Die
Mörder der Charlie-Hebdo-Karikaturisten bekamen ihre verdiente Strafe. Nach dem
gesunden Volksempfinden ist es schon in Ordnung, dass sie von den
Sicherheitskräften getötet wurden. Von ihrem eigenen Standpunkt sowie vom
Standpunkt ihrer Geistesgenossen aus gesehen, waren die Mörder höchst
erfolgreich. Sie konnten nicht nur die Beleidigung ihres Propheten rächen – für
sie eine große Sache – sondern starben auch als Märtyrer, was sie wohl selbst
wollten.
Die ermordeten Karikaturisten aber
starben nicht als Märtyrer. Sie wollten nicht sterben. Sie hatten Polizeischutz
beantragt und bekommen. Der Chefredakteur hatte zwar einmal gesagt, er würde lieber
aufrecht stehend sterben als kniend leben. Aber das bezeugt eher seinen
Starrsinn. Denn das, wofür er und seine Kollegen starben – nämlich das Recht,
Prophet Mohammed und Millionen Muslime zu beleidigen – ist wahrlich keine große
Sache.
Wie soll man zum Beispiel jemand, der
wissentlich und mutwillig auf einem Minenfeld Fußball spielen will, anders
charakterisieren als mit dem Wort „Starrkopf“? Fußball spielen kann man doch auch
auf einem anderen Feld. Oder ging es ihnen etwa um eine ernsthafte und wichtige
politische Sache? Etwa um Kritik an religiösen Aberglauben oder um Kritik an
der Stellung der Frau im Islam? Außerdem kann man doch den Islam oder Religion
überhaupt auch auf anderen Wegen
kritisieren, die nicht geradewegs auf ein Minenfeld führen! Es ist ja
spätestens seit 2005 bekannt, als die dänische Zeitung Jyllands Posten ihre Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, wie
wütend die muslimischen Massen weltweit auf solche Sachen reagieren. Seit jener
Zeit wissen alle, dass besonders beleidigende Mohammed-Karikaturen gläubige
Muslime zutiefst verletzen und dass einige von ihnen bereit sind, die
Beleidigung ihres Propheten auf mörderische und selbstmörderische Weise zu
rächen.
Angesichts dieser Vorgeschichte waren
CHs Mohammed-Karikaturen eine reine Provokation, sonst nichts. Denn das Recht
auf freie Meinungsäußerung war vor diesem Ereignis keineswegs gefährdet, weder
in Frankreich noch im übrigen Europa. Diese schlimmen Mohammed-Karikaturen sind
ja auch keine Meinungsäußerung, sondern nur Beleidigung. Den Fall Salman
Rushdie (1988), sogar die Karikaturen von Jyllands Posten, hatte man fast vergessen.
Durch diese geradezu infantile Provokation haben die CH-Redakteure nicht nur
ihren eigenen Tod verursacht, sondern auch den von drei PolizistInnen und vier jüdischen
Geiseln. Mittelbar haben sie dadurch auch den schon existierenden tiefen Graben
zwischen Christen und Muslimen weiter vertieft.
In vielen der Medien-Kommentare wurde
u.a. darauf gepocht, dass einer, der in Frankreich lebe, müsse die Verfassung
und die Gesetze des Landes akzeptieren. Dem stimme ich hundertprozentig zu, obwohl
ich nicht genau weiß, ob auch Beleidigung des Islams und der muslimischen
Gemeinschaft mittels Mohammed-Karikaturen wirklich durch die Gesetze gedeckt ist.
In Deutschland, wohl auch in Frankreich, ist es ein strafbares Delikt, die
Meinung zu äußern, dass der Holocaust nicht geschehen ist. In Frankreich darf
man nicht die Meinung äußern, dass die Armenier 1915 kein Völkermord erlitten
haben, sondern nur, wie es die Türken behaupten, hunderttausendfacher Tod durch
Kriegsgeschehen. Ich habe gehört, dass es in Frankreich nicht erlaubt ist, die
Trikolore und die Marseillaise zu beleidigen. Und die Polizei verbietet auch
manchmal aus Sicherheitsgründen die freie Meinungsäußerung mittels einer Demo.
