Es kam mir und meinen Öko-Bekannten bemerkenswert vor, dass das
in jeder Hinsicht immer noch sehr unterentwickelte Land Bhutan, wo die erste
Straße erst 1962 gebaut wurde, diesen Versuch machte. Seitdem habe ich immer
Artikel über dieses Thema gesammelt, fand aber keine Zeit, sie alle zu lesen. Die
großen Ereignisse der Welt – der Arabische Frühling, der Bürgerkrieg in Syrien,
der Schia-Sunny-Konflikt im Irak, der Konflikt um das Atomprogramm des Irans, die
gescheiterten Klimakonferenzen, die Occupy-Bewegung usw. – besetzten meine
Aufmerksamkeit ganz. Aber die eigentlich viel interessanteren Themen Bhutan und
sein Bruttoinlandglück blieben mir im Hinterkopf erhalten. Ich dachte vorläufig,
es muss am Buddhismus liegen, der Religion der Bevölkerungsmehrheit und des
Königs samt der Elite. Ist er doch eine äußerst pazifistische sowie erlösungs-
und verzichtorientierte Religion.
Seit einiger Zeit beschäftigen mich diese Themen wieder.
Anlass dazu waren einige schreckliche Ereignisse in Myanmar (Burma), auch ein
mehrheitlich buddhistisches Land. Dort gab es im letzten Jahr mehrere teils
mörderische Pogrome gegen die muslimische Minderheit, insbesondere gegen die
dunkelhäutigen „Rohingyas“ – alle begangen von buddhistischen Mobs,
angestachelt von einem Mönch. Offenbar war in Myanmar die Wirkung des
Buddhismus auf das Verhalten der buddhistischen Bevölkerungsmehrheit und der Regierenden
nicht real, oder sie war nicht stark genug, die Pogrome zu verunmöglichen. Ich
fragte mich: wie steht es wohl mit Bhutan? Ich wusste, dass es auch in Bhutan
ein Minderheitsproblem gab, eines mit den Menschen nepalesischer Abstammung.
Aber mein Hauptinteresse galt dem Bruttoinlandglück. Ich fing an, die
gespeicherten Berichte über das Land zu lesen.
Die Idee des Bruttoinlandglücks wurde schon 1972 von dem
König Wangchuck, geäußert. Das war ein Jahr vor
dem Erscheinen Fritz Schumachers berühmtes Buch Small is Beutiful, in dem sich ein Kapitel über buddhistische
Ökonomik findet. Der König sagte in einer Rede: „Bruttoinlandglück ist
wichtiger als Bruttoinlandprodukt“. Anfangs schien das ein aus dem Stegreif geprägter,
nicht weiter ernst zu nehmender Begriff zu sein. Aber der König, der in seinem
Land den Prozess der Entwicklung eingeleitet hatte, meinte es ernst. Er wollte
damit signalisieren, dass Bhutans Entwicklung im Einklang mit seiner auf
buddhistischen spirituellen Werten beruhenden Kultur stehen würde. Er sagte,
Bhutan müsse sicherstellen, dass Wohlstand fair unter allen Mitgliedern der
Gesellschaft geteilt werde, dass es eine richtige Balance zwischen Wohlstand
und Erhaltung der kulturellen Tradition gebe, dass die Umwelt geschützt werde
und dass die Regierung verantwortungsvoll regiere.
Es gab dann im Laufe der Jahre einige entsprechende
politische Entscheidungen. Es wurde ein ausgeklügeltes Instrument entwickelt,
um das allgemeine Glück zu messen. Solche Messungen wurden auch durchgeführt.
Es wurde entschieden, dass 60 Prozent des Landes waldbedeckt sein müssten. Es
gab eine Entscheidung gegen Massentourismus. Das Land hieß jährlich nur eine
geringe Zahl von Touristen willkommen. Ein Kleiderkodex erforderte, dass Männer
sich traditionell kleideten. Nach der Einführung der Demokratie im Jahre 2008
intensivierte der erste gewählte Premierminister Jigme Thinley diese Politik. Der
Verkauf von Tabak und Tabakprodukte wurde verboten. Verboten wurde auch der
Gebrauch von Plastiktaschen. Während religiöser Feiertage, die sich auch einen
Monat erstrecken können, durfte kein Fleisch verkauft werden. Automobile wurden
hoch besteuert, und es gab einen autofreien Tag im Monat.
Bis 1960 gab es in Bhutan kein öffentliches Bildungswesen.
Inzwischen gibt es überall Schulen, für jede Stufe. Im öffentlichen
Gesundheitswesen haben Patienten bei nichtakutem Leiden die Wahl zwischen
westlicher Schulmedizin und traditioneller Medizin. Während das Pro-Kopf-Einkommen
der Bhutanesen eines der niedrigsten der Welt bleibt, ist ihre Lebenserwartung
zwischen 1984 und 1998 um 19 Jahre gestiegen, auf 66 Jahre.
In einem Internet-Artikel fand ich die folgenden Sätze über
die Hauptstadt: „Thimphu ist eine
angenehme Fußgängerstadt ohne die üblichen chaotischen Labyrinthen vieler
indischer Städte. Die Menschen hier sind fröhlich, die Geschäftsleute weisen
die penetrante Art und Weise nicht auf, die man in Südasien erlebt. Sogar seine
Straßenhunde sind gutmütig. Es gibt da keine Slums.”
