1992, nach dem Fall der Berliner Mauer und
der Auflösung der Sowjetunion und des kommunistischen Blocks, verkündete
Francis Fukuyama, der amerikanische politische Philosoph, das Ende der
Geschichte. In seinem gleichnamigen Buch vertrat er die These, dass die
weltweite Verbreitung der liberalen Demokratie, des Marktkapitalismus vom
westlichen Typ und des westlichen Lebensstils deute darauf hin, dass die
soziokulturelle Entwicklung der Menschheit ihren Endpunkt erreicht habe und
dass die Kombination dieser drei Elemente die endgültige Form der
Regierungsführung sei. Er untermauerte diese These mit der Behauptung, dass es
mit dem Scheitern des Faschismus und des Kommunismus keine Alternative mehr zu
dieser genannten Kombination gebe.
Trotz einiger Kritik an diesem oder jenem
Punkt seines Buches erschien Fukuyamas These damals vielen Leuten plausibel,
obwohl einige den Begriff „Ende der Geschichte“ zu überzogen fanden.
Ich war schon 1992 sicher, dass der
Marktkapitalismus vom westlichen Typ nicht der Endpunkt der Entwicklung der
Wirtschaftsordnung der Menschheit sein kann. Denn einerseits unterliegt dieser
Marktkapitalismus einem Wachstumszwang, andererseits aber gibt es ja Grenzen
des Wachstums. Es war mir auch klar, dass der westliche Lebensstil nicht der
endgültige für die ganze Menschheit sein kann, weil es eben Grenzen des
Wirtschaftswachstums gibt. Bei liberaler Demokratie war ich nicht sicher. Ich
dachte, vielleicht könnten in der Zukunft der Ökosozialismus und eine neu
konzipierte Demokratie zusammengehen.
Bei diesem dritten Punkt bin ich inzwischen
etwas skeptisch geworden. Anfangs sah es danach aus, als würde sich Fukuyamas
These allmählich bewahrheiten. Nackte Diktaturen wurden nach und nach sowohl in
Afrika als auch in Lateinamerika durch irgendeine Art Demokratie ersetzt. Auch
langjährige, despotisch herrschende Präsidenten mussten sich durch mehr oder
weniger fairen Wahlen bestätigen lassen. In Asien gab neulich die
Militärdiktatur in Myanmar nach und leitete einen Demokratisierungsprozess ein.
Auch die Grundrechte der Bürger wurden – zumindest theoretisch, d.h. auf Papier
– mehr oder weniger anerkannt. Übrig blieben nur die Diktaturen der Könige und
Emire in den Golfstaaten, die Alleinherrschaft der Kim-Familie in Nordkorea und
das Machtmonopol der Kommunistischen Partei in China, Vietnam und Kuba. Aber mehrere neuerliche Geschehnisse
in der Welt geben mir Grund, an der Zukunft der liberalen Demokratie zu
zweifeln.
Ich
nehme Abraham Lincolns Definition der Demokratie als den Anfangspunkt meiner
Überlegungen an. Er hatte gesagt, Demokratie sei Regieren des Volkes von dem
Volk und für das Volk. Bisher ist diese Definition allein durch repräsentative
Demokratie (Stellvertreterdemokratie) konkretisiert worden (mit der teilweisen
Ausnahme der Schweiz) – mit der Existenz von mehreren, miteinander
konkurrierenden politischen Parteien, die an periodischen Wahlen teilnehmen.
Das Volk wird durch die Abgeordneten vertreten, deren Mehrheit die Regierung
bestellt. Beim Präsidialsystem wird auch der regierende Präsident vom Volk
gewählt. Im Prinzip akzeptiert die Minderheit die Entscheidungen der Mehrheit,
solange diese nicht gegen die Verfassung und die Gesetze verstoßen. Oder sie
nimmt sie wider Willen hin. Wenn der Widerwille zu stark ist, darf sie
protestieren und demonstrieren. Letztlich aber muss sie sich dem Mehrheitswillen
beugen.