Man könnte nun sagen, so ist halt die Gesetzeslage, Basta, Schluss der
Diskussion. Aber ist dann die Diskussion wirklich zu Ende? Angesichts des siebzehnfachen
Rachemords in Paris, und der Rachemorde, die in Zukunft geschehen könnten, ist
es notwendig, sich eines englischen Spruches zu besinnen: “When the law is an ass, someone
has to kick it” (wenn das Gesetz ein Esel ist, muss ihm jemand einen Tritt verpassen.)
Prinzip Verantwortung
Aber
gibt es nicht außer Verfassungen und Gesetzen auch das dem gesunden
Menschenverstand entsprechende Gebot, jeder soll vernünftig und verantwortlich
handeln? Auf einer Autobahnstrecke ohne Tempolimit darf man beliebig schnell fahren. Aber ist es verantwortliches Handeln, dort Tempo 280 zu fahren? Ganz klar, die
Macher von CH haben zwar legal, aber unverantwortlich gehandelt. Ihre Mörder
haben quasi gesagt: Ja, wir kennen die Verfassung und die Gesetze des Landes; mit
unserer Aktion werden wir gegen diese verstoßen; uns ist klar, dass wir dafür
bestraft werden; OK, wir nehmen jede Strafe dafür an, dass wir die Gesetze
unserer Religion befolgen und gegen die des Staates verstoßen. Starrköpfe gegen
Starrköpfe! In jeder Konstellation führt das zum Verderben. So ist halt die
Realität. Die Verfassungen der Welt sind doch nur so viele bloß auf Papier
stehende, oft fragwürdige Prinzipien.
Es gibt ein berühmtes Kant-Zitat, das
man hier als Kriterium für richtiges,
im Gegensatz zu rechtmäßigem, Handeln anwenden könnte: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.“ Soweit ich mich
erinnere, stammt es aus Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung“. Ich erinnere mich
aus meiner Studentenzeit auch, dass die Aufklärung
u.a. die Werte Vernunft und Toleranz beinhaltete – zwei Werte, die
sehr wichtig sind für den sozialen Frieden. In dem Zitat geht es um ein Gebot für richtiges Handeln. Es geht hier nicht um das Recht auf Handeln nach der jeweils aktuellen Gesetzeslage, sondern um das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung. Was kann ein höheres
Prinzip für allgemeine Gesetzgebung sein als das Wahren sozialen Friedens?
Ich kann hier auch einen modernen
Philosophen zitieren. In seinem Buch Das
Prinzip Verantwortung schrieb Hans
Jonas über unsere Verantwortung für den Frieden mit der Natur. In einem
Gespräch mit einem Interviewpartner zeigte er wenig Vertrauen in die Demokratie.
Er sagte: "Der Philosoph muss durchaus den Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber
kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches
Leben auf Erden sich lohnt."1 Im gleichen Sinne können
wir auch sagen, dass die demokratische politische Ordnung und die von
demokratisch gewählten Parlamenten verabschiedeten Verfassungen und Gesetze
nicht selber genug für die Wahrung sozialen Friedens sein können.
Jonas schrieb in dem genannten Buch:
„'Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich
sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden'; oder negativ ausgedrückt: 'Handle so, daß
die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige
Möglichkeit solchen Lebens'; oder einfach: 'Gefährde nicht die Bedingungen für
den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden'; oder wieder
positiv gewendet: 'Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige
Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein.'"2
Jonas schrieb diese Sätze aus
Sorge um den Zustand unserer natürlichen Umwelt. Wir wissen, dass das, was die
Menschheit zurzeit, schon im Rahmen der Verfassungen und Gesetze,
wirtschaftlich alles tut, fortwährend unsere natürliche Umwelt zerstört. Es
muss also auch an das Verantwortungsgefühl
von allen Wirtschaftsakteuren appelliert werden. In Anlehnung an Jonas sollten
wir allen Menschen, vor allem aber den führenden politischen Kräften der Gesellschaften,
Intellektuellen, Kulturschaffenden usw. sagen dürfen: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich
sind mit der Permanenz echten menschlichen Zusammenlebens; oder negativ
ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen
deiner Handlung nicht zerstörerisch
sind für den sozialen Frieden.
