Sonntag, 8. Dezember 2013

Zwei verschiedene demographische Krisen -- Einige ökosozialistische Überlegungen


Ein Zeitungsartikel von Daley & Kulish (2013) unter der Überschrift „Deutschland: Zu wenig Menschen?“ erweckte in mir verschiedene Gedanken und alte Erinnerungen:

    Eins der ernstesten Probleme der Erdbevölkerung, das Problem der Übervölkerung, ist auch das am leichtesten zu verstehende. Schon im Alter von etwa 9 Jahren wurde mir zum ersten Mal das Problem des exponentiellen Bevölkerungswachstums bewusst. Es kam mir in den Sinn: Meine Eltern waren nur zwei Personen, und sie zeugten 6 Kinder, sodass unsere Familie in 12 Jahren auf 8 Personen anwuchs. Mir schien, das konnte nicht so weitergehen. Das Einkommen meines Vaters war schließlich begrenzt. Ich erzählte meinem nur eineinhalb Jahre älteren Bruder von meiner Sorge. Er sagte: „Du redest Unsinn.“ Wir standen an einem Teichufer, als ich mit dem Gespräch anfing. „Schau dir den Teich an“, sagte mein Bruder, “Wenn es regnet, fallen da hunderttausende von Regentropfen hinein. Und was geschieht? Nichts!“ Er hat Recht, dachte ich, obwohl ich nicht ganz zufrieden war.

    Damals konnte ich das Thema nicht weiterverfolgen, aber ich vergaß das Gespräch nie. Als erwachsener Mensch lernte ich später in der Hochschule die Bevölkerungstheorie von Malthus kennen. Unser Dozent in politischer Ökonomie kritisierte sie. Ein Mensch, sagte er, komme nicht nur mit einem Magen zur Welt, sondern auch mit zwei Händen. Er könne produzieren, was er benötige. Rückblickend glaube ich, mein zehn Jahre alter Bruder hatte das Problem eigentlich besser verstanden als unser Dozent. In der Tat passiert in einem bengalischen Teich nie etwas Besonderes. Wegen der Verdunstung sinkt der Wasserspiegel im Sommer. Doch in der folgenden Regenzeit füllt viel Wasser den Teich wieder auf. Es gibt da immer Wasser. Mein Bruder hatte intuitiv das Prinzip des steady state verstanden, und zwar das eines dynamischen, d.h. zyklischen steady state.

    Hingegen erinnerte mich das Bild eines mit zwei Händen geborenen Menschen an ein erschreckendes, aber happy-end Märchen, das ich als Kind gelesen hatte: Ein Dämon hatte ein Dorf heimgesucht. Er sagte, er werde alles zerstören. Die Dorfbewohner verzweifelten. Da ging ein kleines Mädchen zu dem Dämon und flehte ihn an zu verschonen, was noch stand. Der Dämon sagte, er würde ihrer Bitte nachgeben, aber nur unter der Bedingung, dass sie ihm fortwährend genug Arbeit geben würde. Anderenfalls müsse er seine Zerstörungsarbeit wieder aufnehmen, da er nie aufhören könne zu arbeiten. Der Deal wurde gemacht. Der Dämon hörte mit der Zerstörung auf, und das Mädchen gab ihm eine sinnvolle Arbeit nach der anderen: ein gutes Haus für jede Familie im Dorf bauen, ein gutes Schulgebäude bauen, eine gute Straße, gute Möbel für jedermann etc. etc. Der Dämon tat all dies. Aber bald gingen dem Mädchen die guten Ideen aus. Es drohte die Gefahr, dass der Dämon wieder mit der Zerstörung begänne. Dann hatte das Mädchen eine Idee. Sie gab dem Dämon eins ihrer lockigen Haare und forderte ihn auf, es zu glätten. Der Dämon sagte, das sei zu wenig Arbeit für ihn. Aber das Mädchen bestand darauf. Der Dämon begann mit der Arbeit. Er zog das Haar und drückte es zwischen seinen Fingern, immer wieder, aber ohne Erfolg. Das Haar wollte nicht glatt werden. So wurde der Dämon für immer beschäftigt. Das Dorf war gerettet.