Aber inzwischen funktioniert die Demokratie vielerorts nicht glatt nach
den hehren Prinzipien. Man denke an Ägypten, wo ein gewählter Präsident
entmachtet und verhaftet wurde – von den Militärs, mit der Unterstützung von
ein paar hunderttausend protestierenden Demonstranten. In Griechenland wollte
der Premierminister Giorgos Papandreou mittels eines Referendums das Volk fragen, ob er die Bedingungen eines
von den Chefs der Eurozone angebotenen Hilfspakets annehmen soll. Er wurde
daraufhin nach Brüssel zitiert und von Merkel und Sarkozy gemaßregelt,
woraufhin er die Referendumsidee fallen ließ. In der Ukraine versuchen die
Oppositionsparteien die gewählte Regierung bzw. den gewählten Präsidenten
zwingen, vorzeitig zurückzutreten. In Thailand will die Minderheit – die
Reichen und die wohlhabenden Bürger von Bangkok und den Touristenzentren des
Südens – die gewählte Regierung stürzen und sie durch eine vom König oder den
Militärs nominierte Expertenregierung ersetzen. Sie versucht nicht einmal,
anders als in der Ukraine, vorzeitige Neuwahlen zu erzwingen, denn sie ist
sicher, sie würde auch bei den Neuwahlen verlieren. Es herrscht bei all diesen
Unzufriedenen der Glaube, sie brauchen nur einhundert tausend Demonstranten auf
dem zentralen Platz der Hauptstadt zu versammeln, dort zwei-drei Monate zu kampieren
und zu demonstrieren und sich von den internationalen TV-Anstalten filmen zu
lassen; dann wird die gewählte Regierung bzw. der gewählte Präsident
zurücktreten. Oder sie marschieren einfach, Gewehre in Hand, in die Hauptstadt
und stürzen den amtierenden Präsidenten, wie in der Zentralafrikanischen Republik.
Oder, wie in der Türkei, hebt die Regierung das Demonstrationsrecht auf,
verhaftet kritische Journalisten und kontrolliert Internet-Medien. Die
unzufriedenen Regierungen des Auslands mischen sich kräftig ein, wie zum
Beispiel in der Demokratischen Republik von Kongo und in der Ukraine. Allein in
Tunesien hat die gewählte Regierung nachgegeben. Anderenorts herrscht Chaos,
gelegentlich auch Mord und Totschlag, wie in Ägypten. In Kenia ist einer zum
Präsidenten gewählt worden, der beim Internationalen Kriminalgericht wegen
Organisierung von Massenmord angeklagt ist.
Diese paar Beispiele genügen, um behaupten zu dürfen, dass Fukuyamas
These, die soziokulturelle Entwicklung der Menschheit (mit anderen Worten, die „Geschichte“)
ihr Endpunkt erreicht habe, sehr verfrüht war. Die liberale Demokratie erleidet
zurzeit einen Rückschlag nach dem anderen. Wir müssen fragen: warum?
Es
sei hier betont, dass Fukuyama in seiner These den Endpunkt der Geschichte als
eine aus drei Elementen bestehende Trinität dargestellt hatte. Damit hatte er
auch den erhofften, weltweiten und endgültigen Sieg der liberalen Demokratie
vom Erfolg des Marktkapitalismus abhängig gemacht. Dieser hat sich aber inzwischen als ein Götzenbild mit
tönernen Füßen herausgestellt. Er hat nicht geliefert, was sich Anfang der
1990er Jahre die Völker versprochen hatten, die das kommunistische System in
ihrem jeweiligen Land auflösten bzw. die Völker, die den Kommunismus als eine
Alternativperspektive aufgaben, Mandelas Südafrika zum Beispiel. Bei vielen
Völkern der Welt und bei großen Bevölkerungsteilen in jedem Land, selbst in den
reichen USA, Deutschland usw., ist der Genuss des westlichen Lebensstils
ausgeblieben. Das Volk wird zwar von dem Volk (d.h. von seinen Vertretern)
regiert, aber es wird nicht für das Volk
regiert. Schlimmer noch, innerhalb von wenigen Jahren nach der Auflösung des
kommunistischen Systems bescherte der Marktkapitalismus der Menschheit zwei
verheerende Wirtschaftskrisen – die Asienkrise von 1997-1998 und den
Staatsbankrott von Argentinien im Jahre 2001. Bisher relativ wohlhabende Völker
stürzten in bitteres Elend.
Seit nun sechseinhalb Jahren leiden große Teile der Weltwirtschaft und
damit große Teile der Weltbevölkerung an einer Wirtschaftskrise. Die Asienkrise
von 1997-1998 endete schon nach zwei Jahren und Argentinien erholte sich etwa
Mitte des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts. Aber die aktuelle Krise will
einfach nicht enden. Das hat Gründe. Diese Krise kann auch nicht enden, weil
sie weder eine konjunkturelle noch eine Strukturkrise ist, sondern eine Krise
einer ganz anderen Art. Sie ist das Produkt von zunehmender
Ressourcenknappheit, steigenden Kosten von allerlei Umweltzerstörungen und
anhaltendem Bevölkerungswachstum, kurz, von Grenzen des Wachstums. Die meisten
Konflikte und Unruhen der Gegenwart sind nur Ausdrücke und Symptome dieser
fundamentalen Krise. Hinzu kommen steigende, geradezu kindische
Wohlstandsforderungen aller Völker, die gar nicht erfüllt werden können, bei immer
größer werdender Kluft zwischen Arm und Reich. Ich erinnere mich an ein
Interview, das ein Chinese, der nach dem Scheitern der Demokratiebewegung des
Jahres 1986 nach Europa geflüchtet war, einer westlichen Zeitung gab. Er sagte
sehr resigniert, er denke, Demokratie sei nur in einem Land möglich, in dem das
monatliche Pro-Kopf-Einkommen 4000 US-Dollar betrage.