Die CH-Redakteure wussten, dass ihre
Mohammed-Karikaturen ihre fünf Millionen muslimischen Mitbürger – viele von
denen höchst willkommen geheißen wurden, als sie einst als Gastarbeiter kamen –
tief beleidigen und einige von ihnen sogar zum Mord provozieren könnten. Fünf
Millionen sind etwa 8 Prozent der französischen Bevölkerung, keine zu
vernachlässigende Größe. Trotzdem haben sie ihre Karikaturen veröffentlicht.
Was noch schlimmer ist, haben etliche politische Führungspersonen der Welt und
eine Million Franzosen durch ihre Demo in Paris die zerstörerischen Wirkungen
der genannten Karikaturenpublikation verstärkt. Das ist dadurch belegt, dass
etwa fünf Wochen später (am 14. Februar) in Kopenhagen ein Anschlag auf eine
Diskussionsveranstaltung verübt wurde, an der der Mensch teilnahm, der 2005 in Jyllands Posten die ersten Muhammed- Karikaturen
veröffentlicht hatte (eine davon stellte Muhammed als einen Hund dar.)
Haben solche Leute nicht Wichtigeres und
Dringlicheres zu tun? Ende dieses Jahres müssen die politischen
Führungspersonen der Welt in Paris wichtige Maßnahmen beschließen, um weitere
Klimakatastrophen abzuwenden. (Bisher gab es in Paris keine Demo für
Klimaschutz mit einer Million Teilnehmern.) Die Kriege in Syrien, im Irak, in
der Ukraine etc. müssen beendet werden. Auf die Flüchtlingsströme in aller Welt
muss eine adäquate Antwort gefunden werden. Der Aufstieg der rechtsradikalen
Parteien und fremdenfeindlichen Gruppierungen müssen eingedämmt werden. Und es
gibt noch viel mehr solche wichtige und dringliche Aufgaben. Aber die
europäischen Staaten sind zurzeit total damit beschäftigt, ihre
Anti-Terror-Apparate zu vergrößern und zu verstärken. So eine Kleinigkeit, das
Recht auf Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen, hat die genannten großen
und schwierigen Aufgaben von der Bühne verdrängt.
Was Tun?
Wir
wissen, militante Islamisten haben in der Vergangenheit nicht nur auf
Mohammed-Karikaturen mit Gewalttaten reagiert. Auf Salman Rushdie’s Roman Satanische Versen (1988) und einige
Texte/Äußerungen von Taslima Nasreen (bangladeschi Schriftstellerin) (1994) folgten Fatwas und Aufrufe zu ihrer Tötung. So
kann es nicht weitergehen. Es geht nicht an, dass die eine Minderheit immer
wieder beleidigt und provoziert und die andere Minderheit mit Mord und
Morddrohungen darauf reagiert. Aber man kann auch nicht ewig im Interesse des
sozialen Friedens Selbstzensur ausüben, zumal nicht jede Kritik eine
Beleidigung oder Provokation ist. Wie
sollen wir Linke, Fortschrittliche oder einfach säkular gesinnte Menschen in
solchen Fällen verhalten?