    Das heutige Problem der deutschen Wirtschaft ähnelt sehr dem des Märchendorfes. Meine kindliche Sorge wegen unseres Familienwachstums entsprach im Kleinen unserer heutigen Sorge um die wachsende Weltbevölkerung. Und mit seinem Gleichnis von dem Teich, in dem sich eigentlich nichts ändert außer dem Wasserstand, nahm mein Bruder das Steady-state-Ideal der Ökologen vorweg. Nur dass weder mein Bruder noch ich vor 68 Jahren wussten, dass es Phänomene gibt wie sintflutartigen Regen, gefolgt von verheerenden Überschwemmungen, sowie auch jahrelange Dürren wegen kümmerlicher Niederschläge.

Zu wenige Menschen

Über die Jahrzehnte hat das akkumulierte Industriekapital Deutschlands eine dämonische Größe erreicht. Der Dämon will ständig arbeiten, irgendetwas tun – ob Konstruktives oder Destruktives, spielt keine Rolle. Es ist egal, ob ein Haus gebaut oder abgerissen wird, die ausführenden Firmen machen Gewinn. Am unerträglichsten ist es, wenn Maschinen stillstehen. Allerdings braucht dieser Dämon noch Arbeiter, trotz allen Fortschritts in der Arbeitsproduktivität. Und hierbei ist ein ernstes, beängstigendes Problem entstanden: Deutsche Frauen bringen zu wenige Kinder zur Welt. Die Kinder von heute sind ja die Arbeiter von morgen.

    Es ist die eine Art demographische Krise, die die meisten Menschen schwer verstehen. Hören wir nicht schon seit Jahrzehnten, dass die Welt übervölkert ist? Versuchen nicht seit langem die Regierungen vieler Länder, die Geburtenrate zu senken? Hat uns nicht der erste Bericht an den Club of Rom (Meadows et al 1972) vor den unliebsamen Folgen der Begrüßung hoher Geburtenzahlen gewarnt?

    Wenn das Problem nur darin läge, Arbeitskräfte zu finden, wäre es leicht zu lösen. Arbeitskräfte können aus vielen Ländern importiert werden – aus Ländern, in denen es einen Überfluss an jungen Menschen gibt, die nach Arbeit schreien. In der Tat haben in den 1960ern Deutschland und die meisten anderen Industriestaaten Europas auf diese Weise ihren Arbeitskräftemangel behoben. Aber bald bemerkten sie bestürzt, dass diese einfache Lösung einen bitteren Nachgeschmack hatte. Sie wollten Arbeiter importieren, doch es kamen Menschen. Menschen können Arbeit liefern, aber sie können auch zum Ärgernis werden. Die importierten Arbeiter ließen sich dort nieder, wo ihre neuen guten Arbeitsplätze waren; später folgten ihre Frauen und Kinder. Die erwachsenen Kinder heirateten und zeugten Kinder. Die Regierungen und die Einheimischen der Gastgeberländer, jedenfalls die meisten, missbilligten diese Entwicklung. Sie hätten eine Regelung vorgezogen, nach der die importierten Arbeitskräfte jeweils neun Monate arbeiteten, dann für drei Monate nach Hause gingen, wieder neun Monate arbeiteten und so weiter. Anfangs war das die Regelung in der Schweiz. Aber die Wirtschaftsbosse waren dagegen, und, natürlich, ihr Wille geschah. Bald gab es zu viele von diesen Einwanderern.

    Als Mitte der 1970er infolge der ersten Ölkrise in den Industriestaaten Europas eine Rezession einsetzte, versuchten die Gastländer, so viele Gastarbeiter loszuwerden wie möglich. In Westdeutschland, wo die allermeisten Gastarbeiter Türken waren, bot ihnen Kanzler Kohl eine Prämie für eine freiwillige Rückkehr an, aber ohne Erfolg.

    Was den christlichen Ländern Europas die meisten Sorgen machte, war der islamische Glaube der meisten Gastarbeiter. Als Kanzler Kohl in den 1980ern das erwähnte Angebot machte, sagte er in einem Gespräch mit Margaret Thatcher, der Grund für seine Initiative sei die ganz andere Kultur der Türken, die eine Integration sehr erschwerte.