Premierminister Thinley sagte: „Materielles Wohlbefinden ist
nur eine Komponente. Das sichert nicht, dass du in Frieden mit der Umwelt und
in Harmonie mit deinen Mitmenschen lebst.“ Das alles klang wunderbar, sehr in
unserem Sinne. Bhutan stand da als Modell nachhaltiger Entwicklung. Es schien auf
bestem Weg zu sein, eine zufriedene, ja glückliche Gesellschaft zu werden.
Dann aber kam die Enttäuschung. Ich las, dass Premier
Thinley die Wahl vom Sommer 2013 verloren hat, und der neue Premier Tshering Tobgay, ein in den USA
ausgebildeter Maschinenbauingenieur, die Idee des Bruttoinlandglücks aufgegeben
hat. „Anstatt über Glück zu reden“, sagte er, „wollen wir daran arbeiten, die
Hürden zum Glück zu verringern.“ Er hob einige der Verbote und Gebote auf, die
die Vorgängerregierung dem Volk auferlegt hatte, e.g. die gelegentlichen
autofreien Tage und den traditionellen Kleidungskodex für Männer. Er erkannte,
dass es schwierig würde, die traditionelle Kultur in einer Ära rapider
Urbanisierung zu erhalten.
In der Tat, während die
Mehrheit der Bevölkerung noch als Subsistenzbauern lebt, verlassen eine
zunehmende Anzahl von Bhutanesen ihre traditionellen aus Lehm und Holz gebauten
Häuser in isolierten Dörfern und ziehen in die Städte, wo viele neue moderne Häuser
gebaut werden. „Wer will Subsistenzlandwirtschaft betreiben, um 4 Uhr morgens
aufstehen und Wasser nach Hause tragen, wenn man das nicht tun muss?“, sagte
ein Mitglied der Königsfamilie. „Wenn die Leute eine Ausbildung bekommen“ fuhr
er fort, „wollen sie nicht mehr so miserabel leben wie ihre Eltern.“ Folglich
ist die Arbeitslosigkeit sehr hoch. Der neue Premier jammerte, dass viele der
Jugend freiwillig arbeitslos sind. Er redete auch von steigender politischer
Korruption, die er stärker bekämpfen wollte.
Die zwei Industrien, auf
die Bhutan zählt, um seine Modernisierung und die Importe von fast allem
Notwendigen aus Indien bezahlen zu können, sind Tourismus und Wasserkraft.
Letzteres wird zum großen Teil an Indien verkauft, und das Land will diese
Branche weiter entwickeln. Aber die Bauarbeiten, auch die für den Infrastrukturaufbau,
sind fast komplett in den Händen indischer Firmen und Arbeiter. Zunächst musste
es so sein, weil zu wenige Bhutanesen das nötige Know-how hatten. Später aber,
weil die ausgebildete und urbanisierte Jugend Bauarbeit als unter ihrer Würde
betrachtet.
Es ist also kein Wunder,
dass Bhutans Staatsverschuldung sehr hoch ist und weiter wächst. Es gab sogar
auch eine Währungskrise und eine Drohung seitens Indiens, weitere Finanzhilfe
zu stoppen.
Das Experiment, in einem
kleinen Land Bruttoinlandglück statt Bruttoinlandprodukt zu mehren ist also
vorerst gescheitert. Wird es nur eine kleine und kurze Episode in der
Weltgeschichte sein? Bhutan hat letztlich den üblichen Weg eines
unterentwickelten Landes zur Entwicklung und Modernisierung eingeschlagen – mit
den altbekannten Problemen: der Widerspruch zwischen Entwicklung und
Umweltschutz (auch Wasserkraft ist umweltschädlich), der Widerspruch zwischen
Modernisierung und traditioneller buddhistischer Kultur.
Auch das übliche Problem
mit Minderheiten ist Bhutan nicht erspart geblieben. Wie in Myanmar, haben auch
hier die Lehren des Buddhismus nicht helfen können. Die Vertreibung der hinduistisch-nepalesischen
Minderheit hat Bhutan einen schlechten Ruf beschert. Wie kann man eine
glückliche Gesellschaft aufbauen, so die Kritik, wenn man damit nur die
buddhistische Mehrheit beglücken will?
Wir müssen verstehen,
dass in der heutigen Welt kein Land eine Insel ist. Insbesondere ist der aus
den Nachbarländern Indien und China tönende Sirenengesang der Entwicklung zu
anlockend. Sowieso kann heute rein
materiell kein Land, insbesondere ein kleines Land wie Bhutan, eine
unabhängige Wirtschaftspolitik verfolgen. Auch kulturell und
gesellschaftspolitisch ist der Einfluss der übrigen Welt zu stark, die Verheißungen
einer Konsumgesellschaft zu verführerisch.
Bezug nehmend auf die globale
Ökologiekrise sagte in den 1990er Jahren der damals sehr berühmte
brasilianische Umweltschützer José Luzenberger. „In der Dritten Welt wird
nichts passieren, wenn in der Ersten Welt nichts passiert.“ Damals war ich
dergleichen Meinung. Das gescheiterte Experiment in Bhutan bestätigt Luzenbergers
Erkenntnis noch einmal. Aber wer weiß, vielleicht passiert etwas Richtiges in
der Ersten Welt; viele reden da doch schon von De-Growth. Dann werden die Menschen
wohl wieder versuchen, in der ganzen Welt, das Bruttoinlandglück zu mehren,
statt das Bruttosozialprodukt.
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