Was Richard Dawkins
„Gotteswahn“ („God delusion“) nennt3, existiert in der Welt leider
weiter. Die meisten Menschen in der Welt üben, ernsthaft oder nicht so
ernsthaft, irgendeine Religion aus. Auch die Aggression der militanten Islamisten
gegen Ungläubige und Andersgläubige, bzw. ihre aggressive Reaktion auf
bestimmte Taten der letzteren, hat Parallelen in anderen
Religionsgemeinschaften. Bei Christen ist die Zeit der kriegerisch/mörderischen
Version der aggressiven Religiosität , Gott sei dank, weitgehend vorbei. Die
Konflikte in Nordirland und Nagornokarabach sind zwei Ausnahmefälle, bei denen
es allerdings auch um den Status eines Territoriums geht. Leider ist es aber bei
zwei anderen großen Religionsgemeinschaften – den Hindus und Buddhisten – noch
nicht soweit. In Indien gehört gegenseitige gewalttätige Aggression zwischen
Hindus und Muslimen noch nicht zur vergangenen Geschichte. Neuerdings verfolgen
sogar Buddhisten, nämlich burmesische und sri-lankische Buddhisten ihre muslimischen
Landsleute – im Namen der buddhistischen Identität ihres Landes. Neben den
gesetzmäßigen Aktionen der Polizei und Sicherheitskräfte gegen gewalttätige Fundamentalisten
jeder Religion sollte jeder vernünftige Mensch gegen solche aggressive Religiosität
kämpfen – im Sinne der Zivilgesellschaft. Aber wie kann man das tun? Wie können
wir die militanten Fundamentalisten zur Besinnung bringen?
Eines kann wohl widerspruchslos
gesagt werden: Durch Beleidigungen
und Provokationen erreicht man keine
positiven Ergebnisse. Im Gegenteil, sie schüren nur Hass und Gewalt. Das haben
wir in den letzten 25 Jahren gesehen. Damit kann man nur immer neue Konflikte
vom Zaun brechen. Das ist auch so, wenn es sich nicht um Beleidigung einer
Religion handelt. Auf eine Beleidigung reagieren nicht alle Menschen mit Gang
vors Gericht. Auch bei Nichtreligiösen, wenn zum Beispiel Mensch A seinem
Mitmenschen B sagt, der Vater des letzteren sei ein Dieb und dessen Mutter sei
eine Dirne, dann verpasst B dem Beleidiger gleich eine Tracht Prügel –
unabhängig von dem Wahrheitsgehalt der Beleidigung. Das ist die Realität.
Es ist auch den Sicherheitskräften
nicht möglich, den Kampf gegen religiös motivierte Gewalttaten und Terrorakte endgültig
zu gewinnen. Nach jedem Einzelerfolg in dieser Hinsicht werden sie mit neuen
Gewalttaten und -drohungen von neuen militanten Gruppen konfrontiert. Auch das
gehört zu unserer Erfahrung der letzten 25 Jahre. Militante Dschihadisten, die
keine Angst haben zu sterben, die sogar bereit sind, sich selbst in die Luft zu
sprengen, um den Feind zu töten – bei solchen Leuten wirken die üblichen
Strafdrohungen nicht. Da stehen die Sicherheitskräfte der Welt ratlos da.
Das Problem müssen wir also an der
Wurzel packen. Dazu müssen wir aber die Wurzel erst einmal erkennen. Zu diesem
Thema habe ich zuerst vor zehn Jahren einen kurzen Artikel veröffentlicht. Der
Anlass damals war die Ermordung des Amsterdamer Filmemachers Theo van Gogh, der
den Islam beleidigt hatte. Ich bitte meine Leser, den Artikel zu lesen. Hier
ist der Link:
http://ak-oekopolitik.blogspot.de/search?q=Religionen
Meine
aktuellen und vorläufigen Gedanken zu der Frage „was tun?“ führe ich unten aus:
Dass
die meisten Menschen überhaupt religiös sind – das heißt, grob gesagt, an die
Existenz eines oder mehrerer mehr oder minder mächtigen übernatürlichen Wesen(s)
glauben (supernatural agents, Gott, Götter, Göttinnen, ancestors) – liegt nach
Wissenschaftlern wie Richard Dawkins3 und Pascal Boyer4 an
der phylogenetischen Anlage der Spezies Mensch. Die Tatsache, dass Religion in
ihrem breitesten Sinne ein universales Phänomen ist, ist der Beleg dafür. Wir
Atheisten und Linke können also nicht darauf hoffen, dass das Phänomen Religion
eines Tages von selbst ganz aufhören wird zu existieren. Außerdem zeigt unsere
Erfahrung, dass wenn eine Person in eine Religionsgemeinschaft hineingeboren
ist, wird diese Religion zu einem festen Bestandteil der Identität dieser Person, die sie äußerst schwer abstreifen kann. Das
erklärt, warum zum Beispiel neuerdings die Yezidis in Nord-Syrien es ablehnten,
sich zum Islam bekehren zu lassen, und es hinnahmen, von den ISIL-Kämpfern
getötet zu werden.