    Schon in den frühen 1980ern konnte ich in Deutschland Fremdenfeindlichkeit beobachten. Man las Graffiti wie „Türken in die Türkei“, „Türken raus“. Schwarze und andere dunkelhäutige Menschen wurden oft auf der Straße angegriffen. Zwei von Türken bewohnte Häuser wurden in Brand gesteckt. Bei solchen Angriffen kamen mehrere Personen ums Leben. In den 1990ern griffen Neo-Nazis Ausländer aus allen armen Ländern an, einschließlich einiger aus Polen. Ihr Slogan: „Deutschland den Deutschen, Ausländer raus“. Ähnliche fremdenfeindliche Vorfälle ereignen sich seither in fast allen europäischen Ländern. In einigen Ländern, wie z.B. in Belgien und den Niederlanden, gibt es die Furcht, die Einheimischen würden bald zur Minderheit im eigenen Land. Asylgesetze sind verschärft worden. Nach der Zerstörung des World Trade Center in New York am 11.9.2001 wurde es noch schlimmer.

    Was ich mit alledem sagen will, ist, dass Deutschlands Arbeitskräftemangel nicht mehr so leicht durch Import von Arbeitern aus armen Ländern zu beheben ist. Die Regierung ist durchaus willig, hochqualifizierte Arbeiter einwandern zu lassen, für eine begrenzte Zeit. Doch die Hunderttausende junger und ungelernter Ausländer, die hierher (oder in ein anderes reiches Land Europas) kommen wollen, um zu arbeiten und Geld zu verdienen, bekommen weder Visum noch Asyl. Deutschland sei kein Einwanderungsland, wird behauptet. Doch die wirklichen Gründe dafür sind andere: Erstens gibt es die Furcht, von Ausländern überschwemmt zu werden. Und zweitens existiert auch die Angst vor Ärger mit ausländerfeindlichem Pöbel.

    Für Deutschlands Führung gibt es nur drei mögliche Lösungen dieses dringenden Problems: (1) Alle erwerbslosen Menschen aus den krisengeschüttelten Ländern Europas – Griechenland, Spanien, Portugal, Italien Polen, Rumänien, Bulgarien etc. nach Deutschland kommen lassen, sie nötigenfalls etwas ausbilden, sodann arbeiten lassen. Das ist nach den EU-Verträgen schon weitgehend möglich; (2) deutsche Frauen irgendwie dazu bewegen, mehr Kinder zu kriegen; (3) eine stagnierende Wirtschaft hinnehmen.

    Die erste Lösung setzt die Annahme voraus, dass die besagten krisengeschüttelten Länder sich niemals von Rezession und Stagnation erholen und deshalb zukünftig die Arbeit etwa der Hälfte ihrer Jugend nicht brauchen werden. Nach der vorherrschenden Wirtschaftsideologie ist dies schwer anzunehmen. Jeder hofft, die Krise wird bald vorbei sein. Überdies kann die deutsche Wirtschaft einfach nicht so vielen erwerbslosen Süd- und Osteuropäern Beschäftigungschancen anbieten, selbst wenn sie bereit sind, ausgebildet zu werden. Zwar arbeiten viele osteuropäische Frauen mittleren Alters als gelernte oder ungelernte Niedriglohn-Pflegerinnen für die rapide wachsende Zahl hoch-betagter Deutscher. Kürzlich kamen sogar junge Chinesinnen nach Deutschland, um diese Tätigkeit auszuüben. Aber bald werden auch die Bevölkerungen Europas und Chinas altern. In diesem Zusammenhang nennen Daley und Kulish Lettland und Bulgarien, deren Bevölkerungszahlen schneller abnehmen als die Deutschlands. Was energische junge Leute betrifft, so fühlen sich viele Portugiesen, Spanier und Italiener mit Qualifikation, Geschick und unternehmerische Fähigkeiten, die in heutigen Industrien gebraucht werden, gezwungen auszuwandern oder zurückzukehren in lateinamerikanische Länder; die Portugiesen sogar nach Angola und Mosambik. Die anderen, Leute ohne hinreichende Qualifikation oder Geschick, leben lieber von nationalen Sozialleistungen und wohnen im Hotel Mama, statt ihr Glück in Deutschland zu versuchen. Denn sogar deutsche Arbeiter auf vergleichbaren Stufen der Arbeiterhierarchie können nicht von ihren niedrigen Löhnen leben und müssen deshalb zusätzliche Sozialleistungen beantragen.

    Die zweite Lösungsidee hat wenig Aussicht auf Erfolg. Moderne Lebensverhältnisse und Emanzipation haben gewirkt, dass Kinderwunsch zurückgegangen ist. Auch der herrschende neoliberale Kapitalismus erschwert die Vereinbarkeit von Mutterschaft und Vollzeitberuf, weil er massiv die Kraft aller Arbeitnehmer, besonders der weiblichen, aufzehrt. Und viele von den Frauen, die ein Kind wollen, finden einfach keinen Mann, der bereit ist, eine Familie mit ihnen zu gründen. Der völlige Mangel an Arbeitsplatzsicherheit unterminiert die Verantwortungsbereitschaft von Männern. Ein sehr großer Teil der deutschen Mütter sind alleinerziehende. Im Vergleich zum restlichen Europa, das in einer schier endlosen Wirtschaftskrise steckt, ist Deutschland eine Insel des Wohlstands und geringer Erwerbslosigkeit. Leicht vorzustellen ist deshalb, wie schwer es in den anderen Ländern ist, sich für eine Familiengründung und zwei oder drei Kinder zu entscheiden.

    Die dritte Lösung, also eine stagnierende Wirtschaft hinnehmen, ist für die meisten Menschen unmöglich – nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt. Leider ist sie jedoch die einzig realistische, ich glaube sogar unvermeidliche, Lösung der demographischen Krise der hier besprochenen Art. In reichen entwickelten Ländern, wo der demographische Übergang schon stattgefunden hat, – in Deutschland war das 1972 –, ist ein erneutes Bevölkerungswachstum unwahrscheinlich. Die von Daley und  Kulish zitierten Statistiken zeigen einen Bevölkerungsrückgang, der andauern wird – bei gleichzeitiger Alterung. Zwar mag ein Schrumpfen zu verhindern sein – durch erwünschte und/oder unerwünschte Zuwanderung aus übervölkerten Ländern. Aber wegen der Angst, von armen schwarzen, braunen und gelben oder islamischen Fremden überschwemmt zu werden, und wegen der Angst, dass das Land seine weiß-christliche Identität verlieren könnte, werden zur Verhinderung von Einwanderung immer strengere Gesetze und Regeln in Kraft treten. Die USA bauen immer längere und höhere Mauern entlang der mexikanischen Grenze; Ceuta und Melilla (zwei spanische Exklaven in Marokko) werden von zwei Reihen hoher Stacheldrahtzäune geschützt.

    Das Argument ist überzeugend, dass für die reichen Industrieländer eine stagnierende, besser noch eine schrumpfende, Wirtschaft eine gute Lösung ihrer demographischen Krise sei, weil sie gleichzeitig ein Beitrag zur Entschärfung der globalen ökologischen und Ressourcenkrise wäre. Also sollte die Wirtschaft absichtlich heruntergefahren werden – sofern das nicht schon durch die gegenwärtige Wirtschaftskrise geschieht, um sie der demographischen Realität anzupassen. Die weißen europäischen Völker, die die genannte demographische Krise erleben, werden nicht aussterben. Ihre Frauen, auch wenn sie modern und emanzipiert sind, wollen Kinder – im Durchschnitt zwei –, wie die Beispiele Frankreichs und einiger skandinavischer Länder zeigen. An irgendeinem Punkt des gegenwärtig andauernden Rückgangs wird die Geburtenrate wieder steigen – wahrscheinlich mit der Ausbildung eines humaneren Gesellschaftssystems, also eines ökosozialistischen, und einer arbeitsintensiver Wirtschaft, nachdem das Ressourcenproblem zu einem Knirschen im System geführt hat. Dies wird zu einer steady-state Bevölkerung führen. Deshalb brauchen wir uns keine Sorgen zu machen.

