lebensmittel, bessere Krankenversorgung, höhere Löhne."
Bei solchen Forderungen wundert es niemand, dass die Islamisten bei den Wahlen gewonnen haben. Denn, wie ein junger Revolutionär sagte: "Die Leute denken, wenn die Kandidaten gottesfürchtig sind, werden sie kein Schmiergeld annehmen." Und, wie ein amerikanischer Reporter schrieb, "Der erste Schlüssel zum Erfolg der [Muslim-]Bruderschaft: ihre Büros sind Sozialhilfeagenturen: Bürger kamen vorbei, um sich Decken für den Winter zu erbitten, und die Partei teilte sie aus. … Mehrere Leute baten um Hilfe bei Bezahlung einer Arztrechnung. und sie bekamen sie." Eine freiberufliche Akademikerin sagte: "Salafisten sind gut für Frauen, weil sie bedürftigen Frauen helfen." Die Säkularen/Demokraten waren nie so hilfreich.
Das alles erklärt wohl nur den aktuellen Wahlerfolg der Islamisten. Wie ist aber die langfristige Aussicht? Ein junger Revolutionär sagte: "Sie verteilen Fleisch und Kohle. Aber das ist noch kein Programm. Durchs Frommsein allein schaffst du noch keine Arbeitsplätze." Das ist sehr richtig. Er sagte zuversichtlich: "Langfristig werden sich die Demokraten durchsetzen." Da habe ich meinen Zweifel.
In einer Zeit, in der die Party vorbei ist, in der wohl eine lange große Depression beginnt, werden es weder die Säkularen/Demokraten noch die Islamisten schaffen, die steigenden materiellen Ansprüche einer wachsenden Bevölkerung zu erfüllen. Die Islamisten haben aber den Säkularen/Demokraten gegenüber einen großen Vorteil in punkto Glaubwürdigkeit. Ihr eigentliches Ziel, das sie nicht verheimlichen, ist ein "Gottesstaat", nicht Wohlstand für alle. Die Zukunftsvision der säkularen, Laptop und Handy swingenden Facebook-Demokraten ist zu sehr von Wohlstand-für-alle abhängig. Ayatollah Khomeini sagte einmal, als die Euphorie über die islamische Revolution im Iran abflaute: "Wir haben die Revolution nicht gemacht, damit die Wassermelonen billiger werden". Und das Ideal der Salafisten ist es, das Leben nach dem Vorbild des Propheten Mohammed zu gestalten. Eine konkurrenzfähige alternative Vision seitens der säkularen/Demokraten wäre eine bescheidene und egalitäre, ökologische und sozialistische Gesellschaft.
Ich wünsche ihnen fürs neue Jahr den Mut zu dieser Alternative.