Wir müssen also langfristig daran
arbeiten, dass zumindest der Einfluss der radikalfundamentalistischen Versionen
der großen Religionen eingedämmt werden. Wir sollen nicht diese oder jene
Religion, nicht Allah, Jahve, Jesus oder Shiva kritisieren, sondern versuchen,
die Relevanz der Religion überhaupt, besonders im praktischen Leben, zu
relativieren. Wir können Epikur zitieren. Er soll gesagt haben: “Ist es so,
dass Gott Übel verhindern will, es aber nicht kann? Dann ist er nicht
allmächtig. Oder ist es so, dass er es kann, es aber nicht will? Dann ist er böswillig.
Oder er kann es und will es auch? Wo kommt dann das Übel her? Oder ist es so,
dass er es weder kann noch will? Warum nennt ihr ihn dann Gott?“5 Wir
können unseren religiösen Mitmenschen sagen: Liebe Freunde, ihr betet so oft
pro Tag. Nichts dagegen. Aber euer Gott hilft euch doch nicht. Lassen wir also
unsere Götter und unsere Religionen in unserem privaten Gebetsraum, und
versuchen wir zusammen, diese schlechte Welt etwas erträglicher zu machen. Das
Heil kann warten. Essen muss man aber schon heute.
Das ist eine schwierige Arbeit. Denn
alle Religionen sind potentiell fundamentalistisch interpretier- und anwendbar.
Wie Religionswissenschaftler Klaus Kienzler in Bezug auf die großen Religionen schreibt:
„Wir haben gesehen, dass zum Wesen von Religion eine
Reihe unverzichtbarer Fundamente gehören: die religiösen Quellen wie Schrift
und Tradition, Orthodoxie und Orthopraxie u.a. … [Also] kann auch hier gesagt
werden, dass alle Religionen in der Gefahr stehen, alle diese Fundamente
fundamentalistisch zu verkehren, … .“.5a
Es ist so, besonders weil es
behauptet wird, dass die heiligen Schriften oder zumindest die wichtigeren
Teile davon direkt von Gott offenbart, sogar diktiert (der Koran) oder
ausgehändigt (die Zehn Gebote) worden sind. Zwar versteht die moderne
christliche Theologie die Offenbarung in ihrer heiligen Schrift nicht so, aber
„in der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel von 1978 heißt es …:
‚Wir bekennen, dass die Schrift als Ganzes und in allen ihren Teilen, bis hin
zu den einzelnen Wörtern der Originalschriften, von Gott inspiriert wurde.‘ “6
Bei solchen Verständnissen der jeweiligen heiligen Schrift kann es einem
charakterlich militanten Menschen, dessen Hauptidentität seine Religion ist, nicht
schwerfallen, Ungläubige zu verfolgen, gar zu töten, oder mit einer Bombe eine
Abtreibungsklinik in die Luft zu sprengen. Wir müssen bedenken, dass zwar die
spektakulären Anschläge von Einzeltätern oder kleinen Gruppen von militanten
Fundamentalisten verübt werden, dass sie aber ihre Inspiration und ihren Mut von
einem großen Umfeld von Hunderttausenden von Fundamentalisten schöpfen. Darum
genügt es nicht, dass die Sicherheitsbehörden potentielle Attentäter beobachten
und unschädlich machen. Das Problem muss auch breitflächig behandelt werden.
