Mittwoch, 25. November 2015

The Refugee-Migrant Crisis of the EU -- Its Deeper Causes and Messages

25.11.2015

 Dear friends,

 I have today posted my essay entitled

The Refugee-Migrant Crisis of the EU – Its Deeper Causes and Messages

on my English language blog site


 I hope you are interested in the subject. I also request you to forward it to politically

  interested people and activists and/or publish it in some/your journal or web site.

 With best wishes

Saral Sarkar

Freitag, 2. Oktober 2015

The Environment of India's Silicon Valley capital Bangalore -- a Few Pictures



2.10.2015

Dear friends,

On Mahatma Gandhi's birthday anniversary, I would not write too much. Just a quote. He wrote in 1928:


"The economic imperialism of a single tiny island kingdom [Britain] is keeping the world in chains. If an entire nation of 300 million took to similar economic exploitation, it would strip the world bare like locusts."

And, in a sort of corroboration, I offer here a few pictures of India's Silicon Valley capital Bangalore. This is only a part of the price a Third World country pays for getting richer and getting more populous simultaneously. India's current population is around 1.3 billion.

http://www.theguardian.com/world/gallery/2015/oct/01/lake-toxic-foam-bangalore-india-in-pictures.

Saral


Freitag, 4. September 2015

Root Causes of the Cleavages Among the Ecological Left


Liebe Freunde,

Ich habe vor zwei Tagen auf meiner englischsprachigen Blog

      www.eco-socialist.blogspot.de

einen neuen Artikel gepostet. Er trägt den Titel

     Root Causes of the Cleavages among the Ecological Left

Ich hoffe, Sie finden ihn interessant und möchte Sie bitten, ihn an potentiell Interessierte weiterzuleiten oder gar irgendwo zu veröffentlichen.

Mit freundlichen Grüßen


Saral Sarkar

Dienstag, 25. August 2015

Zur Bedeutung und Brauchbarkeit des Begriffs "Entwicklung" in der Nachhaltigkeits Diskussion -- einige Terminologische Klärungen


 Vor einiger Zeit (21 May 2015) veröffentlichte ich in meiner englischsprachigen Blogseite (www.eco-socialist.blogspot.de) den Aufsatz Victorious in War But Defeated in Peace – How Development-Socialism Ended in Capitalism. Daraufhin bekam ich, was ich sehr selten erfahre, ein paar Zuschriften. Das zeigte, dass der Inhalt des Aufsatzes ein bisschen Interesse erweckt hatte. Eine dieser Zuschriften kam von meinem Freund und Sympathisanten Herrn Raul Claro, ein Chilene, der seit etwa fünf Jahrzehnten in München lebt und politisch aktiv ist. In seinem Schreiben äußerte Herr Claro einige Bedenken über und etwas (konstruktive) Kritik an die/der negative(n) Haltung der radikalen Ökologen gegenüber der Idee und dem Begriff der Entwicklung. Ich musste darauf sowieso antworten. Ich benutzte aber diese angenehme Pflicht, in einem längeren Schreiben (in zwei Teilen) einige Unklarheiten bei diesem Begriff und einigen damit assoziierten Sachen zu beseitigen. Dessen Ergebnis (samt Herrn Claros Zuschrift) macht den hier veröffentlichten Blog aus.

24.05.2015

Lieber Herr Sarkar,

vielen Dank für diesen sehr interessanten Artikel, den ich auch als für mich herausfordernd empfinde – bei aller Zustimmung in der Richtung. Ich schicke ihn auch an andere. Wird er auch auf Deutsch in Ihrem Portal erscheinen? Manche lesen nicht, oder nur ungern English.
    Wenn ich aus meinen Interessen, Überzeugungen und Ansichten heraus auf Ihre Artikel (und auch auf die von anderen Autoren) reagiere und in mir Widerspruch sehe, frage ich mich, natürlich, woher dieser stammt. Und ich sehe oft die Quelle des Meinungsunterschieds in den unterschiedlichen Ebenen, auf denen man sich bewegt.
    Jeder kritische Autor scheint irgendwie eine Entscheidung getroffen zu haben, welche genau dosierte Mischung von Realitäts- und Idealitätssinn er für sein Denken und Urteilen anwenden wird. Ich glaube, man geht dabei nicht besonders explizit und bewusst vor, sondern es sind bestimmte schwer zu definierende Faktoren, die ihm die Wahl selbstverständlich machen - und so ist diese Wahl sehr speziell und daher verschieden von der anderer Autoren. Vielleicht ist die Kommunikation und Auseinandersetzung leichter, wenn diese Ebenen-Wahl explizit gemacht und mit in die Diskussion einbezogen wird.
    So geschieht es mir in letzter Zeit oft mit dem Begriff "Entwicklung". Es ist ein wichtiges Thema für mich seit über 40 Jahren, als ich mich als Chilene in München Ende der 60er Jahre für Politik und die Lage unterentwickelter Länder interessiert habe. In letzter Zeit habe ich auch ein Buch dazu veröffentlicht (auf Spanisch).
    Heute finde ich, dass in den reichen Ländern diese Frage weitgehend aus der Diskussion verschwunden ist, oder wenn sie auftaucht, jedenfalls in fortschrittlichen Kreisen, eher negativ, eher als Irrweg und abzulehnende Zielsetzung beurteilt wird. Verschwunden ist sie, weil die Globalisierung davon gar nichts wissen will, da Entwicklung primär als Sache eines Nationalstaates (zu recht) verstanden wird, und insofern wären die nationalen Entwicklungsbestrebungen ein "Handelshemmnis" für Globalisierungsbegeisterte, eine Verzerrung der Märkte. Für Linke, vor allem Degrowth-Aktivisten, wiederum ist Entwicklung der gerade Weg in die gesellschafts- und naturzerstörende kapitalistisch-industrielle Wirtschaft, die wir bei den OECD-Ländern vorfinden und bekämpfen.
    Ich verstehe aber unter Entwicklung (in Anlehnung an Dieter Senghaas u. a.) das, was in der heutigen Welt notwendig ist, wenn eine Nation einen annehmbaren Grad an Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, eigener Kompetenz haben will. In diesem Sinne ist Entwicklung (Sie zitieren Otto Ulrich) mit ganz anderen technischen Möglichkeiten und Niveaus kompatibel als wir sie heute in der OECD kennen. Der Begriff sollte nicht mit der heutigen industriellen Verfassung der Wirtschaft identifiziert werden. Er sollte aber auch nicht aufgegeben werden, (man kann ein anderes Wort dafür finden, vielleicht), wie es heute geschieht, in unbewusster Befolgung des Globalisierungsimperativs.
    Der Begriff, unter welcher Bezeichnung auch immer, steht für eine Gemeinschaft, die – groß oder klein – sich als demokratische   Einheit sieht neben anderen, von denen sie sich unterscheidet und mit denen sie sich austauscht. Wie halt Deutschland, Chile, Indien, China, Vietnam, Kenia sich aufgrund einer hohen Pflege von Wissenschaft (hoffentlich einer anders gewichteten) und Technik (hoffentlich einer nicht zerstörerischen) in der Lage ist, ihre gesellschaftlichen Fragen möglichst frei und angemessen zu lösen; dabei möglichst auf die eigenen Ressourcen, Kreativität, selbstbestimmte demokratische Entscheidungen zurückgreift, ohne Isolierung oder illusorische Autarkie-Vorstellungen;
    -  daher auch eine Betonung der Binnenwirtschaft und des Binnenmarktes gegenüber dem Außenhandel und den Fremdinvestitionen pflegt;
    - daher auch eine gut vernetzte Binnen-Wirtschaft organisiert, wo die Produktionseinheiten eher sich untereinander vernetzen als mit entfernten fremden: Es wird für die eigene innere Wirtschaft und Bevölkerung produziert, nicht in erster Linie für den Export.
    In zwei Worten also:  Entwicklung soll für eine Weltwirtschaftsverfassung stehen, in der es relativ souveräne Einheiten gibt, die vollkompetent sind und sich nicht gefallen lassen müssen, reine Glieder der globalen Wirtschaftsproduktions- und -konsumketten der großen Unternehmer der OECD-Länder zu sein.
    Er ist ein Kampfbegriff gegen die neoliberale Globalisierung. Der Begriff hat keine Rolle gespielt in dem Aufbau vom europäischen Binnenmarkt - und jetzt sehen wir die Folgen in den südeuropäischen Ländern: verarmt, abhängig, gezwungen, ihre Ressourcen, Reichtümer und Errungenschaften an die eh Viel-zu-Reichen abzugeben, um Schulden zu bezahlen. Ihre eigenständige Entwicklung stand (und steht) nicht zur Diskussion.
    Daher halte ich das Vergessen des Begriffs der Entwicklung für einen der großen Triumphen der Globalisierungsbefürworter. Dadurch konnten sie den Freihandel und die Auslandsinvestition zu Ikonen der modernen Welt machen und sich damit die Fortsetzung der kolonialen Strukturen (mit anderen Mitteln) sichern. Ich sehe auch in den Flüchtlingsströmen genau die Folge von der ausgebliebenen Entwicklung, die nach dem Krieg den (z. B. afrikanischen) neuen Nationen versprochen wurde.
    Diese Ausführungen zeigen was ich mit den anfangs genannten verschiedenen Ebenen meine. Ich denke, unsere Hauptaussagen und Meinungen sind durchaus kompatibel, die stoßen nicht gegeneinander, weil die Ebenen je andere sind.
     Ich wäre voll Ihrer Meinung, wenn die Ablehnung des Industrialismus dazu führt, dass wir eine andere Entwicklung, andere Wissenschaft (????) und Technik anstreben. Ja, unbedingt anderes da. Aber ich kann nicht mitziehen, wenn sie bedeuten würde, dass wir, gleich den Globalisierungsbefürwortern, keinen Wert darin sehen, dass sich die Länder Afrikas, Lateinamerikas... selber wissenschaftlich-technisch kompetent machen und dadurch verhindern, dass sich ihre abhängige Rolle als Rohstofflieferanten für die OECD verfestigt.
     Man müsste vermutlich viel diskutieren ... . Nun ja, ich denke, was ich meine, ist irgendwie klar

 Herzliche Grüße und nochmal Dank für Ihren Beitrag.