Zu viele Menschen

Es gibt aber Gründe, sich wegen der demographischen Krise in den weniger entwickelten Ländern Sorgen zu machen, die eine Krise entgegengesetzter Art ist. In vielen dieser Länder platzt die Bevölkerung aus allen Nähten. Zu viele junge Leute suchen verzweifelt eine Arbeit, und zu wenige Arbeitsplätze können neu geschaffen werden. Indiens Bevölkerung, jetzt schon über 1,2 Milliarden, wächst jedes Jahr um 18 Millionen. Der Premierminister sagt, Indiens Wirtschaft müsse jedes Jahr 8 bis 10 Millionen neue Arbeitsplätze schaffen, um die jungen Leute ins Arbeitsleben zu integrieren. Eine Zeitlang, als die indische Wirtschaft mit jährlich 8 bis 9 % Wirtschaftswachstum boomte, begrüßten die Wirtschaftsführer das Bevölkerungswachstum als eine garantierte Quelle von billigen Arbeitskräften. Sie nannten es sogar Indiens „demographische Dividende“. Doch trotz dieser „Dividende“ fällt seit einiger Zeit die Wachstumsrate der indischen Wirtschaft. Der unerbittlichen Logik der Grenzen des Wachstums kann schließlich nicht getrotzt werden.

    Aus den oben genannten Gründen setzen hoch entwickelte Industrieländer alles daran, massenhafte Einwanderung billiger überschüssiger Arbeitskräfte aus weniger entwickelten Ländern zu unterbinden. Sogar das riesige, rohstoffreiche Russland, dessen Bevölkerung ebenfalls schrumpft, schottet sich gegen Arbeitskräfte aus Zentralasien ab. Darum gibt es auch für die übervölkerten weniger entwickelten Länder keinen einfachen Ausweg aus ihrer demographischen Krise. Wenn sie nicht zusehen wollen, wie ihre Bürger im Mittelmeer oder im Indischen Ozean vor der australischen Küste ertrinken, müssen sie spätestens jetzt ernsthaft beginnen, an der Schrumpfung ihrer Bevölkerung zu arbeiten.

Der Faktor Umwelt

Nun besteht das Problem nicht einfach darin, Arbeitsplätze für immer mehr junge Leute zu schaffen. Auch die Umwelt muss vor weiterer Schädigung bewahrt werden – nicht nur die globale und regionale Umwelt, für die die reichen 20% der Welt mehr tun müssen als die anderen, sondern auch die Umwelt jeden einzelnen Landes, deren Schutz die Aufgabe von Volk und Regierung des betreffenden Landes ist. Die Wurzeln vieler heutiger politischer Unruhen in der Welt können größtenteils auf die zwei zusammenhängenden Probleme zurückverfolgt werden. Je mehr nämlich die Bevölkerung wächst, desto mehr wird die Umwelt geschädigt, und je mehr die Umwelt geschädigt wird, desto weniger kann sie der Bevölkerung die Grundlage ihres Lebensunterhalts bieten.

    Nehmen wir zum Beispiel Ägypten. 1979 zählte seine Bevölkerung 40 Millionen; 2011, als der Aufstand gegen die Regierung Mubarak stattfand, waren es 85 Millionen. Über die Lage der Umwelt in Ägypten lesen wir: „Bodenverdichtung und steigender Meeresspiegel haben bereits zum Eindringen von Salzwasser in das Nildelta geführt; Überfischung und Überentwicklung bedrohen das Ökosystem des Roten Meeres; unregulierte und unnachhaltige Landwirtschaftspraktiken in ärmeren Gegenden sowie mehr extreme Temperaturen verstärken Bodenerosion und Wüstenbildung. Die Weltbank schätzt, dass Umweltschäden Ägypten jährlich 5% des BIP kosten.“ (Friedman 2013A)

    Nehmen wir ferner als Beispiel den Iran, wo 2009 die Jugend der Mittelschicht gegen das Regime revoltierte. 1979, als dort die islamische Republik gegründet wurde, hatte das Land 37 Millionen Einwohner, gegenwärtig sind es 75 Millionen. Was aber für die Zukunft des Landes noch gefährlicher ist, ist die Verschlechterung der Lage der Umwelt. Der frühere Landwirtschaftsminister des Landes Issa Kalantari sagte kürzlich:

