Montag, 20. Januar 2014

Bhutan ist keine Insel -- Die Zukunft des Bruttoinlandglücks


 
Seit drei-vier Jahren hört man in der Öko-Szene besonders viel über Wachstumskritik, Suffizienz, De-Growth-Bewegung usw. – nicht nur in Deutschland, sondern, soweit ich es überblicken kann, in fast allen hoch entwickelten Ländern. Geschehen ist allerdings nichts. Parallel dazu hörten wir bis vor kurzem auch einiges über den Begriff Bruttoinlandglück (kurz, BIG) (English: gross national happiness). In Ökokreisen erzählte man begeistert von dem kleinen Himalaya-Königreich Bhutan und seinem höchst bewundernswerten Versuch, statt das BruttoInlandprodukt das Bruttoinlandglück zu messen und zu mehren. Wir lasen sogar in deutschen Printmedien ein paar Artikel zu diesem Thema.

Es kam mir und meinen Öko-Bekannten bemerkenswert vor, dass das in jeder Hinsicht immer noch sehr unterentwickelte Land Bhutan, wo die erste Straße erst 1962 gebaut wurde, diesen Versuch machte. Seitdem habe ich immer Artikel über dieses Thema gesammelt, fand aber keine Zeit, sie alle zu lesen. Die großen Ereignisse der Welt – der Arabische Frühling, der Bürgerkrieg in Syrien, der Schia-Sunny-Konflikt im Irak, der Konflikt um das Atomprogramm des Irans, die gescheiterten Klimakonferenzen, die Occupy-Bewegung usw. – besetzten meine Aufmerksamkeit ganz. Aber die eigentlich viel interessanteren Themen Bhutan und sein Bruttoinlandglück blieben mir im Hinterkopf erhalten. Ich dachte vorläufig, es muss am Buddhismus liegen, der Religion der Bevölkerungsmehrheit und des Königs samt der Elite. Ist er doch eine äußerst pazifistische sowie erlösungs- und verzichtorientierte Religion.

Seit einiger Zeit beschäftigen mich diese Themen wieder. Anlass dazu waren einige schreckliche Ereignisse in Myanmar (Burma), auch ein mehrheitlich buddhistisches Land. Dort gab es im letzten Jahr mehrere teils mörderische Pogrome gegen die muslimische Minderheit, insbesondere gegen die dunkelhäutigen „Rohingyas“ – alle begangen von buddhistischen Mobs, angestachelt von einem Mönch. Offenbar war in Myanmar die Wirkung des Buddhismus auf das Verhalten der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit und der Regierenden nicht real, oder sie war nicht stark genug, die Pogrome zu verunmöglichen. Ich fragte mich: wie steht es wohl mit Bhutan? Ich wusste, dass es auch in Bhutan ein Minderheitsproblem gab, eines mit den Menschen nepalesischer Abstammung. Aber mein Hauptinteresse galt dem Bruttoinlandglück. Ich fing an, die gespeicherten Berichte über das Land zu lesen.

Die Idee des Bruttoinlandglücks wurde schon 1972 von dem König Wangchuck, geäußert. Das war ein Jahr vor dem Erscheinen Fritz Schumachers berühmtes Buch Small is Beutiful, in dem sich ein Kapitel über buddhistische Ökonomik findet. Der König sagte in einer Rede: „Bruttoinlandglück ist wichtiger als Bruttoinlandprodukt“. Anfangs schien das ein aus dem Stegreif geprägter, nicht weiter ernst zu nehmender Begriff zu sein. Aber der König, der in seinem Land den Prozess der Entwicklung eingeleitet hatte, meinte es ernst. Er wollte damit signalisieren, dass Bhutans Entwicklung im Einklang mit seiner auf buddhistischen spirituellen Werten beruhenden Kultur stehen würde. Er sagte, Bhutan müsse sicherstellen, dass Wohlstand fair unter allen Mitgliedern der Gesellschaft geteilt werde, dass es eine richtige Balance zwischen Wohlstand und Erhaltung der kulturellen Tradition gebe, dass die Umwelt geschützt werde und dass die Regierung verantwortungsvoll regiere.

Es gab dann im Laufe der Jahre einige entsprechende politische Entscheidungen. Es wurde ein ausgeklügeltes Instrument entwickelt, um das allgemeine Glück zu messen. Solche Messungen wurden auch durchgeführt. Es wurde entschieden, dass 60 Prozent des Landes waldbedeckt sein müssten. Es gab eine Entscheidung gegen Massentourismus. Das Land hieß jährlich nur eine geringe Zahl von Touristen willkommen. Ein Kleiderkodex erforderte, dass Männer sich traditionell kleideten. Nach der Einführung der Demokratie im Jahre 2008 intensivierte der erste gewählte Premierminister Jigme Thinley diese Politik. Der Verkauf von Tabak und Tabakprodukte wurde verboten. Verboten wurde auch der Gebrauch von Plastiktaschen. Während religiöser Feiertage, die sich auch einen Monat erstrecken können, durfte kein Fleisch verkauft werden. Automobile wurden hoch besteuert, und es gab einen autofreien Tag im Monat.

Bis 1960 gab es in Bhutan kein öffentliches Bildungswesen. Inzwischen gibt es überall Schulen, für jede Stufe. Im öffentlichen Gesundheitswesen haben Patienten bei nichtakutem Leiden die Wahl zwischen westlicher Schulmedizin und traditioneller Medizin. Während das Pro-Kopf-Einkommen der Bhutanesen eines der niedrigsten der Welt bleibt, ist ihre Lebenserwartung zwischen 1984 und 1998 um 19 Jahre gestiegen, auf 66 Jahre.