Raul Claro


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24.05.2015

Lieber Herr Claro,

vielen Dank für Ihre obige Mail. Ich habe mich sehr darüber gefreut. Was Sie da geschrieben haben, ist sehr viel Diskussionsstoff. Das kann man nicht in ein paar Sätzen erledigen. Darauf werde ich mich einlassen, wenn ich etwas Ruhe habe. … . Ein mögliches Missverständnis Ihrerseits will ich aber gleich beseitigen. Ich bin kein Befürworter der Globalisierung. Wenn ich den Begriff "globales Project" benutze, bedeutet das weltweit, in vielen Ländern.  Ich habe in meiner deutschen Blogseite (
www.ak-oekopolitik.blogspot.de) auch einen Artikel über Bhutan (http://ak-oekopolitik.blogspot.de/2014/01/bhutan-ist-keine-insel-die-zukunft-des.html). Da sehen Sie, wie ein schönes, viel versprechendes Projekt scheiterte, weil kein anderes Land das gleiche versuchte.

Mit herzlichenGrüßen

Saral Sarkar


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13.06.2015 bis 21.06.2018

Lieber Herr Claro,

Ich habe Ihnen kurz auf Ihr Schreiben vom 24.05. geantwortet. …. Jetzt komme ich zu den substanziellen Punkten Ihres Schreibens, auch diesmal nur kurz. Dies ist eine vorläufige Antwort, nicht gründlich überlegt. …. .
    Ich möchte Ihnen im Voraus sagen, dass ich Ihnen in manchen Punkten widersprechen muss. Ihre Logik kann ich nicht immer nachvollziehen. Ich verstehe nicht, warum Sie auf Weiterbenutzung des Begriffs "Entwicklung" beharren, obwohl Sie mit meiner ökologischen Begründung des Sozialismus einverstanden sind (ich dachte so.). In diesem Schreiben kann ich nur auf einige der vielen Punkte eingehen, die Sie angeschnitten haben.

Zur Ebenen-Wahl

Sie haben recht. Ich habe meine Ebenen-Wahl (wie Sie es ausdrücken) schon explizit gemacht – schon 1994, als ich anfing, mein Buch Eco-Sozialism or Eco-Capitalism? (auf Deutsh Die nachhaltige Gesellschaft) zu schreiben. Wenn Sie die Einleitung noch einmal anschauen, dann merken Sie wohl, dass ich mich nicht primär als Inder verstand, sondern als Mensch. Meine Sorge und mein Interesse galten schon damals nicht meiner Heimat Indien, nicht der Dritten Welt, nicht der Entwicklung, sondern der Erde, der Welt und der Menschheit. Ich dachte damals, dass weder Indien noch der Dritten Welt wirklich geholfen werden kann, wenn wir nicht an der Rettung des Planeten und der Menschheit arbeiten. Wenn wir über Indien (oder die Dritte Welt) diskutieren müssen, müssen wir das vor dem Hintergrund der Lage der Erde, der Welt und der Menschheit  tun.
    Ich habe auch explizit gemacht, welche Mischung von Realitäts- und Idealitätssinn ich anwende. In der Einleitung des genannten Buches steht ein Abschnitt mit dem Titel "einige grundsätzliche Standpunkte"; das ist der Ausdruck meines Idealitätssinn. Im Kapitel 6 steht ein Abschnitt mit dem Titel "Öko-sozialistische Politik für heute und morgen". Das ist der Ausdruck meines Realitätssinn. Ich habe immer gemeint, man kann keine sinnvolle Politik machen, wenn nicht zuerst die grundsätzlichen Fragen geklärt sind.

Zum Begriff "Entwicklung"

(1) Ich finde es gut, dass der Begriff "Entwicklung" aus der Diskussion gezogen worden ist. Wenn das noch nicht geschehen ist, sollte das spätestens jetzt geschehen – und zwar aus den Gründen, die die De-Growth-Aktivisten anführen. Ein Kampfbegriff gegen neoliberale Globalisierung ist Entwicklung längst nicht mehr. Die zwei sind sehr gut kompatibel, zumindest auf der Ebene der Hoffnung. Das habe ich in meinem oben genannten Artikel begründet (
http://www.eco-socialist.blogspot.de/2015/05/victorious-in-war-but-defeated-in-peace.html).
    Seien Sie also vorsichtig mit dem Begriff "Entwicklung". Sie können nicht plötzlich eine rein private/willkürliche Definition in die öffentliche Diskussion einführen – eine, die Ihrer Meinung nach die richtige sein sollte. Wegen der Ökologie- und Ressourcenproblematik haben viele Opportunisten daraus "nachhaltige Entwicklung" und "nachhaltiges Wachstum" gemacht. Das waren sowohl Businessleute als auch Grüne Parteien und Umweltschutz- verbände. Auch der Brundtland-Bericht (1987) – eine UNO-Sache – hat diesen Missbrauch des Begriffs "nachhaltig" betrieben, um das Entwicklungsstreben zu verteidigen, es den ökologisch bewussten Menschen schmackhaft zu machen. Alle ehrlichen Ökologen haben allerdings so was als ein Oxymoron entlarvt. Auf Deutsch habe ich den Begriff "ein schwarzer Schimmel" benutzt. Nichtsdestotrotz geht der Missbrauch weiter. Erst seit kurzem werden solche Begriffe infrage gestellt. Inzwischen gibt es "De-Growth", "Postwachstumsgesellschaft" etc.
    Von der UNO-Seite kam auch "human development". Aber das war eine andere Kritik der traditionellen Entwicklungsidee, keine ökologische und ressourcenbezogene.
    Wenn man Entwicklung – sowohl die Sache als auch den Begriff – aus den genannten Gründen ablehnen muss, bleibt noch die Frage "Was ist mit dem Fortschritt?". Ich denke, man kann schon von Fortschritt reden, ohne dabei Wirtschaftsentwicklung zu meinen. Den Begriff "Fortschritt" kann man problemlos neu definieren, da er nicht so festgeklopft ist wie "Entwicklung". Ich habe das im Kapitel 7 meines Buches Die nachhaltige Gesellschaft.getan. Ich wäre glücklich gewesen, wenn die UNO von human progress (oder societal/social progress) gesprochen hätte.
    Ihre Definition von Entwicklung – "Ich verstehe aber unter Entwicklung (in Anlehnung an Dieter Senghaas u. a.) das, was in der heutigen Welt notwendig ist, wenn eine Nation einen annehmbaren Grad an Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, eigener Kompetenz haben will." – kann selbst einer einzelnen Nation nicht helfen, geschweige denn der Welt, weil (a) das zu vage ist. Was und wie viel ist annehmbar/notwendig? ; (b) weil hier auf einer anderen Ebene argumentiert wird. Sie schreiben "in der heutigen Welt", während wir schon heute um die zukünftigen ökologischen und ökonomischen Auswirkungen unseres heutigen Handelns besorgt sein müssen (sonst …..); (c) weil hier so getan wird, als wäre die Situation so geblieben ist wie in den 70er Jahren (als Senghaas wohl seine Texte schrieb).
    In dem Zitat redet Otto Ullrich vom Sozialismus, nicht von Entwicklung. Das sind zwei verschiedene Sachen. Wenn man den Begriff "Entwicklung" überhaupt noch benutzen wollte, dann sollte man das nur im Sinne der Differenzierung tun, die Herman Daly, wohl auch in den 70er Jahren, zwischen Entwicklung und Wirtschaftswachstum gemacht hatte:

"Wachstum bedeutet eine quantitative Zunahme des Ausmaßes der materiellen Dimensionen der Wirtshaft. ›Entwicklung‹ bedeutet die qualitative Verbesserung der Struktur, des Designs und der Zusammensetzung des Bestands an materiellen Reichtümern – eine Verbesserung, die aus größerem Wissen sowohl über Technik als auch vom Zweck [des Wirtschaftens] resultiert. Eine wachsende Wirtschaft wird größer, eine sich entwickelnde Wirtschaft wird besser. Eine Wirtschaft kann sich also entwickeln, ohne zu wachsen, oder wachsen, ohne sich zu entwickeln. " (Daly, zit. n. Sivaraksa 1996: 70)

Aber Dalys Definition konnte sich nicht durchsetzen.

(2) Ich erinnere mich an zwei Aufsätze, die wohl in den Siebzigerjahren erschienen waren. Da hatten Dieter Senghaas, Samir Amin etc. den Begriff "autozentrierte Entwicklung" (Sie sagen "eigenständige Entwicklung"), wohl im Gegensatz zu weltmarktzentrierte Entwicklung, eingeführt und allen unterentwickelten Ländern eine diesbezügliche Politik empfohlen ( Bitte korrigieren Sie mich, wenn das nicht stimmt!). Wenn ich mich richtig erinnere, hatten Senghaas et al. dabei China und Nordkorea als Beispiele erwähnt (Gegenbeispiele waren die sog. Asiatischen Tiger). Sie wissen doch, wo diese zwei Länder heute stehen. Aber auch diese Kritik von Senghaas et al war keine ökologische und ressourcenbezogene Kritik von Entwicklung, sondern eine Kritik der weltmarktorientierten Entwicklung.
    Auch Indien versuchte unter der Führung von Nehru eine ähnliche Politik: Das Ziel war "a socialistic pattern of society". Da war damals die Rede von "import-substituting" development. Kein Anschluss an den freien Weltmarkt. Der Staat plante und regulierte damals Investitionen. Ausländisches Kapital kam ins Land in der Form von Darlehen (von reichen Staaten: USA bis UdSSR) und private Kapitalinvestitionen in Form von "joint ventures". Aber auch diese Politik scheiterte. 1991 gab Indien diesen Weg auf.
    Wenn also (a) autozentrierte (eigenständige) Entwicklung versucht wurde, aber scheiterte, (b) wenn Entwicklung nur auf dem Weg der Integration in den freien globalisierten kapitalistischen Weltmarkt möglich war (warum das so sein musste, habe ich in meinem oben genannten Artikel über das Scheitern des "development socialism" gezeigt), und (c) wenn Herman Dalys Definition des Begriffs "Entwicklung" nirgendwo akzeptiert worden (geläufig geworden) ist, dann ist es überaus sinnvoll, dass unsereins diesen Begriff ganz fallen lassen und für unsere Ideen einen anderen benutzen. Ich benutze meist den Begriff "nachhaltiges Wirtschaften" oder, noch breiter gemeint, "nachhaltige Gesellschaft" (so der Titel meines Hauptwerks in deutscher Übersetzung) statt "nachhaltige Entwicklung". Ein Aufsatz von mir trägt den Titel "Nachhaltige Entwicklung – vergeblicher Rettungsversuch für eine sterbende Illusion". Der Vorzug dieser von mir benutzten Begriffe ist, dass sie auch die Notwendigkeit des Stoppens des Bevölkerungswachstums beinhalten, während "Entwicklung" das nicht tun kann und nie getan hat. Das ist verständlich. Wenn Wirtschaftsentwicklung wünschenswert und möglich ist, dann ist doch Bevölkerungswachstum kein Problem!
    Ich teile Ihre Kritik an der neoliberalen globalisierten Wirtschaftsordnung hundertprozentig. Aber daraus folgt nicht dass "Entwicklung" "ein Kampfbegriff
gegen die neoliberale Globalisierung war oder sein kann. Warum soll man überhaupt gegen die neoliberale Globalisierung sein? Die Geschichte der letzten Jahrzehnte zeigt doch, dass gerade die neoliberale, globalisierte und kapitalistische Weltwirtschaftsordnung es möglich gemacht hat, dass ehemalige bitterarme Völker wie die Inder, Bangladeschis, Kambodschaner usw. heute einen gewissen Grad an Wohlstand genießen (auch die ehemals Bitterarmen genießen heute Fernsehen und Telekommunikation). Sie sind zwar in diesem Prozess abhängig geworden, aber was wollten diese Völker in den 1990er Jahren mehr? Etwas Wohlstand oder Unabhängigkeit? Wie Nordkorea bleiben oder wie Vietnam sein? Wir brauchen die Tatsachen nicht zu leugnen, um für unsere Ideale zu kämpfen.
    Wenn Sie einen Kampfbegriff brauchen, dann benutzen Sie doch "nachhaltiges Wirtschaften", "Steady-State-Ökonomie auf niedrigem Niveau", "Wirtschaftsschrumpfung" aus ökologischen Gründen, "De-Growth" usw., oder halt "Ökosozialismus"! Der letzte drückt auch den Kampf gegen den Kapitalismus aus. In meinem Buch Die nachhaltige Gesellschaft habe ich aus einem Spiegel-Bericht Folgendes über hochrangige Beamten der Administration des Präsidenten Bush Senior zitiert:

"Die Bush-Gehilfen argwöhnen, die weltweit geschlagenen Verfechter der Planwirtschaft strebten nun über den Umweltschutz an, was ihnen im kalten Krieg versagt blieb: den Sieg über den Kapitalismus. So hatte Darman [ein Mitarbeiter von Bush] … Angst vor ›radikalen Grünen‹ geschürt, die ein ›globales Management‹ der Ressourcen erzwingen wollten."  (Der Spiegel, 21.05.1990: 163)

Zum Nationalstaat

(3) In Ihrer oben zitierten Definition von Entwicklung benutzen Sie das Wort "Nation". Dann aber schreiben Sie: "Der Begriff, unter welcher Bezeichnung auch immer, steht für eine Gemeinschaft … ." Das sind aber zwei verschiedene Sachen. Eine Gemeinschaft kann sich auch zu einer Nation formieren mit Staat usw., oder sich so nennen (z.B. die amerikanischen Indianergemeinschaften nennen sich jeweils eine Nation). Aber eine Nation ist nicht unbedingt eine Gemeinschaft. Meist bestehen Nationen (d.h. Nationalstaaten) aus mehreren Gemeinschaften (Ethnien, Sprach-, Religions- oder einfach Regionalgemeinschaften). Eine Nation ist dann de facto eine Föderation oder Union von mehreren Gemeinschaften. Auch die kleine Schweiz ist ein solcher Nationalstaat. Da kann man eher die Kantonen Gemeinschaften nennen. Nationen sind meist erfundene Gemeinschaften (imagined communities). (Diese Sachen muss ich noch studieren. Darum will ich hier meine Gedanken darüber nicht weiter ausführen und noch nichts Abschließendes sagen).
    Was das Wirtschaften betrifft, bin ich ganz für "Eigenständigkeit" (Selbständigkeit) als Ziel, sofern mit "Wirtschaften" nicht auch Entwicklung impliziert wird. Aber ich bin dafür hauptsächlich aus praktisch-politischen Gründen. Wie die Welt bis jetzt ist, kann man den anderen Völkern/Nationen als Versorgungsquellen (Importe) nicht ganz trauen (denken Sie an Sanktionen, Embargos, geopolitische Interessen etc.), oder sie können aus verschiedenen Gründen unzuverlässig werden. Aber auch in der zukünftigen idealen, solidarischen und friedlichen Welt der ökologischen Ökonomien wäre eigenständiges Wirtschaften die bessere Wirtschaftspolitik sein – aus ökologischen und ressourcenbezogenen Gründen (die langen Transportwege sind ja unökologisch und ressourcenintensiv).
    Allerdings soll man immer bedenken, dass der Mensch nicht mehr wie ein Jäger-Sammler der Altsteinzeit leben kann. (Robinson Crusoe hatte seine Kleider und ein paar andere Sachen aus dem havarierten Schiff geholt). Etwas Tauschhandel hat es immer gegeben. Darum ist "weitestgehende Eigenständigkeit" der richtige Begriff.
    Aber die Nation (der Nationalstaat)? Das ist keine gute Sache, selbst wenn Nationen keine imperialistischen sind. Sie sind alle künstliche Gebilde, meist durch Zufälle und Kriege entstanden, ohne eine logische oder rationale Grundlage. Sie zerbrechen deswegen auch leicht – durch Kriege oder Bürgerkriege (z.B. die Sowjetunion, Jugoslawien, die Tschechoslowakei, der Sudan und auch der Süd-Sudan). In Friedenszeiten konkurrieren die verschiedenen Gemeinschaften, aus denen eine Nation zusammengesetzt ist, um Ressourcen, Jobs, Macht usw. usf. (z.B. der Süd-Sudan, der Jemen). Eine Nation ist also eine erfundene Gemeinschaft mit einer meist prekären/unsicheren Identität.
     Einige Nationen sind zu groß, als dass man sich damit ganzen Herzens identifizieren könnte (z.B. China, Indien, Russland, die USA, Canada, Brasilien). Ein Tibeter denkt nicht, dass er Chinese ist, ein Naga nicht, dass er Inder ist, und ein Mapuche nicht, dass er Chilene ist. Die müssen wir zwar heute und in der Übergangsperiode aus praktischen Gründen als gegebene Sachen hinnehmen. Aber sie sind keine geeignete politisch-ökonomische Einheit für eigenständiges Wirtschaften. Der Handel zwischen Moskau und Wladiwostok ist zwar formal Binnenhandel, de facto aber Fernhandel. Sie sind auch nicht geeignet für eine friedliche ökosozialistische Weltföderation.

Mit herzlichen Grüßen

Saral Sarkar

PS. Die zwei obigen Zitate (von Daly und vom SpiegelArtikel) sind in meinem Buch Die nachhaltige Gesellschaft zu finden.

Victorious in War But Defeated in Peace -- How Development-Socialism Ended in Capitalism

25.08.2015

Liebe Freunde,

vor einiger Zeit (am 21.05.2015) habe ich auf meiner englischsprachigen Blogseite

www.eco-socialist.blogspot.de

den auf Englisch verfassten Aufsatz

Victorious In War But Defeated in Peace –
How Development-Socialism Ended in Capitalism

Veröffentlicht. Ich bin nicht mehr in der Lage, alle meine englischen Texte selbst ins Deutsche zu übersetzen. Es gibt halt zu viel zu tun und zu wenig Zeit für alles, was ich tun möchte. Außerdem nimmt mit fortschreitendem Alter – bin jetzt 79 – auch meine physische Kraft ab.
    Ich denke aber, dass heutzutage die meisten gebildeten deutschsprachigen Menschen mühelos Englisch lesen können, zumindest kurze Texte.
    Also verweise ich Sie hiermit auf den Aufsatz.

http://www.eco-socialist.blogspot.de/2015/05/victorious-in-war-but-defeated-in-peace.html

Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ihn an potentiell interessierte Menschen weiterleiten und/oder irgendwo auch veröffentlichen könnten.

Mit herzlichen Grüßen

Saral Sarkar

Samstag, 8. August 2015

A Modern-day Classical Greek Tragedy -- a contribution toward understanding the Greek Crisis

8.08.2015

Dear friends,

I have today posted an article on the crisis in Greece in my English language blog

www.eco-socialist.blogspot.de

It is entitled


A Modern-day Classical Greek Tragedy –  

a contribution toward understanding the Greek Crisis


I hope you will find it interesting and request you to forward it to politically interested people and activists. I will be very happy if it is published in other journals too -- online or printed.


With best wishes


Saral Sarkar

PS.
Please note that due to health problems and dwindling physical energy it is no longer possible for me to translate every article I write into German. I think all educated Germans can nowadays read English without much effort, and they will also take the trouble to read this article if they are interested.

Mittwoch, 25. März 2015

Ökosozialismus oder Barbarei -- Thesen


1. Die Geschichte des Kapitalismus war immer schon die Geschichte seiner Krisen. Es liegt in seiner selbstwidersprüchlichen Natur, dass er aus sich heraus Krisen gebiert und seine eigenen Verwertungsbedingungen untergräbt. Der Kapitalismus hat sich bislang immer als flexibel genug erwiesen, dass diese Krisen  – ungeachtet des hohen Preises, den Mensch und Natur zu zahlen hatten – nicht in seinen Untergang führten. Nun aber steht der Kapitalismus weltweit zum ersten Mal vor einer unüberwindlichen Schranke, die ihm „von außen“ gesetzt, geologisch-physikalischer Natur und deshalb endgültig ist: vor den Grenzen des Wachstums durch Erschöpfung der nicht erneuerbaren Ressourcen und durch die Erschöpfung der ökologischen Tragfähigkeit der Erde. Aus dieser „Zangengriffkrise“ kann er nicht entrinnen.

2. Die letzte Ursache der aktuellen Finanz-, Schulden- und Wirtschaftskrise ist eben dieses ans Ende gekommene Wachstum. Das Finanzsystem insgesamt ruht auf der Grundlage von steter Wachstumserwartung auf. Sobald sichtbar wird, dass diese Wachstumserwartung nicht mehr erfüllt werden kann, gerät es notgedrungen ins Wanken. Die herkömmlichen Krisentheorien (marxistischer, schumpeterianischer oder keynesianistischer Provenienz) reichen zur Erklärung nicht mehr aus, und auch ihre Rezepte greifen nicht mehr. Wer zum Beispiel als Alternative zur herrschenden Austeritätspolitik die gegenwärtige Verschuldungskrise durch keynesianistische Konjunkturbelebung bewältigen will, der übersieht die objektiven Grenzen des Wachstums, der übersieht, dass es keine brachliegenden Wachstumspotenziale mehr gibt, die mobilisiert werden könnten.

3. Vor allem mit dem Schlagwort „Green New Deal“ wird heute die Ideologie verbreitet, das kapitalistische Wachstum könne mit anderen technischen Mitteln weitergeführt werden wie bisher. Es wird suggeriert, es gäbe eine „Entkoppelung“ von Wirtschafswachstum und Ressourcen- bzw. Energieverbrauch in genügend hohem Maße durch den Einsatz erneuerbarer Energien und Effizienztechnologien. Das ist eine der gefährlichsten Illusionen eines „Ökokapitalismus“. Effizienzpotenziale sind begrenzt und unterliegen dem Gesetz des abnehmenden Grenznutzens. Das Potenzial erneuerbarer Energien ist ebenfalls nicht unerschöpflich. Die Energiedichte, die mit den – gerade wegbrechenden – fossilen Energiequellen gegeben war, kann nicht annähernd erreicht werden. Das heißt, uns wird bei allem notwendigen Einsatz „grüner Technik“ unterm Strich erheblich weniger Nettoenergie zur Verfügung stehen als heute.

4. Nicht nur der globale Kapitalismus, der ja auf stetig wachsende Kapitalakkumulation auf immer höherer Stufenleiter und auf eine weltweit funktionierende stark ausdifferenzierte Arbeitsteilung angewiesen ist – sondern auch die Industriegesellschaft insgesamt steht zur Disposition! Die Industriegesellschaft war menschheitsgeschichtlich betrachtet eine nicht verallgemeinerbare Singularität, eine Ausnahmesituation einer kurzen Zeitspanne und immer nur für den kleineren Teil der Menschheit, die nur auf der Grundlage der massiven Ausbeutung fossiler Energieträger – erst Kohle, dann Erdöl – möglich war. Künftige, nachhaltige Gesellschaften werden mit einer wesentlich bescheideneren Ressourcenbasis auskommen. Motorisierter Massen“individual“verkehr, die Selbstverständlichkeit von Fernflügen, etc. werden dann nicht mehr möglich sein. Mit erneuerbaren Energien kann man weniger Hochöfen befeuern, weniger Zement herstellen, weniger Aluminium produzieren ...

5. Ein wesentlicher Unterschied zwischen einem marxistischen Sozialismusverständnis und dem der „Initiative Ökosozialismus“ ist: Während Marx und Engels die historische Rolle des Kapitals in der möglichst hohen Entfaltung der Produktivkräfte sahen, auf deren Grundlage erst der Aufbau einer sozialistischen (bzw. kommunistischen) Gesellschaft möglich ist, sagt die „Initiative Ökosozialismus“: Umgekehrt wird ein Schuh draus: Eine sozialistische (solidarische, egalitäre)  Gesellschaft ist unabhängig von einem bestimmten Grad der Produktivkraftentwicklung, ja, letztere kann dafür sogar hinderlich sein.

6. Die Wirtschaft wird in Zukunft nicht nur nicht mehr wachsen, sondern zwangsläufig schrumpfen! Politisch stehen wir vor der Alternative, diesen Schrumpfungsprozess über uns hereinbrechen zu lassen oder ihn bewusst politisch zu gestalten. In unserem Sinne heißt das natürlich: ihn gerecht und solidarisch zu gestalten. Die Wirtschaft wird schrumpfen müssen, bis sie einen Zustand des stabilen Gleichgewichts erreicht hat („steady state“).

7. Ein solcher Schrumpfungsprozess ist aber nicht mehr im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse zu bewerkstelligen. Schulökonomisch kommt er ja einer tiefen Depression gleich, das heißt: Es wird Kapital in großen Stil vernichtet, ganze Industriebranchen stehen vor dem Untergang, und sinkende Profitraten werden private Investitionen verhindern. Eine schrumpfende Wirtschaft steht im Widerspruch zum Wachstumsimperativ des Kapitalismus selbst. Das heißt, der notwendige industrielle Abrüstungsprozess kann nur noch jenseits des Kapitalismus – und vermutlich auch gegen seinen Widerstand – organisiert werden.

8. Unter den Bedingungen knapper Ressourcen greifen marktwirtschaftliche Mechanismen nicht mehr. Marktwirtschaft funktioniert – wenn überhaupt – nur unter der Voraussetzung, dass alle Marktteilnehmer flexibel auf die Signale des Marktes reagieren können. Knappe Ressourcen bedeuten aber, dass wir es in diesem Bereich mit „Verkäufermärkten“ zu tun haben. Es besteht dann die Gefahr schwerwiegender „Fehlallokationen“, das heißt: Knappe Ressourcen fließen nicht da hin, wo wir sie als Gesellschaft als lebenswichtig und wünschenswert empfinden, sondern da hin, wo genügend Kaufkraft vorhanden ist. Unter Knappheitsbedingungen kann der Markt auch kein Minimum an sozialer Gerechtigkeit mehr garantieren. Das heißt: Anstelle der Marktmechanismen brauchen wir bewusste Planung, Mengenregulierungen, Quotenvergaben, Preiskontrollen  etc.

9. In einer ersten Phase – der Schrumpfungsphase – wird der Staat als starker Akteur unvermeidlich sein. Das ist natürlich keine Idealvorstellung. Planung sollte möglichst dezentral, mit einem Maximum an Partizipation der Betroffenen und mit einem hohen Maß an Autarkie lokaler Gemeinschaften erfolgen. Nicht zuletzt deshalb sind „bottom-up“-Ansätze im Sinne der „Solidarischen Ökonomie“ zentral.

10. Eine ökosozialistische Ökonomie wird sich auszeichnen durch eine starke Konzentration auf den lokalen und regionalen Bezug, durch eine starke Einschränkung des Fernhandels, durch eine höhere Arbeitsintensität (die heutige hohe Arbeitsproduktivität ist zum Großteil nur die Kehrseite einer hohen Energieintensität), durch ein geringeres Maß an Arbeitsteilung und ein hohes Maß an Selbstversorgung.

11. Vor dem Hintergrund dieser Zukunftsperspektive käme es nun darauf an, a) konkrete Exitstrategien zu entwickeln, das heißt zu sehen, welche politischen Schritte eine solidarische industrielle Abrüstung einleiten könnten, bzw. b) „linke“ Politikvorschläge (zum Beispiel ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ etc.) daraufhin zu befragen, ob sie damit kompatibel sind.

Bruno Kern
Initiative Ökosozialismus

Unsere Website: www.oekosozialismus.net; E-Mail: info@oekosozialismus.net
Kontaktadresse: Initiative Ökosozialismus, c/o Bruno Kern, Mombacher Straße 75 A, 55122 Mainz
Folgende Publikationen finden sich auf unserer Website oder können über die Kontaktadresse bezogen werden:

Saral Sarkar, Die nachhaltige Gesellschaft. Eine kritische Analyse der Systemalternativen, Stuttgart 2009.
Saral Sarkar, Die Krisen des Kapitalismus. Eine andere Studie der politischen Ökonomie, Neu-Ulm 2010.
Saral Sarkar / Bruno Kern, Ökosozialismus oder Barbarei. Eine zeitgemäße Kapitalismuskritik Köln / Mainz 2008 (Broschüre)
Bruno Kern, Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar. Energiewende zwischen infantilen Fantasien und Ernüchterung, Mainz 2012 (Paper)
Saral Sarkar, Die aktuelle Weltwirtschaftskrise verstehen. Ein ökosozilaistischer Ansatz, Köln 2012 (Broschüre)

ViSdPG: Bruno Kern, Mainz.

PS. Ich, Saral Sarkar, möchte hier nur eine Anmerkung hinzufügen:
Den Begriff Wachstum sollten wir vorsichtig benutzen. Denn die Wachstumszahlen schließen auch viele nutzlose, sogar zerstörerische, Wirtschaftsleistungen ein. Diesen Punkt habe ich in meinem Buch Die Krisen des Kapitalismus – Eine andere Studie der politischen Ökonomie ausführlich erörtert.

 

Dienstag, 24. Februar 2015

Recht auf Beleidigen oder Prinzip Verantwortung? -- Gedanken zum Charlie-Hebdo-Massaker