Wir
– d.h. meine politischen Freunde und ich – sind davon überzeugt, dass nur eine
ökosozialistische Gesellschaftsordnung die Lösung der genannten, sich ständig
verschlimmernden fundamentalen Krise der ganzen Menschheit sein kann. Aber wird
sie, kann sie auch mit liberaler Demokratie vereinbar sein? Im Prinzip, ja.
Dennoch ist es schwierig, darauf eine sichere Antwort zu geben, denn die
Zukunft ist im Prinzip immer ungewiss. Es wird bestimmt sehr viel davon
abhängen, in welcher Art und Weise und unter welchen Umständen so eine
Gesellschaftsordnung zustande kommt. Die Frage könnte also etwas beschränkt und
konkretisiert werden: Gibt es genug Grund zu hoffen, dass wir bald und auf in repräsentativen Demokratien übliche Art und Weise eine ökosozialistische
Gesellschaftsordnung werden installieren können?
Ich
fürchte, nein. Wir dürfen die Tatsache nicht ignorieren, dass dieses politische
System in Praxis ein reiner
Konkurrenzkampf um Macht ist. In Parteien organisierte ambitionierte Berufspolitiker haben notwendigerweise
einen kleinen Horizont. Sie wollen alle 4 oder 5 Jahre wiedergewählt werden.
Sie müssen also vor jeder Wahl einen klugen, mehrheitsfähigen Mix von Programmelementen anbieten, sie müssen den
Wählern eine bessere Zukunft und mehr Wohlstand versprechen. Der Ökosozialismus
kann aber keine in materieller-ökonomischer
Hinsicht bessere Zukunft versprechen. Im Gegenteil, Ökosozialisten werden
Klartext reden, sie werden offen sagen, dass eine Schrumpfung der
Weltwirtschaft und Verzicht auf manche Konsumwünsche notwendig sind.
Die
wichtigste Voraussetzung für den Erfolg der ökosozialistischen Perspektive ist
also die Einsicht der Mehrheit der
Menschheit in die Notwendigkeit der unangenehmen Maßnahmen, die Ökosozialisten
vorschlagen. Erst wenn dieser Punkt erreicht ist, mit anderen Worten, wenn die
ökosozialistische Perspektive die kulturell-intellektuelle Hegemonie im Sinne
von Gramsci errungen hat, – und das kann noch lange dauern – können sich, als
ein Anfang, in einigen Ländern ökosozialistische Präsidentschaftskandidaten zur
Wahl stellen. Sie werden wohl auch gewählt werden. Wir können nur hoffen, dass
es dann nicht schon zu spät und der Kollaps unvermeidlich geworden ist. Wenn
dieser Punkt, die kulturell-intellektuelle Hegemonie, erreicht ist, dann wird
es wohl auch nicht so wichtig sein, wer regiert – etwa so, wie heute in
Deutschland ziemlich egal ist, ob die CDU regiert oder die SPD. Denn die
Kandidaten werden dann wohl nur leicht unterschiedliche Varianten eines
ökosozialistischen Programms anbieten. Dann wird sicher auch die Verwirklichung
von echter liberaler Demokratie,
sogar mit Referenda über Detailfragen, möglich sein – ganz im Sinne der Lincoln‘schen
Definition.
Wenn die genannte Voraussetzung erfüllt ist, wird es nicht notwendig
sein, eine ökosozialistische Diktatur zu errichten. Wenn nicht, dann werden
auch die Mehrheit der Soldaten und Generäle den Lösungsvorschlag
ökosozialistische Diktatur nicht unterstützen. Es bleibt uns also keine andere
Möglichkeit als der lange Marsch durch das Bewusstsein der Mitmenschen, mit
demokratischen Mitteln. Wenn wir dabei keinen Erfolg haben, dann sollten wir
uns auf den Kollaps und die nachfolgende Barbarei und Militärdiktatur
einstellen.
PS. Meine
Konzeption des Ökosozialismus ist im Detail dargelegt in meinem Buch Die nachhaltige Gesellschaft: eine kritische
Analyse der Systemalternativen und in der Broschüre (mit Bruno Kern) Ökosozialismus oder Barbarei.