In einem Internet-Artikel fand ich die folgenden Sätze über die Hauptstadt: „Thimphu ist eine angenehme Fußgängerstadt ohne die üblichen chaotischen Labyrinthen vieler indischer Städte. Die Menschen hier sind fröhlich, die Geschäftsleute weisen die penetrante Art und Weise nicht auf, die man in Südasien erlebt. Sogar seine Straßenhunde sind gutmütig. Es gibt da keine Slums.”

Premierminister Thinley sagte: „Materielles Wohlbefinden ist nur eine Komponente. Das sichert nicht, dass du in Frieden mit der Umwelt und in Harmonie mit deinen Mitmenschen lebst.“ Das alles klang wunderbar, sehr in unserem Sinne. Bhutan stand da als Modell nachhaltiger Entwicklung. Es schien auf bestem Weg zu sein, eine zufriedene, ja glückliche Gesellschaft zu werden.

Dann aber kam die Enttäuschung. Ich las, dass Premier Thinley die Wahl vom Sommer 2013 verloren hat, und der neue Premier Tshering Tobgay, ein in den USA ausgebildeter Maschinenbauingenieur, die Idee des Bruttoinlandglücks aufgegeben hat. „Anstatt über Glück zu reden“, sagte er, „wollen wir daran arbeiten, die Hürden zum Glück zu verringern.“ Er hob einige der Verbote und Gebote auf, die die Vorgängerregierung dem Volk auferlegt hatte, e.g. die gelegentlichen autofreien Tage und den traditionellen Kleidungskodex für Männer. Er erkannte, dass es schwierig würde, die traditionelle Kultur in einer Ära rapider Urbanisierung zu erhalten.

In der Tat, während die Mehrheit der Bevölkerung noch als Subsistenzbauern lebt, verlassen eine zunehmende Anzahl von Bhutanesen ihre traditionellen aus Lehm und Holz gebauten Häuser in isolierten Dörfern und ziehen in die Städte, wo viele neue moderne Häuser gebaut werden. „Wer will Subsistenzlandwirtschaft betreiben, um 4 Uhr morgens aufstehen und Wasser nach Hause tragen, wenn man das nicht tun muss?“, sagte ein Mitglied der Königsfamilie. „Wenn die Leute eine Ausbildung bekommen“ fuhr er fort, „wollen sie nicht mehr so miserabel leben wie ihre Eltern.“ Folglich ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Der neue Premier jammerte, dass viele der Jugend freiwillig arbeitslos sind. Er redete auch von steigender politischer Korruption, die er stärker bekämpfen wollte.

Die zwei Industrien, auf die Bhutan zählt, um seine Modernisierung und die Importe von fast allem Notwendigen aus Indien bezahlen zu können, sind Tourismus und Wasserkraft. Letzteres wird zum großen Teil an Indien verkauft, und das Land will diese Branche weiter entwickeln. Aber die Bauarbeiten, auch die für den Infrastrukturaufbau, sind fast komplett in den Händen indischer Firmen und Arbeiter. Zunächst musste es so sein, weil zu wenige Bhutanesen das nötige Know-how hatten. Später aber, weil die ausgebildete und urbanisierte Jugend Bauarbeit als unter ihrer Würde betrachtet.

Es ist also kein Wunder, dass Bhutans Staatsverschuldung sehr hoch ist und weiter wächst. Es gab sogar auch eine Währungskrise und eine Drohung seitens Indiens, weitere Finanzhilfe zu stoppen.

Das Experiment, in einem kleinen Land Bruttoinlandglück statt Bruttoinlandprodukt zu mehren ist also vorerst gescheitert. Wird es nur eine kleine und kurze Episode in der Weltgeschichte sein? Bhutan hat letztlich den üblichen Weg eines unterentwickelten Landes zur Entwicklung und Modernisierung eingeschlagen – mit den altbekannten Problemen: der Widerspruch zwischen Entwicklung und Umweltschutz (auch Wasserkraft ist umweltschädlich), der Widerspruch zwischen Modernisierung und traditioneller buddhistischer Kultur.

Auch das übliche Problem mit Minderheiten ist Bhutan nicht erspart geblieben. Wie in Myanmar, haben auch hier die Lehren des Buddhismus nicht helfen können. Die Vertreibung der hinduistisch-nepalesischen Minderheit hat Bhutan einen schlechten Ruf beschert. Wie kann man eine glückliche Gesellschaft aufbauen, so die Kritik, wenn man damit nur die buddhistische Mehrheit beglücken will?

Wir müssen verstehen, dass in der heutigen Welt kein Land eine Insel ist. Insbesondere ist der aus den Nachbarländern Indien und China tönende Sirenengesang der Entwicklung zu anlockend. Sowieso kann heute rein materiell kein Land, insbesondere ein kleines Land wie Bhutan, eine unabhängige Wirtschaftspolitik verfolgen. Auch kulturell und gesellschaftspolitisch ist der Einfluss der übrigen Welt zu stark, die Verheißungen einer Konsumgesellschaft zu verführerisch.

Bezug nehmend auf die globale Ökologiekrise sagte in den 1990er Jahren der damals sehr berühmte brasilianische Umweltschützer José Luzenberger. „In der Dritten Welt wird nichts passieren, wenn in der Ersten Welt nichts passiert.“ Damals war ich dergleichen Meinung. Das gescheiterte Experiment in Bhutan bestätigt Luzenbergers Erkenntnis noch einmal. Aber wer weiß, vielleicht passiert etwas Richtiges in der Ersten Welt; viele reden da doch schon von De-Growth. Dann werden die Menschen wohl wieder versuchen, in der ganzen Welt, das Bruttoinlandglück zu mehren, statt das Bruttosozialprodukt.