Die Mörder der Charlie-Hebdo-Karikaturisten bekamen ihre verdiente Strafe. Nach dem gesunden Volksempfinden ist es schon in Ordnung, dass sie von den Sicherheitskräften getötet wurden. Von ihrem eigenen Standpunkt sowie vom Standpunkt ihrer Geistesgenossen aus gesehen, waren die Mörder höchst erfolgreich. Sie konnten nicht nur die Beleidigung ihres Propheten rächen – für sie eine große Sache – sondern starben auch als Märtyrer, was sie wohl selbst wollten.
    Die ermordeten Karikaturisten aber starben nicht als Märtyrer. Sie wollten nicht sterben. Sie hatten Polizeischutz beantragt und bekommen. Der Chefredakteur hatte zwar einmal gesagt, er würde lieber aufrecht stehend sterben als kniend leben. Aber das bezeugt eher seinen Starrsinn. Denn das, wofür er und seine Kollegen starben – nämlich das Recht, Prophet Mohammed und Millionen Muslime zu beleidigen – ist wahrlich keine große Sache.
    Wie soll man zum Beispiel jemand, der wissentlich und mutwillig auf einem Minenfeld Fußball spielen will, anders charakterisieren als mit dem Wort „Starrkopf“? Fußball spielen kann man doch auch auf einem anderen Feld. Oder ging es ihnen etwa um eine ernsthafte und wichtige politische Sache? Etwa um Kritik an religiösen Aberglauben oder um Kritik an der Stellung der Frau im Islam? Außerdem kann man doch den Islam oder Religion überhaupt auch auf anderen Wegen kritisieren, die nicht geradewegs auf ein Minenfeld führen! Es ist ja spätestens seit 2005 bekannt, als die dänische Zeitung Jyllands Posten ihre Mohammed-Karikaturen veröffentlichte, wie wütend die muslimischen Massen weltweit auf solche Sachen reagieren. Seit jener Zeit wissen alle, dass besonders beleidigende Mohammed-Karikaturen gläubige Muslime zutiefst verletzen und dass einige von ihnen bereit sind, die Beleidigung ihres Propheten auf mörderische und selbstmörderische Weise zu rächen.
    Angesichts dieser Vorgeschichte waren CHs Mohammed-Karikaturen eine reine Provokation, sonst nichts. Denn das Recht auf freie Meinungsäußerung war vor diesem Ereignis keineswegs gefährdet, weder in Frankreich noch im übrigen Europa. Diese schlimmen Mohammed-Karikaturen sind ja auch keine Meinungsäußerung, sondern nur Beleidigung. Den Fall Salman Rushdie (1988), sogar die Karikaturen von Jyllands Posten, hatte man fast vergessen. Durch diese geradezu infantile Provokation haben die CH-Redakteure nicht nur ihren eigenen Tod verursacht, sondern auch den von drei PolizistInnen und vier jüdischen Geiseln. Mittelbar haben sie dadurch auch den schon existierenden tiefen Graben zwischen Christen und Muslimen weiter vertieft.
    In vielen der Medien-Kommentare wurde u.a. darauf gepocht, dass einer, der in Frankreich lebe, müsse die Verfassung und die Gesetze des Landes akzeptieren. Dem stimme ich hundertprozentig zu, obwohl ich nicht genau weiß, ob auch Beleidigung des Islams und der muslimischen Gemeinschaft mittels Mohammed-Karikaturen wirklich durch die Gesetze gedeckt ist. In Deutschland, wohl auch in Frankreich, ist es ein strafbares Delikt, die Meinung zu äußern, dass der Holocaust nicht geschehen ist. In Frankreich darf man nicht die Meinung äußern, dass die Armenier 1915 kein Völkermord erlitten haben, sondern nur, wie es die Türken behaupten, hunderttausendfacher Tod durch Kriegsgeschehen. Ich habe gehört, dass es in Frankreich nicht erlaubt ist, die Trikolore und die Marseillaise zu beleidigen. Und die Polizei verbietet auch manchmal aus Sicherheitsgründen die freie Meinungsäußerung mittels einer Demo. Man könnte nun sagen, so ist halt die Gesetzeslage, Basta, Schluss der Diskussion. Aber ist dann die Diskussion wirklich zu Ende? Angesichts des siebzehnfachen Rachemords in Paris, und der Rachemorde, die in Zukunft geschehen könnten, ist es notwendig, sich eines englischen Spruches zu besinnen: “
When the law is an ass, someone has to kick it” (wenn das Gesetz ein Esel ist, muss ihm jemand einen Tritt verpassen.)

Prinzip Verantwortung

Aber gibt es nicht außer Verfassungen und Gesetzen auch das dem gesunden Menschenverstand entsprechende Gebot, jeder soll vernünftig und verantwortlich handeln? Auf einer Autobahnstrecke ohne Tempolimit darf man beliebig schnell fahren. Aber ist es verantwortliches Handeln, dort Tempo 280 zu fahren? Ganz klar, die Macher von CH haben zwar legal, aber unverantwortlich gehandelt. Ihre Mörder haben quasi gesagt: Ja, wir kennen die Verfassung und die Gesetze des Landes; mit unserer Aktion werden wir gegen diese verstoßen; uns ist klar, dass wir dafür bestraft werden; OK, wir nehmen jede Strafe dafür an, dass wir die Gesetze unserer Religion befolgen und gegen die des Staates verstoßen. Starrköpfe gegen Starrköpfe! In jeder Konstellation führt das zum Verderben. So ist halt die Realität. Die Verfassungen der Welt sind doch nur so viele bloß auf Papier stehende, oft fragwürdige Prinzipien.
    Es gibt ein berühmtes Kant-Zitat, das man hier als Kriterium für richtiges, im Gegensatz zu rechtmäßigem, Handeln anwenden könnte: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten kann.“ Soweit ich mich erinnere, stammt es aus Kants Aufsatz „Was ist Aufklärung“. Ich erinnere mich aus meiner Studentenzeit auch, dass die Aufklärung u.a. die Werte Vernunft und Toleranz beinhaltete – zwei Werte, die sehr wichtig sind für den sozialen Frieden. In dem Zitat geht es um ein Gebot für richtiges Handeln. Es geht hier nicht um das Recht auf Handeln nach der jeweils aktuellen Gesetzeslage, sondern um das Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung. Was kann ein höheres Prinzip für allgemeine Gesetzgebung sein als das Wahren sozialen Friedens?
    Ich kann hier auch einen modernen Philosophen zitieren. In seinem Buch Das Prinzip Verantwortung schrieb Hans Jonas über unsere Verantwortung für den Frieden mit der Natur. In einem Gespräch mit einem Interviewpartner zeigte er wenig Vertrauen in die Demokratie. Er sagte: "Der Philosoph muss durchaus den Mut haben, zu sagen, Demokratie ist höchst wünschbar, aber kann nicht selber die unabdingbare Bedingung dafür sein, daß ein menschliches Leben auf Erden sich lohnt."1 Im gleichen Sinne können wir auch sagen, dass die demokratische politische Ordnung und die von demokratisch gewählten Parlamenten verabschiedeten Verfassungen und Gesetze nicht selber genug für die Wahrung sozialen Friedens sein können.
    Jonas schrieb in dem genannten Buch:

„'Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden'; oder negativ ausgedrückt: 'Handle so, daß die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für die künftige Möglichkeit solchen Lebens'; oder einfach: 'Gefährde nicht die Bedingungen für den indefiniten Fortbestand der Menschheit auf Erden'; oder wieder positiv gewendet: 'Schließe in deine gegenwärtige Wahl die zukünftige Integrität des Menschen als Mit-Gegenstand deines Wollens ein.'"2

Jonas schrieb diese Sätze aus Sorge um den Zustand unserer natürlichen Umwelt. Wir wissen, dass das, was die Menschheit zurzeit, schon im Rahmen der Verfassungen und Gesetze, wirtschaftlich alles tut, fortwährend unsere natürliche Umwelt zerstört. Es muss also auch an das Verantwortungsgefühl von allen Wirtschaftsakteuren appelliert werden. In Anlehnung an Jonas sollten wir allen Menschen, vor allem aber den führenden politischen Kräften der Gesellschaften, Intellektuellen, Kulturschaffenden usw. sagen dürfen: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Zusammenlebens; oder negativ ausgedrückt: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung nicht zerstörerisch sind für den sozialen Frieden.
    Die CH-Redakteure wussten, dass ihre Mohammed-Karikaturen ihre fünf Millionen muslimischen Mitbürger – viele von denen höchst willkommen geheißen wurden, als sie einst als Gastarbeiter kamen – tief beleidigen und einige von ihnen sogar zum Mord provozieren könnten. Fünf Millionen sind etwa 8 Prozent der französischen Bevölkerung, keine zu vernachlässigende Größe. Trotzdem haben sie ihre Karikaturen veröffentlicht. Was noch schlimmer ist, haben etliche politische Führungspersonen der Welt und eine Million Franzosen durch ihre Demo in Paris die zerstörerischen Wirkungen der genannten Karikaturenpublikation verstärkt. Das ist dadurch belegt, dass etwa fünf Wochen später (am 14. Februar) in Kopenhagen ein Anschlag auf eine Diskussionsveranstaltung verübt wurde, an der der Mensch teilnahm, der 2005 in Jyllands Posten die ersten Muhammed- Karikaturen veröffentlicht hatte (eine davon stellte Muhammed als einen Hund dar.)
    Haben solche Leute nicht Wichtigeres und Dringlicheres zu tun? Ende dieses Jahres müssen die politischen Führungspersonen der Welt in Paris wichtige Maßnahmen beschließen, um weitere Klimakatastrophen abzuwenden. (Bisher gab es in Paris keine Demo für Klimaschutz mit einer Million Teilnehmern.) Die Kriege in Syrien, im Irak, in der Ukraine etc. müssen beendet werden. Auf die Flüchtlingsströme in aller Welt muss eine adäquate Antwort gefunden werden. Der Aufstieg der rechtsradikalen Parteien und fremdenfeindlichen Gruppierungen müssen eingedämmt werden. Und es gibt noch viel mehr solche wichtige und dringliche Aufgaben. Aber die europäischen Staaten sind zurzeit total damit beschäftigt, ihre Anti-Terror-Apparate zu vergrößern und zu verstärken. So eine Kleinigkeit, das Recht auf Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen, hat die genannten großen und schwierigen Aufgaben von der Bühne verdrängt.

Was Tun?

Wir wissen, militante Islamisten haben in der Vergangenheit nicht nur auf Mohammed-Karikaturen mit Gewalttaten reagiert. Auf Salman Rushdie’s Roman Satanische Versen (1988) und einige Texte/Äußerungen von Taslima Nasreen (bangladeschi Schriftstellerin) (1994) folgten Fatwas und Aufrufe zu ihrer Tötung. So kann es nicht weitergehen. Es geht nicht an, dass die eine Minderheit immer wieder beleidigt und provoziert und die andere Minderheit mit Mord und Morddrohungen darauf reagiert. Aber man kann auch nicht ewig im Interesse des sozialen Friedens Selbstzensur ausüben, zumal nicht jede Kritik eine Beleidigung oder Provokation ist. Wie sollen wir Linke, Fortschrittliche oder einfach säkular gesinnte Menschen in solchen Fällen verhalten?
   
