In einem früheren Blog-Text (29.04.2012) habe ich kritisch über ein Memorandum von über 100 Wirtschaftswissenschaftlern berichtet, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wirtschfts- und Finanzkrise von einer Krise ihrer Wissenschaft redeten. Inzwischen hat die erstere Krise zu einem großen öffentlichen Streit unter den deutschen Wirtschaftswissenschaftlern geführt. Es geht dabei um die beste Politik für die Rettung des Euro und für die Überwindung der Krise in der Eurozone. Aber da ist guter Rat teuer Einen Streit über die richtige Politik in der Krise gibt es auch in den USA. Aber in Deutschland tobt er zur Zeit am heftigsten. 190 Wirtschaftswissenschaftler haben die jüngsten Entscheidungen der deutschen Bundesregierung bezüglich der Eurokrise heftig kritisiert. Und etliche andere haben ihren Kritiker-Kollegen widersprochen – teils mit scharfen Worten (z.B. "beschämend"). All das macht es notwendig, zum Thema Krise der Wirtschaftswissenschaft noch etwas zu sagen.
Warum haben es die Wirtschaftswissenschaftler so schwer? Die Naturwissenschaftler – zum Beispiel Physiker und Astronomen – sind nie zerstritten. Ihre Streite sind meist nur Wissenschaftsstreite über unterschiedliche Erklärungen für beobachtete Phänomene. Sie werden über kurz oder lang entschieden. Auf der Praxisebene schafften sie es sogar, auf der Grundlage ihres Wissens, Menschen mehrere Mondlandungen zu ermöglichen. Aber die Wirtschaftswissenschaftler haben es immer noch nicht geschafft, die Menschheit von der Plage regelmäßig wiederkehrender Krisen zu befreien. Bundestagspräsident Norbert Lammert stellte neulich fest "Von allen denkbaren Verfahren in der Bewältigung dieser Krise … ist das am wenigsten taugliche die Umsetzung von Expertenempfehlungen gewesen" (SZ, 9.7.12) Woran liegt es? Kann es sein, dass, was die praktische Relevanz betrifft, die Wirtschaftswissenschaft, im Unterschied zur Wirtschaftsstatistik, eigentlich keine allzu ernstzunehmende Wissenschaft ist?
Als ich in Indien Student war, wurde das Fach sowohl "political economy" als auch "economics" genannt. Auf Deutsch hieß es "politische Ökonomie", "Nationalökonomie" oder "Volkswirtschaftslehre". Die Vokabeln "politisch", "national" und "Volk" deuteten klar an, dass das Fach zu den Sozialwissenschaften gehörte, dass es keine exakte, etwa mit Physik vergleichbare Wissenschaft war. Damit waren die Wirtschaftswissenschaftler aber nicht zufrieden. Sie versuchten sehr früh, ihre Wissenschaft in die Nähe der Naturwissenschaften zu bringen und ihr universelle Gültigkeit beizumessen. Schon Prof. Marshall sprach von "hoher und transzendentaler Universalität" der Grundprinzipien der Ökonomik. Er behauptete, diese wären auch in "anderen Welten als der unsrigen" relevant – Welten, in denen es keinen Reichtum im gewöhnlichen Sinne gibt. Und Prof. Samuelson war überzeugt, dass das Model eines rational wirtschaftenden Homo Oeconomicus sogar in einer Kolonie von Bienen seine Gültigkeit hat. (1)
Sie führten neue Bezeichnungen ein: "economics", "Ökonomik" (wie physics, Physik), "Wirtschaftswissenschaft", "economic science". Sie begannen sich anders zu bezeichnen: "economist" (statt "political economist"), "Ökonom" (wie Astronom, statt "Nationalökonom" oder "Volkswirt"). Diese Bezeichnungen erweckten den Eindruck, das Fach sei eine richtige, exakte Wissenschaft wie z.B. Physik, Mathematik, Mechanik oder Astronomie. Die hochgradige Mathematisierung des Faches half dabei kräftig, verlieh ihm die Aura der exakten Naturwissenschaften. Es wurde später auch noch ein "Nobelpreis" dafür geschaffen. So konnten die Ökonomen bis vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise glauben und uns glauben machen, dass dank ihrer Wissenschaft eine ernsthafte große Wirtschaftskrise nicht mehr möglich sei. Aber schon die Stagflation der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, die große Asienkrise von 1997-1998, der Wirtschaftszusammenbruch in Argentinien im Jahre 2001 und einige andere mittelschwere Krisen hatten die Ökonomen blamiert, bevor 2008 ihre Wissenschaft in die gegenwärtige Krise geriet.
Es liegt auf der Hand, dass der genannte Versuch der Wirtschaftswissenschaftler nicht ganz gelingen konnte. Anders als Atome, Moleküle und Himmelskörper, können sich wirtschaftende Menschen unberechenbar verhalten. Menschliche Faktoren wie Erwartung, Optimismus, Pessimismus, Angst, Panik, Herdentrieb, kurz Psychologie, spielen im Wirtschaftsgeschehen sehr wichtige Rollen. Darum ist ja Ökonomik eine Sozial- oder Humanwissenschaft.
Aber sie ist nicht nur das. Sie hat auch sehr viel mit Sachen zu tun, die in den Bereich der Naturwissenschaften fallen. Das Wirtschaften – Produktion, Konsumption und Handel – erfordert Sammeln, Verbrauch und Gebrauch von Rohstoffen bzw. Naturkräften. Es ist diese Tatsache – nicht ihre Mathematisierung und die Einführung von modischen Bezeichnungen –, die es erlaubt, die Ökonomik in die Nähe der Naturwissenschaften zu bringen, nämlich in die Nähe der Geologie, Mineralogie, Geographie, Chemie, Industriechemie, Metallurgie, Ingenieurwissenschaften, Biologie, Agrarwissenschaft, Meteorologie usw. Das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags, zum Beispiel, gilt sicher auch für eine Gesellschaft von Bienen.
Vor über zwei hundert Jahren hatte Malthus politische Ökonomie schon mit der Agrarwissenschaft und Demographie in Verbindung gebracht. 1966 beschrieb Kenneth Boulding den Unterschied zwischen der Raumschiffökonomie und der Cowboy-Ökonomie. 1971 erklärte Nicholas Georgescu-Roegen die Relevanz des Entropiegesetzes für den Wirtschaftsprozess. Und 1972 zeigte der Meadows-Bericht, warum es eine natürliche Grenze des Wirtschaftswachstums geben muss. Diese Arbeiten summierten sich zu einer Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Ökonomik: von dem Wachstumsparadigma zu dem Grenzen-des-Wachstums-Paradigma (wie ich es nenne). Aber das Gros der Wirtschaftswissenschaftler haben diesen Paradigmenwechsel immer noch nicht vollzogen.
Eigentlich kann man die Ökonomik sehr gut mit einer Naturwissenschaft vergleichen, nämlich mit der Meteorologie. In den beiden Wissenschaften ist es sehr schwierig, zukünftiges Geschehen zu prognostizieren. Im Falle der Meteorologie kann eine plötzliche Eruption auf der Sonnenoberfläche (oder, nach einem berühmten Witz, ein Flügelschlag eines Schmetterlings im Golf von Bengalen) die ganze Wettervorhersage der Meteorologen durcheinander bringen. Im Falle der Ökonomik kann ein irrationaler Panikanfall eines Spekulanten am Wallstreet einen riesigen Börsencrash und die nachfolgende Wirtschaftskrise auslösen.
(1) Für beide Beispiele siehe: Narindar Singh (1976) Economics and the Crisis of Ecology. Bombay usw.: Oxford University Press (S. 113 u. 118).
"Aus dem offenkundigen Versagen des historischen Liberalismus erwuchs die sozialistische Bewegung mit dem Ziel, die missbrauchten Freiheitsrechte einzuschränken zugunsten der Gesamtheit und besonders zugunsten der wirtschaftlich Schwachen. Diese Zielsetzung beruht jedoch auf einem Denkfehler; denn der historische Liberalismus versagte nicht, weil er zuviel, sondern weil er zuwenig Freiheit verwirklichte. Eine "freie Wirtschaft" hat es im Liberalkapitalismus in Wahrheit nie gegeben, sondern nur eine vermachtete Wirtschaft: vermachtet durch Privatmonopole, durch den privaten Monopolbesitz von Grund und Boden und den Rohstoffen, durch das Geld- und Bodenmonopol, durch die Bildung von Syndikaten, Kartellen und Trusts. An die Stelle einer freien Konkurrenzwirtschaft trat die Herrschaft privater Wirtschaftsmächte, die durch ihre Maßnahmen weitgehend auch die Höhe von Preisen, Löhnen und Zinsen und damit das Wirtschaftsgeschehen insgesamt nach ihren Interessen bestimmen konnten.
AntwortenLöschenDie sozialistischen Bestrebungen laufen darauf hinaus, die liberalkapitalistische durch eine zentralgeleitete Wirtschaft, also die private durch eine staatliche Vermachtung und die Privatmonopole durch Staatsmonopole zu ersetzen. Das bedeutet nichts anderes, als dass die vielen erbarmungslosen Wirtschaftsdiktatoren, die sich immerhin noch durch einen letzten Rest von Konkurrenz gegenseitig in ihrer Macht beschränken, durch einen einzigen, ebenso erbarmungslosen, aber völlig unbeschränkten Wirtschaftsdiktator in Gestalt des Staates abgelöst werden. Dadurch kann sich die Lage der arbeitenden Menschen nur noch hoffnungslos verschlimmern, wie mannigfache geschichtliche Erfahrungen hinlänglich bestätigen."
Dr. Ernst Winkler (Theorie der Natürlichen Wirtschaftsordnung, 1952)
"Der Begriff "Soziale Marktwirtschaft" stammt von dem Freiwirtschaftler Otto Lautenbach, der im Januar 1953 die Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft (ASM) gründete. In enger Zusammenarbeit mit dem damaligen Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard sollte erstmalig eine "freie Marktwirtschaft ohne Kapitalismus" verwirklicht werden. Im Juli 1954 verstarb Otto Lautenbach, die ASM zerfiel im Streit (eine Organisation gleichen Namens existiert heute noch, sie verfügt aber über keinerlei makroökonomische Kompetenz mehr). Für die makroökonomische Grundordnung der Bundesrepublik Deutschland wurde ein von der so genannten "katholischen Soziallehre" beeinflusstes Konzept von Alfred Müller-Armack übernommen, eine "sozial gesteuerte Marktwirtschaft" (kapitalistische Marktwirtschaft mit angehängtem "Sozialstaat"), für die sich später der Begriff "soziale Marktwirtschaft" einbürgerte."
Von der Überwindung der Religion zur echten Sozialen Marktwirtschaft
http://www.krisentalk.de/krise/ueberwindung-religion-echten-sozialen-marktwirtschaft/183001