Es gibt auch zahlreiche Beiträge in
www.oekosozialismus. net
Frau Verona Tobler schrieb
AntwortenLöschenIch teile die Sorge von Saral Sarkar. Doch der Kapitalismus ist mehr als die systematische Mobilisierung der globalen Gefrässigkeit durch profitgierige Kapitalbesitzer: Es ist auch Ausdruck jener Gefrässigkeit, der wir dank einer Technologie frönen, die uns den grenzenlosen Zugriff auf die globalen Ressourcen erlaubt. Die gegenwärtige Krise wird u. a. von 3 Faktoren verursacht: (1) Um die stockende Kapitalzirkulation auf Trab zu halten, blähen westliche Banken und Regierungen die Geldmenge auf, so dass Finanz- und Realwirtschaft immer weiter auseinanderklaffen. (2) In den Wohlfahrtsstaaten wird die Bürgerschaft derzeit über Verschuldung bei der Stange ge-halten - was langfristig in die Inflation führt. (3) Politik- und Wirtschaftsmächtige setzen, um die Transaktionskosten fürs Kapital zu senken, die Hyperglobalisierung durch: Die freie Zirkulation von Gütern, Kapital, Arbeitskräften. Damit nimmt aber das soziale und wirtschaftliche Gefälle zwischen und innerhalb der Staaten zu. Kurz: der Kapitalismus steckt tief in der Krise.
Was tun? Als Schweizerin plädiere ich für die Direkte Demokratie, weil sie die Steuerung von Gesellschaft, Wirtschaft und Politik von unten erlaubt. Das wiederum setzt zweierlei voraus:
(1) eine Staatsgesellschaft, die nicht zu gross ist, muss doch die Volkswirtschaft für die Mehrheit der BürgerInnen verstehbar und überblickbar sein; (2) einen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Geltungsrau, der „in etwa“ deckungsgleich ist: Direkte Demokratie funktioniert nur mit einer nationalterritorial verankerten Volkswirtschaft, müssen doch die Wirtschaft und die entsprechenden überfamilialen Solidarinstitutionen souverän gesteuert und finanziert werden können. Immerhin hat „mein“ Volk der classe politique vor Jahren einen Ausgabenstopp verpasst.
Von einer ökologischen Lebensweise ist allerdings auch die Schweiz noch weit entfernt. Wer jedoch das Nein zur schrankenlosen Personenfreizügigkeit auf pure Fremdenfeindlichkeit reduziert, täuscht sich. Zwar gibt es auch bei uns Rassismus und Fremdenfeindlichkeit - beides gehört bekämpft! Doch eine wachsende Zahl von SchweizerInnen sagt nein zur Hyperglobalisierung und zur Zusammenarbeit mit der demokratieverachtenden neoliberalen EU, weil man erkennt, dass die grenzenlose Zirkulation von Gütern, Kapital, Arbeit weiterhin eine höchst ungleiche und unökologische Entwicklung bringt. In der Schweiz ist die jährliche Immigration pro Kopf doppelt so gross wie in der BRD, und das bei einem Ausländeranteil, der jenen Deutschlands ums 3fache übersteigt. Ein weiteres Bevölkerungswachstum ist aus politischen, sozialen und ökologischen Gründen nicht wünschbar. Kurz: das Argument, Immigration bringt Wirtschaftswachstum, verfängt nicht mehr! Politisch der härtere Brocken wird es sein, den Überkonsum zurückzufahren und den Kern unserer Volkswirtschaft nun daran zu orientieren, was ökologisch, sozial, wirtschaftlich und politisch Sinn macht. Doch nicht gegen den Markt kämpfen wir, sondern für sinnvoll eingehegte und gestufte Märkte und eine entsprechend schonende Ressourcennutzung.
Weltoffene Solidarität handelt lokal, denkt aber gleichzeitig global: Sorgen wir für eine Welt, in der die Menschen nicht mehr gezwungen sind, aus wirtschaftlicher Not abzuwandern. Solida-risch sein heisst: Sich für eine Welt einsetzen, in der in den klimatisch und kulturell so vielfälti-gen Regionen gelernt wird, mit den geologischen und biologischen Ressourcen, Pflanzen, Tiere, Menschen eingeschlossen, nachhaltig zu leben. Keine verengte Welt ist das! Im Gegenteil: Wir streben auf unserem Planeten jene fehlerfreundliche Vielfalt an, die es erlaubt, voneinander zu lernen. Für Fehlerfreundlichkeit braucht es Redundanz, Vielfalt, Barrieren bzw. Grenzen. Erst im Zusammenwirken dieser 3 Faktoren sind lebende Systeme fehlerfreundlich. Und so könnten wir dann weltweit voneinander lernen und uns zusammen auf künftige Ereignisse vorbereiten.