Was Richard Dawkins „Gotteswahn“ („God delusion“) nennt3, existiert in der Welt leider weiter. Die meisten Menschen in der Welt üben, ernsthaft oder nicht so ernsthaft, irgendeine Religion aus. Auch die Aggression der militanten Islamisten gegen Ungläubige und Andersgläubige, bzw. ihre aggressive Reaktion auf bestimmte Taten der letzteren, hat Parallelen in anderen Religionsgemeinschaften. Bei Christen ist die Zeit der kriegerisch/mörderischen Version der aggressiven Religiosität , Gott sei dank, weitgehend vorbei. Die Konflikte in Nordirland und Nagornokarabach sind zwei Ausnahmefälle, bei denen es allerdings auch um den Status eines Territoriums geht. Leider ist es aber bei zwei anderen großen Religionsgemeinschaften – den Hindus und Buddhisten – noch nicht soweit. In Indien gehört gegenseitige gewalttätige Aggression zwischen Hindus und Muslimen noch nicht zur vergangenen Geschichte. Neuerdings verfolgen sogar Buddhisten, nämlich burmesische und sri-lankische Buddhisten ihre muslimischen Landsleute – im Namen der buddhistischen Identität ihres Landes. Neben den gesetzmäßigen Aktionen der Polizei und Sicherheitskräfte gegen gewalttätige Fundamentalisten jeder Religion sollte jeder vernünftige Mensch gegen solche aggressive Religiosität kämpfen – im Sinne der Zivilgesellschaft. Aber wie kann man das tun? Wie können wir die militanten Fundamentalisten zur Besinnung bringen?
    Eines kann wohl widerspruchslos gesagt werden: Durch Beleidigungen und Provokationen erreicht man keine positiven Ergebnisse. Im Gegenteil, sie schüren nur Hass und Gewalt. Das haben wir in den letzten 25 Jahren gesehen. Damit kann man nur immer neue Konflikte vom Zaun brechen. Das ist auch so, wenn es sich nicht um Beleidigung einer Religion handelt. Auf eine Beleidigung reagieren nicht alle Menschen mit Gang vors Gericht. Auch bei Nichtreligiösen, wenn zum Beispiel Mensch A seinem Mitmenschen B sagt, der Vater des letzteren sei ein Dieb und dessen Mutter sei eine Dirne, dann verpasst B dem Beleidiger gleich eine Tracht Prügel – unabhängig von dem Wahrheitsgehalt der Beleidigung. Das ist die Realität.
    Es ist auch den Sicherheitskräften nicht möglich, den Kampf gegen religiös motivierte Gewalttaten und Terrorakte endgültig zu gewinnen. Nach jedem Einzelerfolg in dieser Hinsicht werden sie mit neuen Gewalttaten und -drohungen von neuen militanten Gruppen konfrontiert. Auch das gehört zu unserer Erfahrung der letzten 25 Jahre. Militante Dschihadisten, die keine Angst haben zu sterben, die sogar bereit sind, sich selbst in die Luft zu sprengen, um den Feind zu töten – bei solchen Leuten wirken die üblichen Strafdrohungen nicht. Da stehen die Sicherheitskräfte der Welt ratlos da.
    Das Problem müssen wir also an der Wurzel packen. Dazu müssen wir aber die Wurzel erst einmal erkennen. Zu diesem Thema habe ich zuerst vor zehn Jahren einen kurzen Artikel veröffentlicht. Der Anlass damals war die Ermordung des Amsterdamer Filmemachers Theo van Gogh, der den Islam beleidigt hatte. Ich bitte meine Leser, den Artikel zu lesen. Hier ist der Link:

http://ak-oekopolitik.blogspot.de/search?q=Religionen

Meine aktuellen und vorläufigen Gedanken zu der Frage „was tun?“ führe ich unten aus:

Dass die meisten Menschen überhaupt religiös sind – das heißt, grob gesagt, an die Existenz eines oder mehrerer mehr oder minder mächtigen übernatürlichen Wesen(s) glauben (supernatural agents, Gott, Götter, Göttinnen, ancestors) – liegt nach Wissenschaftlern wie Richard Dawkins3 und Pascal Boyer4 an der phylogenetischen Anlage der Spezies Mensch. Die Tatsache, dass Religion in ihrem breitesten Sinne ein universales Phänomen ist, ist der Beleg dafür. Wir Atheisten und Linke können also nicht darauf hoffen, dass das Phänomen Religion eines Tages von selbst ganz aufhören wird zu existieren. Außerdem zeigt unsere Erfahrung, dass wenn eine Person in eine Religionsgemeinschaft hineingeboren ist, wird diese Religion zu einem festen Bestandteil der Identität dieser Person, die sie äußerst schwer abstreifen kann. Das erklärt, warum zum Beispiel neuerdings die Yezidis in Nord-Syrien es ablehnten, sich zum Islam bekehren zu lassen, und es hinnahmen, von den ISIL-Kämpfern getötet zu werden.
    Wir müssen also langfristig daran arbeiten, dass zumindest der Einfluss der radikalfundamentalistischen Versionen der großen Religionen eingedämmt werden. Wir sollen nicht diese oder jene Religion, nicht Allah, Jahve, Jesus oder Shiva kritisieren, sondern versuchen, die Relevanz der Religion überhaupt, besonders im praktischen Leben, zu relativieren. Wir können Epikur zitieren. Er soll gesagt haben: “Ist es so, dass Gott Übel verhindern will, es aber nicht kann? Dann ist er nicht allmächtig. Oder ist es so, dass er es kann, es aber nicht will? Dann ist er böswillig. Oder er kann es und will es auch? Wo kommt dann das Übel her? Oder ist es so, dass er es weder kann noch will? Warum nennt ihr ihn dann Gott?“5 Wir können unseren religiösen Mitmenschen sagen: Liebe Freunde, ihr betet so oft pro Tag. Nichts dagegen. Aber euer Gott hilft euch doch nicht. Lassen wir also unsere Götter und unsere Religionen in unserem privaten Gebetsraum, und versuchen wir zusammen, diese schlechte Welt etwas erträglicher zu machen. Das Heil kann warten. Essen muss man aber schon heute.
    Das ist eine schwierige Arbeit. Denn alle Religionen sind potentiell fundamentalistisch interpretier- und anwendbar. Wie Religionswissenschaftler Klaus Kienzler in Bezug auf die großen Religionen schreibt:

„Wir haben gesehen, dass zum Wesen von Religion eine Reihe unverzichtbarer Fundamente gehören: die religiösen Quellen wie Schrift und Tradition, Orthodoxie und Orthopraxie u.a. … [Also] kann auch hier gesagt werden, dass alle Religionen in der Gefahr stehen, alle diese Fundamente fundamentalistisch zu verkehren, … .“.5a

Es ist so, besonders weil es behauptet wird, dass die heiligen Schriften oder zumindest die wichtigeren Teile davon direkt von Gott offenbart, sogar diktiert (der Koran) oder ausgehändigt (die Zehn Gebote) worden sind. Zwar versteht die moderne christliche Theologie die Offenbarung in ihrer heiligen Schrift nicht so, aber „in der Chicago-Erklärung zur Irrtumslosigkeit der Bibel von 1978 heißt es …: ‚Wir bekennen, dass die Schrift als Ganzes und in allen ihren Teilen, bis hin zu den einzelnen Wörtern der Originalschriften, von Gott inspiriert wurde.‘ “6 Bei solchen Verständnissen der jeweiligen heiligen Schrift kann es einem charakterlich militanten Menschen, dessen Hauptidentität seine Religion ist, nicht schwerfallen, Ungläubige zu verfolgen, gar zu töten, oder mit einer Bombe eine Abtreibungsklinik in die Luft zu sprengen. Wir müssen bedenken, dass zwar die spektakulären Anschläge von Einzeltätern oder kleinen Gruppen von militanten Fundamentalisten verübt werden, dass sie aber ihre Inspiration und ihren Mut von einem großen Umfeld von Hunderttausenden von Fundamentalisten schöpfen. Darum genügt es nicht, dass die Sicherheitsbehörden potentielle Attentäter beobachten und unschädlich machen. Das Problem muss auch breitflächig behandelt werden.
    Was wir ganz sicher tun können, ist, unseren gläubigen Mitmenschen freundlich und höflich zu sagen, sie sollen ihre heiligen Schriften nicht als klare Worte Gottes betrachten. Die Gläubigen wissen, dass alle ihre heiligen Bücher schließlich von Menschen geschrieben wurden (alle Propheten, auch Prophet Muhammed, waren ja Menschen, fehlbar wie jeder Mensch). Die Niederschriften von „Gottes Worten“ sind alles andere als klar. Darum gibt es ja so viele Stellen in den heiligen Büchern, die interpretationsbedürftig sind und auch verschiedentlich interpretiert worden sind. Den fundamentalistischen Interpretationen stehen moderate/liberale Interpretationen gegenüber. Ich gebe hier nur ein Beispiel: Asghar Ali Engineer, ein gläubiger Muslim und ein Islam-Gelehrter, schreibt über den Begriff Kafir (Ungläubiger, Heretiker):

“Der Koran schuf eine Kategorie Ahl al-kitab (Völker des Buches). Alle, denen Allah seine Botschafter und das Buch schickte, wurden Volk des Buches genannt. Der Koran erwähnt in dieser Kategorie Christen, Juden und Sabaens. Allerdings sind diejenigen nicht ausgeschlossen, die im Koran nicht in dieser Kategorie erwähnt worden sind. Viele andere, wie die Zoroastriers, waren in diese [zweite] Kategorie einbezogen. Die Sufi-Heiligen wie Mazhar  Jan-i-Janan schlossen die Hindus in diese [zweite] Kategorie ein. Als Argument dafür führten sie an: Wie konnte Allah es vergessen, seine Botschafter nach Indien zu senden? Er hatte doch versprochen, seine Botschafter an alle Nationen zu senden! Er akzeptiert die Veden [des Hinduismus] als offenbarte Schriften. Er dachte (fühlte) auch, dass die Hindus Monotheisten seien, da sie an einen Gott glauben, der nirgun und nirakar (d.h. ohne Eigenschaften und Gestalt) sei, was die höchste Form von tawhid (Monotheismus) sei.“7

