Stéphane Hessel, ein 93jähriger französischer Herr, hat eine Streitschrift geschrieben – "Indignez-vous!" (Enpört euch!) –, ein Bestseller, von dem in Frankreich schon fast 1 Million Exemplare verkauft worden sind. Das Buch wird auch auf deutsch erscheinen. Aber schon jetzt, auf der Grundlage von Medienberichten und insbesondere eines Interviews im Spiegel (4/2011), finde ich es notwendig, seinen Aufruf und seine anderen Äußerungen zu kommentieren. Denn Empörung über alle möglichen Missstände und gesellschaftlichen Übel grassiert in vielen Teilen der Welt: in Griechenland, Großbritannien, Frankreich, Spanien, Portugal, Italien, und seit etwa sechs Wochen auch in der arabischen Welt.
Herr Hessel war Résistance-Kämpfer gegen die Nazi-Barbarei. Eine solche Barbarei gibt es zwar nirgendwo mehr, aber er sieht heute "zu viele Probleme – von der Wirtschaftskrise über den Abbau des Sozialstaats bis zur ökologischen Zerstörung des Planeten" –, die ungelöst sind. Das sind genug Gründe für Empörung, und darum hat sein Aufruf auch ein gewaltiges Echo ausgelöst. Er sagt: "Eine Unruhe hat unsere Gesellschaften erfasst, ein Gefühl, dass es so nicht weitergehen kann."
Soweit ist alles richtig. Aber Herr Hessel sagt nicht, was die Ursachen der genannten Probleme sind. Er sagt zwar, der Empörung müssten Reflexion und politische Problemanalyse folgen, aber er liefert beides nicht. Er sagt zwar, dass der politischen Problemanalyse "Anleitung zum Handeln" und "Aufzeigen von Wegen aus der Gefahr" folgen müssten, aber beides unterlässt er. Er schiebt diese Aufgaben anderen zu; er sagt, es gebe kompetentere Leute als ihn.
Das ist eine Ausrede. Er will wohl niemand und nichts kritisieren, als ob diese großen Probleme ohne Ursachen und ohne menschliches Zutun entstanden wären. Herr Hessel drückt sich einfach vor der Aufgabe. Aber wieso? Er ist heute 93 Jahre alt, hat nichts mehr zu verlieren. Er ist ein hoch intellektueller Mensch, und das Interview zeigt, dass er einen klaren Kopf behalten hat. Wieso denkt er, dass er nicht kompetent ist?
Er sagt, er bewundere den Kampfesmut der Anarchisten wie Bakunin. Eigentlich aber misstraue er der revolutionären Versuchung. Das kann man verstehen, denn er denkt: "eine gewalttätige Hoffnung kann es in der Politik nicht geben." Er argumentiert weiter: "terroristische Gewalt vergiftet die Ziele, für die sie zu kämpfen vorgibt." Auch dies kann einer richtig finden, der die Geschichte der Revolutionen kennt.
Aber ist denn die Alternative zur gewalttätigen Revolution der Verrat der Sozialdemokratie? Herr Hessel scheint diese Frage mit Ja zu beantworten. Denn er ist bis heute zahlendes Mitglied der Sozialistischen Partei Frankreichs. Die ganze Welt weiß, dass diese Partei eigentlich eine sozialdemokratische ist. Er sagt: er ist "für ein rot-grünes Bündnis in Frankreich nach deutschem Vorbild.". Da staunt man. Weiß er etwa nicht, dass es die rot-grüne Regierung war, die durch das Harz-IV-Gesetz den Abbau des Sozialstaates forcierte – eines der drei von ihm genannten ungelösten Probleme, die er als Ursachen der großen Unruhe ausgemacht hat? Und trug nicht dieselbe rot-grüne Regierung die neoliberale Globalisierung bereitwillig mit, die die Hauptursache der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise ist?
Schuld an dem dritten von ihm genannten Problem, nämlich der ökologischen Zerstörung, sind alle politischen Kräfte, inklusive der französischen und der deutschen Sozialdemokratie, die den Kapitalismus akzeptiert haben und/oder sich stetigem Wirtschaftswachstum verschrieben haben. Spätestens bei diesem Problem hätte Herr Hessel die Systemfrage stellen müssen. Das tut er nicht. Offensichtlich ist sie auch für ihn tabu.
Zu guter Letzt verwechselt Herr Hessel wohl die friedliche Beseitigung eines autokratischen oder unbeliebten Herrschers bzw. Unrechtsregimes mit dem Beginn der Lösung der drei genannten großen Probleme. Der Fall der Berliner Mauer führte das DDR-Volk in ein ihm bis dahin unbekanntes System mit Arbeitslosigkeit und Sozialabbau. Die Orangene Revolution von 2004 ermöglichte den Ukrainern nur einen Übergang von Präsident Janukovitsch zu Präsident Justschenko und 2010 wieder zu Präsident Janukovitsch. Die Probleme blieben oder wurden gar schlimmer. Und es ist sicher, dass die Vertreibung von Ben Ali dem tunesischen Volk keine Lösung seiner wirtschaftlichen und sozialen Probleme bringen wird.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen