Neulich las ich ein paar interessante Zeitungsartikel über die wirtschaftliche Lage in Japan. Wie meine Leser wohl wissen, gilt Japan in Ökonomenkreisen als der gefallene Riese. Die neunziger Jahre und die danach galten als die "verlorenen Jahrzehnte", Jahre der Stagnation. Auch die heutige Lage ist düster: die Staatsverschuldung beträgt 220 Prozent des BIP. Trotz Zinssätzen von unter einem Prozent braucht der Staat ein Viertel seiner Einnahmen für den Schuldendienst. Es gibt wenig Hoffnung, dass das Land die Misere durch Wirtschaftswachstum überwinden könnte. Seine Bevölkerung schrumpft und altert. Sie wird künftig weniger konsumieren usw. Nach Erdbeben, Tsunami und Fukushima ist die Lage noch schlimmer geworden. 2011, zum ersten Mal in 30 Jahren, verzeichnete das Land eine negative Handelsbilanz. Ein CNN-Kommentator beschrieb Japan als "ein sehr demoralisiertes Land", es sei wirklich zurückgeworfen worden.
Einer der Artikel (New York Times in SZ, 23.1.2012) aber widerspricht dieser Lagebeschreibung. Der Autor Eamonn Fingleton nennt sie "einen Mythos". Er behauptet, in vieler Hinsicht habe die japanische Wirtschaft in den so genannten verlorenen Jahrzehnten sehr gut abgeschnitten, in einiger Hinsicht sogar besser als die USA und Westeuropa.
Fingleton argumentiert unkonventionell. Als Beleg für seine Behauptung verweist er auf einige Errungenschaften, die wenig zu tun haben mit den gewöhnlichen Wirtschaftsindikatoren. Obwohl das BIP pro Kopf in den Jahren seit 1989 durchschnittlich nur um 1 Prozent wuchs, und obwohl weder die Immobilienpreise noch die Aktienkurse zur gleichen Höhe zurückkehrten wie in den Jahren vor dem Crash von 1990, konnte Japan seinen Bürgern, so behauptet Fingleton, einen immer besseren Lebensstil bescheren. Als Errungenschaften nennt er zwar ein paar belanglose Sachen wie die Anzahl von neu gebauten Hochhäusern, die Anzahl von Städten mit schnellstem Internetdienst, den steigenden Wechselkurs des Yen, und den Leistungsbilanzüberschuss. Aber als Errungenschaft nennt er auch die Tatsache, dass zwischen 1989 und 2009 die Lebenserwartung von 78,8 auf 83 Jahre gestiegen ist, was auf bessere Gesundheitsfürsorge zurückzuführen ist. Aber der stärkste Beleg für die Überlegenheit der japanischen Wirtschaft gegenüber denen anderer Industrieländer ist die sehr niedrige Arbeitslosenquote von 4,2 Prozent.
Ich halte die Betonung dieser zwei qualitativen Aspekte der Wirtschaftsentwicklung für einen Lichtblick in der Publizistik. Hinter dem scheinbaren Paradox von einer sehr niedrigen Arbeitslosenquote in einer stagnierenden Wirtschaft liegt eine soziale Errungenschaft. Aus institutionellen/kulturellen Gründen ist es in der japanischen Wirtschaft nicht so leicht bzw. nicht üblich, Beschäftigte bei Rückgang in Produktion oder Umsatz sofort zu entlassen. Es gibt da die Tradition der lebenslangen Beschäftigung bei derselben Firma. Bei großen Konzernen gilt diese Tradition vielleicht nicht mehr, oder nur begrenzt. Aber die Arbeitslosenquote zeigt, dass sie noch immer gilt.
Nach Lektüre dieser positiven Bewertung der Lage in Japan könnten sich Menschen mit der Idee einer Postwachstumsökonomie anfreunden. Man könnte denken, so schlecht kann es also nicht sein, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Aber nicht so schnell! Wir dürfen nicht vergessen, dass Japan, und auch Deutschland, wo zurzeit sehr viel über ein Szenario jenseits des Wachstums geredet wird (besonders in Attac-Kreisen), schon eine sehr hohe Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht haben. In unterentwickelten Ländern, selbst in Schwellenländern wie Indien und China, kann man nicht so einfach eine positive Einstellung zu einem wachstumslosen Wirtschaften einnehmen, zumal in solchen Ländern die Bevölkerungszahl stetig steigt, und zudem in manchen solcher Länder etwa 50 Prozent der Bürger unter 30 Jahre alt sind.
Die wirtschaftliche Stagnation in Japan ist nicht gewollt, genau wie die Stagnation im größeren Teil Europas nicht gewollt ist. Aber auch wenn sie nicht gewollt ist, sollten wir sie aus ökologischen und Ressourcen-Gründen begrüßen. Jedoch Stagnation auf hohem Niveau macht noch keine steady-state Ökonomie aus. Dazu gehört ein starkes Zurückfahren des Ressourcenverbrauchs und ein gewollter Rückgang der Bevölkerungszahl.
Werden die Protagonisten einer Postwachstumsökonomie in Europa (besonders Attac-Aktivisten) unmissverständlich für eine Wirtschaftsschrumpfung plädieren? Und werden die Umweltaktivisten in den Dritte-Welt-Ländern für eine Schrumpfung ihrer Bevölkerungszahl eintreten? Das wären zwei gute Anfangsbeiträge zur Transformation der gegenwärtigen Weltwirtschaft zu einer steady-state Weltwirtschaft.
Mit einer steady-state Wirtschaft muss die Gesellschaft nicht zu einer langweiligen, regressiven Gesellschaft werden. Dazu zwei Zitate:
Schon 1931 schrieb Keynes, dass er "…tief davon überzeugt ist, dass das ökonomische Problem … eine schreckliche Verwirrung ist. … . Die westliche Welt [hat] schon die Ressourcen und Technologien, die … in der Lage sind, das ökonomische Problem … zu einem Stellenwert sekundärer Wichtigkeit zu reduzieren." Er hoffte, dass "… die Arena des Herzens und des Kopfes von unseren wirklichen Problemen besetzt, oder wiederbesetzt, werden wird – von den Problemen des Lebens und der Verhältnisse der Menschen untereinander, der Schöpfung, des Verhaltens und der Religion." Man kann hier erkennen, was Keynes für die wirklichen Probleme der Menschheit hielt. Wirtschaftswachstum gehörte nicht zu ihnen.
Noch viel früher, im Jahre 1857, schrieb John Stuart Mill, dass "… ein Zustand konstanten Kapitals und gleich bleibender Bevölkerungszahl nicht mit einem stillstehenden Zustand menschlicher Erfindergabe gleichzusetzen ist. Es gäbe ebensoviel Spielraum für alle Arten geistiger Kultur, für moralischen und sozialen Fortschritt, genau so viele Möglichkeiten, die Lebensführung zu verbessern, und es wäre wahrscheinlicher, dass dies auch geschehen würde."
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