Dies zeigt, dass auch der Islam reformfähig ist. Darum gibt es ja auch im Islam, wie im Christentum, so viele Strömungen und Sekten.
    Gläubigen und andersgläubigen Mitbürgern das sagen zu können und zu dürfen, setzt allerdings voraus, dass wir regelmäßige soziale Kontakte zu ihnen haben und pflegen. Nur durch solche Kontakte kann es uns Atheisten und Linken gelingen, die Werte von Aufklärung, Toleranz und gegenseitiger Achtung zu fördern, die mentalen Barrieren zu beseitigen. Es ist kontraproduktiv, eine Multikulti-Gesellschaft zu fördern und zu akzeptieren. Das würde bedeuten, separate Existenz von Parallelgesellschaften zu fördern und ihre Existenz zu akzeptieren. Die andersgläubigen müssen stattdessen in das gesellschaftliche Leben der Bevölkerungsmehrheit einbezogen werden.
    Es ist klar, Kontaktpflege mit radikalen und militanten Fundamentalisten ist für uns nicht möglich. Aber die große Mehrheit der Menschen in jeder Religionsgemeinschaft, also auch in der islamischen, ist alles andere als fundamentalistisch gesinnt. Sie glaubt an das Prinzip leben und leben lassen, befolgt nicht jedes Gebot der heiligen Schriften. Und es gibt in der Welt, auch in muslimischen Ländern, viele liberale, moderne, progressive und sogar linke Muslime. In Ägypten und Tunesien haben neulich mehrere Millionen muslimische Bürger, die Herrschaft der Muslimbrüder beendet. Durch Zusammenarbeit mit solchen Leuten könnte eine Atmosphäre geschaffen werden, in der alle gläubigen Muslime auf eine Beleidigung des Islams oder des Propheten Muhammed mit dem Satz reagieren würden: „Das lässt mich kalt“. Diesen Satz hörte ich tatsächlich in einer TV-Sendung; eine Islamwissenschaftlerin, die in einer Schule Religion unterrichtet, sagte das. Das lässt hoffen.
    Was noch helfen würde, ist, dass liberale muslimische Islamwissenschaftler, die ihren Glauben auch praktizieren, es wagen, historisch-kritische Arbeiten über die Schriften ihrer Religion zu veröffentlichen. Ein Beispiel davon habe ich oben erwähnt, das Zitat von Asghar Ali Engineer. Wenn es zu gefährlich ist, könnten solche Arbeiten auch anonym veröffentlicht werden. Vor ein paar Tagen hörte ich im Fernsehen eine gute Nachricht: Ein französischer muslimischer Akademiker fordert eine Reform des Islams. Er fordert auch eine historisch-kritische Studie seiner Religion. Das gleiche hörte ich wieder im Fernsehen am 23. Februar. Islamgelehrte der berühmten Al-Azhar-Universität von Kairo sprachen da auch von der Notwendigkeit einer Reform des Islams.
    Eine Sache, die wir nicht können, ist, den Zorn und Hass von allerlei Muslimen auf die euro-amerikanischen Imperialisten und israelischen Kolonialisten zu mildern, die seit langem muslimische Völker politisch und ökonomisch unterjochen und demütigen. Ein Nebenprodukt davon ist, dass die meisten, wenn auch nicht alle, Westler allgemein verdächtigt werden, Feinde und Hasser des Islams und der muslimischen Welt zu sein. Die Geschichte gibt auch genug Anlass dafür. Denken wir nur an die Kreuzzüge, den Irak-Krieg von 2003, Abu Ghraib, Guantanamo Bay, die Behandlung der Palästinenser usw. Klar, mit tatsächlichen Islamhassern unter den Westlern können Muslime keinen Kontakt pflegen. Darum ist es äußerst wichtig, dass gesprächswillige Westler eine antiimperialistische Gesinnung an den Tag legen, bevor sie versuchen, Kontakt mit Muslimen aufzunehmen.
    Aber bloßer Antiimperialismus reicht nicht. Notwendig ist eine große Sache, eine positive, die zum Engagement inspiriert. Ihr Hass auf die Imperialisten führte abertausende junge Muslime ins Lager vom Al Qaida und ISIS, wo ihre große Sache ein „Gottesstaat“ ist. Auch die energetischen jungen Muslime, die mit soviel Elan den Arabischen Frühling aus dem Boden stampften, brauchen eine große Sache, für die sie sich wieder engagieren könnten. Ich kann ihnen die folgenden Sätze von Asghar Ali Engineer anbieten:

“Der Koran gebraucht … das Wort Jihad für moralischen Kampf. Es ist die Pflicht jedes Muslim’s, den Kampf für die höchste moralische Qualität fortzusetzen, für die seiner eigenen Person wie auch für die der Gesellschaft, in der er lebt. Der Kampf gegen die Korruption, gegen Umweltverschmutzung, für die Menschenrechte, für Gerechtigkeit gegenüber den schwachen Gesellschaftsschichten und andere ähnlich erhabene Sachen ist Teil des Jihad. Alles, was der leidenden Menschheit ihr Leiden lindert, ist Teil des Jihad im Sinne Allah’s.“8  

Ohne den Bezug auf Allah könnte man das den Kampf für eine ökosozialistische Gesellschaft nennen.

Quellennachweis

1. Jonas, Hans : Gespräch mit Eike Gebhardt, in: Ethik für die Zukunft - Im Diskurs mit Hans Jonas, Hg. v. Dietrich Böhler, Verlag C. H. Beck, München 1994. S. 210-211 ISBN 978-3406386558 zitiert in: br-online.de. (zitiert aus dem Internet)
2. Jonas, Hans :Das Prinzip Verantwortung. S.36 (zitiert aus dem Internet).
3. Dawkins, Richard (2007) Der Gotteswahn.Berlin:Ullstein.
4. Boyer, Pascal (2002) Religion Explained – The Human Instincts that Fashion Gods, Spirits and Ancestors. London: Random House.
5. Epikur (zitiert aus dem Internet).
5a. Kienzler, Klaus (1999) Der religiöse Fundamentalismus – Christentum Judentum Islam. München: C.H. Beck. S. 23.
6. ibid. S. 41.
7. Engineer, Asghar Ali (2008) Islam – Misgivings and History. New Delhi: Vitasta Publishing. S. 222f.
8. ibid. S. 227.

 

Dienstag, 20. Januar 2015

Einige Schlachten Gewinnen, Aber den Krieg Verlieren -- Ein Überblick über die Heutige Weltlage


Vor etwa drei Monaten las ich einen Artikel über den Krieg gegen den Islamischen Staat (IS). Der Autor, Andrew J. Bacevich1, schrieb unter anderem:

"Die Militanten des Islamischen Staates breiten sich in Syrien aus. Der Irak-Krieg III hat sich nahtlos verwandelt in Groß-Nahost-Krieg XIV. … Selbst wenn wir siegen, verlieren wir. Den Islamischen Staat zu besiegen, würde die Vereinigten Staaten nur tiefer zu einem Jahrzehnte alten Unternehmen verpflichten, das sich als teuer und kontraproduktiv erwiesen hat. ... Die Bemühungen der USA, Stabilität [in der Region] zu fördern, haben tendenziell genau das Gegenteil produziert.“

    Hier will ich nicht über den IS schreiben. Hier gilt meine Sorge nicht dem Groß-Nahost, sondern der Welt, nicht dem Irak-Krieg III, sondern dem "Krieg" (wenn ich hier diesen Begriff benutzen darf), den drohenden weltweiten Kollaps zu verhindern – den ökologischen und ökonomischen Kollaps sowie Kollaps des binnenstaatlichen und zwischenstaatlichen Friedens. Erfolg dabei ist ja auch die selbstverständliche Voraussetzung dafür, den Übergang zu einer friedlichen und nachhaltigen Weltgesellschaft beginnen zu können. Ich habe den Artikel mit dem Irakkrieg III begonnen, weil er derzeit der deutlichste, stärkste und überzeugendste Hinweis auf den kommenden Zusammenbruch ist.
    Dieser hat drei verschiedene Aspekte: (1) Kriege und Konflikte – geführt bzw. ausgetragen mit unterschiedlichem Grad an Gewalt – toben seit den letzten Jahrzehnten in verschiedenen Teilen der Welt; (2) globale Erwärmung, Klimakatastrophen und weltweite Umweltzerstörung aller Art gehen unvermindert weiter , (3) Gesellschaften zerfallen infolge ökonomischer und politischer Krisen, gefolgt von gescheiterten oder scheiternden Staaten.
    Zwar erzählt uns Prof. Steven Pinker in seinem Buch Gewalt – Eine Neue Geschichte der Menschheit (
The Better Engels of our nature), dass die Welt der Vergangenheit, was gewaltsame Konflikte betrifft, sehr viel schlimmer war und dass wir wohl in der friedlichsten Ära in der Geschichte unserer Spezies leben. Das ist aber ein schwacher Trost. Denn seit den letzten zwei Jahrzehnten beobachten wir eine Verschlechterung der Lage. In Widerspruch zu den großen Hoffnungen, die in den frühen 1990er Jahren nach dem Ende des Kalten Krieges erweckt wurden, als Kommentatoren sogar von einer großen Friedensdividende sprachen, die auf uns wartete, plagten in den folgenden Jahren viele kleine, mittelgroße und große gewaltsame Konflikte die Menschheit: der Völkermord in Ruanda, gefolgt von dem nicht enden wollenden Kleinkrieg im Osten des Kongo; die Jugoslawien-Kriege; das Aufkommen des islamistischen Terrorismus in vielen Teilen der Welt; der blutige 26-jährige ethnische Krieg in Sri Lanka; die gewaltsame Unabhängigkeitsbewegung der Kurden im Südosten der Türkei; dann der jahrzehntealte Bürgerkrieg in Kolumbien; der Terror der Drogendealer-Banden in Kolumbien und Mexiko; die laufenden Kriege in der Ukraine, Afghanistan, Syrien, dem Irak, Libyen, Somalia, im Jemen; und die vielen kleinen Konflikte und Aufstände, zum Beispiel auf den Philippinen, im Zentral-Indien, in der Xinxiang-Provinz von China, im russischen Kaukasus, in Nordirland usw.
    Einige dieser Kriege und Konflikte sind entschieden, wurden gewonnen oder verloren, oder mit einem Kompromiss beendet: jene in Ruanda, Jugoslawien, Nordirland usw. Aber das waren, bildlich gesprochen, nur so viele "Schlachten", die entschieden wurden; die Menschheit jedoch verliert den „Krieg“, den nämlich gegen den drohenden weltweiten Kollaps. Wie Bacevich im Zusammenhang mit dem Krieg gegen den IS schrieb: "Unterdrückt man die Symptome, manifestiert sich die Krankheit einfach auf andere Weisen. Es gibt immer einen anderen ‚Islamischen Staat‘ in den Startlöchern." Wir könnten hier vielleicht noch die Lage in Nigeria und Pakistan erwähnen.
    Das genau ist der Punkt. Die Menschheit leidet heute sozusagen an einer schweren Krankheit, aber wir kämpfen nur darum, die Symptome zu unterdrücken.