Was wir ganz sicher tun können, ist,
unseren gläubigen Mitmenschen freundlich und höflich zu sagen, sie sollen ihre
heiligen Schriften nicht als klare Worte
Gottes betrachten. Die Gläubigen wissen, dass alle ihre heiligen Bücher schließlich
von Menschen geschrieben wurden (alle Propheten, auch Prophet Muhammed, waren ja
Menschen, fehlbar wie jeder Mensch). Die Niederschriften von „Gottes Worten“
sind alles andere als klar. Darum gibt es ja so viele Stellen in den heiligen
Büchern, die interpretationsbedürftig sind und auch verschiedentlich
interpretiert worden sind. Den fundamentalistischen Interpretationen stehen
moderate/liberale Interpretationen gegenüber. Ich gebe hier nur ein Beispiel:
Asghar Ali Engineer, ein gläubiger Muslim und ein Islam-Gelehrter, schreibt
über den Begriff Kafir (Ungläubiger,
Heretiker):
“Der Koran schuf eine
Kategorie Ahl al-kitab (Völker des
Buches). Alle, denen Allah seine Botschafter und das Buch schickte, wurden Volk
des Buches genannt. Der Koran erwähnt in dieser Kategorie Christen, Juden und
Sabaens. Allerdings sind diejenigen nicht ausgeschlossen, die im Koran nicht in
dieser Kategorie erwähnt worden sind. Viele andere, wie die Zoroastriers, waren
in diese [zweite] Kategorie einbezogen. Die Sufi-Heiligen wie Mazhar Jan-i-Janan
schlossen die Hindus in diese [zweite] Kategorie ein. Als Argument dafür
führten sie an: Wie konnte Allah es vergessen, seine Botschafter nach Indien zu
senden? Er hatte doch versprochen, seine Botschafter an alle Nationen zu
senden! Er akzeptiert die Veden [des
Hinduismus] als offenbarte Schriften. Er dachte (fühlte) auch, dass die Hindus
Monotheisten seien, da sie an einen Gott glauben, der nirgun und nirakar (d.h.
ohne Eigenschaften und Gestalt) sei, was die höchste Form von tawhid (Monotheismus) sei.“7
Dies
zeigt, dass auch der Islam reformfähig ist. Darum gibt es ja auch im Islam, wie
im Christentum, so viele Strömungen und Sekten.
Gläubigen und andersgläubigen
Mitbürgern das sagen zu können und zu dürfen, setzt allerdings voraus, dass wir
regelmäßige soziale Kontakte zu ihnen haben und pflegen. Nur durch solche
Kontakte kann es uns Atheisten und Linken gelingen, die Werte von Aufklärung,
Toleranz und gegenseitiger Achtung zu fördern, die mentalen Barrieren zu
beseitigen. Es ist kontraproduktiv, eine Multikulti-Gesellschaft zu fördern und
zu akzeptieren. Das würde bedeuten, separate Existenz von Parallelgesellschaften
zu fördern und ihre Existenz zu akzeptieren. Die andersgläubigen müssen
stattdessen in das gesellschaftliche Leben der Bevölkerungsmehrheit einbezogen
werden.
Es ist klar, Kontaktpflege mit
radikalen und militanten Fundamentalisten ist für uns nicht möglich. Aber die
große Mehrheit der Menschen in jeder Religionsgemeinschaft, also auch in der
islamischen, ist alles andere als fundamentalistisch gesinnt. Sie glaubt an das
Prinzip leben und leben lassen, befolgt nicht jedes Gebot der heiligen
Schriften. Und es gibt in der Welt, auch in muslimischen Ländern, viele
liberale, moderne, progressive und sogar linke Muslime. In Ägypten und Tunesien
haben neulich mehrere Millionen muslimische Bürger, die Herrschaft der Muslimbrüder beendet. Durch
Zusammenarbeit mit solchen Leuten könnte eine Atmosphäre geschaffen werden, in
der alle gläubigen Muslime auf eine Beleidigung des Islams oder des Propheten
Muhammed mit dem Satz reagieren würden: „Das lässt mich kalt“. Diesen Satz
hörte ich tatsächlich in einer TV-Sendung; eine Islamwissenschaftlerin, die in
einer Schule Religion unterrichtet, sagte das. Das lässt hoffen.
Was noch helfen würde, ist, dass liberale
muslimische Islamwissenschaftler, die ihren Glauben auch praktizieren, es wagen,
historisch-kritische Arbeiten über die Schriften ihrer Religion zu
veröffentlichen. Ein Beispiel davon habe ich oben erwähnt, das Zitat von Asghar
Ali Engineer. Wenn es zu gefährlich ist, könnten solche Arbeiten auch anonym
veröffentlicht werden. Vor ein paar Tagen hörte ich im Fernsehen eine gute
Nachricht: Ein französischer muslimischer Akademiker fordert eine Reform des
Islams. Er fordert auch eine historisch-kritische Studie seiner Religion. Das
gleiche hörte ich wieder im Fernsehen am 23. Februar. Islamgelehrte der
berühmten Al-Azhar-Universität von Kairo sprachen da auch von der Notwendigkeit
einer Reform des Islams.
Eine Sache, die wir nicht können, ist, den Zorn und Hass von allerlei
Muslimen auf die euro-amerikanischen Imperialisten und israelischen
Kolonialisten zu mildern, die seit langem muslimische Völker politisch und
ökonomisch unterjochen und demütigen. Ein Nebenprodukt davon ist, dass die
meisten, wenn auch nicht alle, Westler allgemein verdächtigt werden, Feinde
und Hasser des Islams und der muslimischen Welt zu sein. Die Geschichte gibt
auch genug Anlass dafür. Denken wir nur an die Kreuzzüge, den Irak-Krieg von
2003, Abu Ghraib, Guantanamo Bay, die Behandlung der Palästinenser usw. Klar,
mit tatsächlichen Islamhassern unter den Westlern können Muslime keinen Kontakt
pflegen. Darum ist es äußerst wichtig, dass gesprächswillige Westler eine
antiimperialistische Gesinnung an den Tag legen, bevor sie versuchen, Kontakt
mit Muslimen aufzunehmen.
Aber bloßer Antiimperialismus reicht
nicht. Notwendig ist eine große Sache, eine positive, die zum Engagement
inspiriert. Ihr Hass auf die Imperialisten führte abertausende junge Muslime
ins Lager vom Al Qaida und ISIS, wo ihre große Sache ein „Gottesstaat“ ist. Auch
die energetischen jungen Muslime, die mit soviel Elan den Arabischen Frühling
aus dem Boden stampften, brauchen eine große Sache, für die sie sich wieder engagieren könnten.
Ich kann ihnen die folgenden Sätze von Asghar Ali Engineer anbieten:
“Der Koran gebraucht … das Wort Jihad für moralischen Kampf. Es ist die Pflicht jedes Muslim’s, den
Kampf für die höchste moralische Qualität fortzusetzen, für die seiner eigenen
Person wie auch für die der Gesellschaft, in der er lebt. Der Kampf gegen die
Korruption, gegen Umweltverschmutzung, für die Menschenrechte, für
Gerechtigkeit gegenüber den schwachen Gesellschaftsschichten und andere ähnlich
erhabene Sachen ist Teil des Jihad.
Alles, was der leidenden Menschheit ihr Leiden lindert, ist Teil des Jihad im Sinne Allah’s.“8
Ohne
den Bezug auf Allah könnte man das den Kampf für eine ökosozialistische
Gesellschaft nennen.
Quellennachweis
1. Jonas,
Hans : Gespräch mit Eike Gebhardt, in: Ethik für die Zukunft - Im
Diskurs mit Hans Jonas, Hg. v. Dietrich Böhler, Verlag C. H. Beck, München
1994. S. 210-211 ISBN
978-3406386558 zitiert in: br-online.de.
(zitiert aus dem Internet)
2. Jonas,
Hans :Das Prinzip Verantwortung. S.36 (zitiert aus dem Internet).
3.
Dawkins, Richard (2007) Der Gotteswahn.Berlin:Ullstein.
4. Boyer, Pascal (2002) Religion Explained – The Human Instincts that Fashion Gods, Spirits and
Ancestors. London: Random House.
5.
Epikur (zitiert aus dem Internet).
5a.
Kienzler, Klaus (1999) Der religiöse
Fundamentalismus – Christentum Judentum Islam. München: C.H. Beck. S. 23.
6. ibid. S. 41.
7. Engineer, Asghar Ali (2008) Islam – Misgivings and History. New
Delhi: Vitasta Publishing. S. 222f.
8.
ibid. S. 227.