Die Krankheit und ihre Symptome

Der Unterschied zwischen den Kriegen und gewaltsamen Konflikten der Vergangenheit und denen der Gegenwart ist, dass bei den ersteren die Menschheit im allgemeinen und die betroffenen Völker hoffen konnten, dass nach der Wiederkehr des Friedens auch wirtschaftliche Erholung und Prosperität wiederkehren würden. Selbst nach dem verheerenden 30jährigen Krieg im 17. Jahrhundert erholte sich Mitteleuropa, wenn auch langsam, und prosperierte wieder. Nach den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert erholten sich in den 1950er Jahren die Wirtschaften und Gesellschaftsstrukturen aller verwüsteten Länder, und sie florierten sogar – zusammen mit vielen anderen Ländern, die nicht direkt von den Kriegen betroffen waren. Heute jedoch fürchten wir, dass die Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen von noch mehr Ländern zusammenbrechen werden und dass die Zahl der gescheiterten Staaten wachsen wird – all das, obwohl im Vergleich zu vergangenen Epochen die Anzahl und Schwere der Kriege und gewaltsamen Konflikte gesunken sind.
    Die heutigen Gefahren des Zusammenbruchs kommen nicht wirklich von Kriegen und gewaltsamen Konflikten. Diese sind eigentlich nur Symptome oder Resultate einer geradezu schweren Krankheit. Diese Gefahren kommen genau von dem Wohlstand, der in jüngerer Zeit für einen großen Teil der wachsenden Weltbevölkerung geschaffen werden konnte. Es ist ein wenig wie eine übergewichtige Person, die in den letzten Jahren unmäßig gegessen und getrunken hat und infolgedessen an verschiedenen Krankheiten leidet.
    Wir haben zweifellos den Hunger besiegt. Seit einiger Zeit hat es nirgendwo eine schwere Hungersnot gegeben – wie zum Beispiel die, die Äthiopien in den 1980er Jahren erlebte. Schon beim frühesten Zeichen von Hungersnot irgendwo, kann eilends Nahrungsmittelhilfe an die Hungernden geschickt werden. Obwohl es immer noch Armut gibt, ist es nicht mehr die bittere Armut, die vor zwanzig oder dreißig Jahren in vielen Teilen der Welt beobachtet werden konnte, z. B in Indien, Afrika etc. In den meisten ehemals bitterarmen Ländern genießt heute ein großer Teil der Menschen aus den unteren Schichten TV-Shows und Kommunikation über Mobiltelefone.
    Doch gleichzeitig sind heute Hunderte von Millionen Menschen, vor allem junge Leute, ohne Arbeit. Seit dem Finanzcrash von 2008, der inzwischen zu einer Krise des Kapitalismus geworden ist, leiden die Wirtschaften vieler Länder an Rezession, Stagnation oder sinkenden Wachstumsraten; das Realeinkommen sinkt; und in Ländern mit einem noch funktionierenden Sozialstaat werden Sozialleistungen gekürzt. Überall wachsen Frustration und Unzufriedenheit. Hunderttausende verlassen ihre Heimat auf der Suche nach Zuflucht in einem anderen Land, wobei sie enormes Leid, auch Sterben durch Ertrinken im Meer riskieren.
    All das geschieht, weil gerade die Basis des relativen Wohlstands der jüngsten Vergangenheit rapide erodiert. Die globale Erwärmung stiftet Chaos beim Weltklima. Stürme, Sturmfluten, Überschwemmungen und Erdrutsche verwüsten große bewohnte Gebiete, richten verheerende Schäden an Häusern, Infrastrukturen und Ernten an. Ressourcen, die unbedingt erforderlich sind, um die heutige Weltwirtschaft in Gang zu halten, gehen zur Neige, während die Weltbevölkerung weiterwächst. Und die globale Umwelt wird kontinuierlich degradiert.
    In einem früheren, in diesem Blog veröffentlichten Artikel2 habe ich dargelegt, dass der Bürgerkrieg in Syrien zu einem großen Teil das Resultat einer schweren Dürre und des Bevölkerungswachstums ist. Allgemein gesprochen, wurde der sogenannte Arabische Frühling durch die Frustration der Jugend verursacht, die nicht nur Demokratie forderte, sondern auch Wohlstand und Erwerbsarbeit herbeisehnte. Ähnliche Jugendrevolten und allgemeine, teilweise destruktive Manifestationen von Frustration finden auch in europäischen Ländern statt – zum Beispiel in Griechenland, Frankreich, Spanien, Italien und England. In den USA protestiert die schwarze Minderheit massiv gegen institutionellen Rassismus, willkürliche Polizeigewalt und ein gebrochenes Justizsystem. Die Kosten allein der Reparatur, Wartung und Verteidigung der Industriegesellschaf sind immens gewachsen, während die Ressourcen stetig verbraucht werden.
    Ein Krieg hat in der Regel mehrere Fronten, auch der "Krieg", den drohenden weltweiten Kollaps zu verhindern. Es ist zwar notwendig, aber individuellen AktivistInnen nicht möglich, an allen Fronten zu kämpfen. Dennoch müssten wir wenigstens einen Überblick über das Ganze haben. Es scheint mir jedoch, dass die meisten AktivistInnen auf die „Schlacht“ fixiert sind, die sie im Moment schlagen, und den genannten "Krieg" nicht im Sinn haben. Manchmal feiern sie schon die kleinen unbedeutenden Erfolge in ihren jeweiligen „Schlachten“.

Wann feiern wir den Sieg?

So las ich vor kurzem einen Brief von Bill McKibben (einer der Träger des "Alternativen Nobelpreises" im Jahr 2014), den er an seine MitstreiterInnen geschrieben hatte, die mit ihm zusammen am 21. September 2014 in New York und anderen Städten der Welt die großen Volksmärsche für Klimaschutz organisiert hatten. Er schrieb2a:

"... als jener Tag zu Ende ging (und erinnern Sie sich daran, dass er mit der Ankündigung des Rockefeller Brothers Fund endete, dass er ihre Investitionen in die fossile Brennstoffindustrie zurückziehen würde), ließ ich mich denken, dass wir den Anfang vom Ende der fossilen Brennstoffindustrie gesehen haben." Er schrieb weiter:
    "Das heißt natürlich nicht, dass unser Sieg garantiert ist. Wenn das Ende von Kohle, Öl und Gas nicht schnell kommt, wird uns der Schaden von globaler Erwärmung überwältigen. Zu langsam gewinnen ist das Gleiche wie verlieren. So steht uns eine entscheidende Reihe von Schlachten bevor: Investitionsveräußerung, Fracking, Keystone[pipeline], und viele andere, von denen wir noch nichts wissen.“

    Beachten Sie, dass er schon einen halben Sieg feiert, nachdem der Rockefeller Brothers Fund die Veräußerung seiner Investitionen in fossile Brennstoffe angekündigt hat. Aber dies ist noch nicht einmal ein kleines Siegchen in einer kleinen Schlacht; hier handelt es sich nur um eine Ankündigung. Es wird in diesem Zitat suggeriert, dass alles gut sein würde, wenn die fossilen Energien ganz aufgegeben würden und die erneuerbaren Energien die Aufgabe übernommen haben würden, die Industriegesellschaften der Welt anzutreiben. Es wird nicht gefragt, ob die sogenannten erneuerbaren Energien ökonomisch lebensfähig sind, nicht gefragt, ob eine Industriegesellschaft überhaupt nachhaltig sein kann, und man sieht hier nicht einmal eine Spur eines Zweifels am Kapitalismus, der es eigentlich ist, der alle Fortschritte Richtung Nachhaltigkeit verhindert.
    Gefeiert wurde auch die Ankündigung von China und den USA im Vorfeld der UN-Klimakonferenz in Lima, dass diese zwei größten Verursacher der globalen CO2-Emission vereinbart haben, in zehn bis fünfzehn Jahren die Zunahme ihrer CO2-Emission zu stoppen. Etwa um die gleiche Zeit wurde jedoch berichtet, dass Indien plant, seine Kohleproduktion in fünf Jahren zu verdoppeln2b. Offensichtlich denkt niemand in diesem sonnen- und windreichen Land, dass es möglich ist, fossile Energien durch „erneuerbare“ zu ersetzen. Während der genannten Lima-Konferenz las ich in einem Zwischenbericht3 darüber, dass zur Halbzeit die europäischen Delegierten mit den erzielten Fortschritten sehr zufrieden waren. Sie seien sehr optimistisch; sie dächten, dass diesmal eine positive Einigung erzielt werden könnte. Aber gleichzeitig wurde berichtet,4 dass auf der Konferenz alle schwierigen und kontroversen Fragen sorgsam vermieden würden – z. B., ob es öl- und kohlereichen Ländern (Saudi Arabien, Russland, Australien, Polen etc.) verboten würde, ihre Bodenschätze auszubeuten; ob Wirtschaftswachstum, wonach insbesondere die weniger entwickelten Länder streben, immer noch möglich wäre, wenn der Verbrauch fossiler Brennstoffe drastisch eingeschränkt würde; ob Ecuador und Bolivien, die zwei Länder, die am lautesten "buen vivir" (gutes Leben, im Gegensatz zu reichem Leben) predigen, aufhören würden, ihren Reichtum an fossilen Brennstoffen auszubeuten; ob der Kapitalismus mit dem Ziel vom Klimaschutz und, allgemeiner gesprochen, Schutz der natürlichen Umwelt vereinbar wäre.
    Meine LeserInnen kennen meine Ansichten über diese Fragen. Sie können in den früher in diesem Blog veröffentlichten Artikeln gefunden werden. Deshalb will ich sie hier nicht wiederholen. Nur so viel zum Abschluss: Wir sollten unsere Feierlichkeiten verschieben, bis wirklicher Sieg erreicht worden ist. Und spätestens jetzt sollten wir aufhören, uns selbst zu täuschen. Beschäftigen wir uns allen Ernstes mit den eigentlichen Aufgaben unserer Kämpfe, nämlich der allmählichen Überwindung der industriellen Lebensweise und der Überwindung des Kapitalismus. Denn solange diese beiden unser Leben und unsere Gesellschaften beherrschen, kann kaum etwas anderes erreicht werden. Dann werden wir ganz bestimmt den "Krieg" verlieren.

Quellenangaben:

1. “Even if we defeat the Islamic State, we’ll still lose the bigger war”, in The Washington Post online, October 3, 2014.
http://wapo.st/1vlnuxk
2. Lampedusa Weiterdenken.
http://ak-oekopolitik.blogspot.de/search?q=Lampedusa
2a. Interesting Transitions at 350.org (02.12.2014)http://350.org/interesting-transitions-at-350-org/

2b.
Die New York Times International Weekly (28.11.2014) India’s Ruinous Pursuit of Coal.
http://nyti.ms/1xgx6Na
3. Bayerischer Rundfunk
http://www.br.de/nachrichten/un-klimakonferenz-lima-104.html.
06.12.2014.
4. die tageszeitung
http://www.taz.de/1/archiv/?dig=2014/12/05/a0091
05.12.2014