 „Unser bedrohliches Hauptproblem – gefährlicher als Israel, Amerika oder politische Kämpfe – sind die Frage des Lebens im Iran.“…“Es besteht darin, dass die iranische Hochebene unbewohnbar wird. … Die Grundwassermenge hat abgenommen, und eine negative Wasserbilanz ist weitverbreitet. … Ich mache mir große Sorgen um die nächsten Generationen. … Wenn diese schlechte Situation nicht behoben wird, wird der Iran in 30 Jahren zu einer Geisterstätte. … Alle natürlichen Wasservorkommen im Iran trocknen aus, … Wüsten breiten sich aus. … Die Menschen werden fortziehen müssen. Aber wohin? Ich kann ohne weiteres sagen, dass von den 75 Millionen Einwohnern Irans 45 Millionen unsicheren Lebensumständen entgegengehen.“ (Zit. nach Friedman 2013A)

    Auch der gegenwärtige Bürgerkrieg in Syrien wurde zum Teil verursacht durch das Zusammentreffen von Bevölkerungswachstum, der sich verschlechternden Lage der Umwelt und einer schlechten Wirtschaftspolitik. Syriens Bevölkerung wuchs von 8,7 Millionen im Jahre 1980 auf gegenwärtig etwa 23 Millionen. Der Missmut der Bevölkerung begann mit einer Dürre, die bald zur Haupttriebkraft der Erhebung gegen das Regime wurde. Ein amerikanischer Journalist, Thomas Friedman, umschrieb folgendermaßen, was ihm ein syrischer Ökonom erzählt hatte:

„Die Dürre hat Syriens Bürgerkrieg nicht verursacht, sagte der syrische Ökonom Samir Aita, aber, fügte er hinzu, das Versagen der Regierung, der Dürre angemessen zu begegnen, spielte eine enorm große Rolle, den Aufstand anzuheizen. Was geschah, Aita erklärte, war, dass Assad nach seiner Machtübernahme im Jahre 2000 den bis dahin regulierten Agrarsektor in Syrien für Großbauern öffnete, von denen viele Spießgesellen der Regierenden waren. Sie kauften viel Land auf und pumpten soviel Wasser hoch, wie sie wollten, bis schließlich der Grundwasserspiegel stark sank. Das führte zur Vertreibung von Kleinbauern in die Städte, wo sie nach Arbeit herumsuchen mussten.“

Friedman kommentierte„In einer Ära des Klimawandels werden wir wohl viele weitere Konflikte dieser Art erleben.“ (Friedman 2013 B)

Widerstände gegen Geburtenkontrolle

Seit Jahrzehnten gibt es zu viele Widerstände gegen alle politischen und sonstigen Maßnahmen, das Bevölkerungswachstum zu stoppen oder wenigstens unter Kontrolle zu bringen. Sie kommen vor allem von traditionellen Linken (Kommunisten, Sozialisten), den Dritte-Welt-Solidaritätsgruppen, Konservativen, Nationalisten, Feministinnen und tief religiösen Leuten. Oft repräsentiert dieselbe Person zwei oder mehr von diesen Gruppen. Zunächst möchte ich die Argumente und Standpunkte dieser Leute zusammenfassen:

    (1) Einer von ihnen, ein Dokumentarfilmer aus Österreich, der jüngst einen Film gedreht hat, in dem die Idee der Bevölkerungskontrolle rundum verdammt wird, sagte kürzlich: „Wenn man die gesamte Weltbevölkerung auf dem Gebiet Österreichs unterbringen würde, hätte jeder Weltbürger 11 qm zur Verfügung. Der Rest der Erde wäre dann leer“ (Zit. Nach Weitlanger 2013). Vor einigen Jahren hatte ein Vertreter des Vatikan bei einer Konferenz Ähnliches gesagt: Die gesamte damalige Weltbevölkerung könnte problemlos im Bundesstaat Texas der USA, leben.

    (2) Es gibt keinen Grund zur Sorge; erstens, weil sich die Weltbevölkerung bald stabilisieren wird, und zweitens, weil es genug Nahrungsmittel in der Welt gibt. Zudem kann die Lebensmittelproduktion um das Mehrfache des gegenwärtigen Niveaus gesteigert werden.

    (3) Was als Übervölkerungsproblem erscheint, ist in Wahrheit ein Verteilungsproblem. Wenn der Reichtum und die Ressourcen der Welt fair verteilt würden, gäbe es nirgendwo Armut. Es gibt nicht nur genug Nahrung in der Welt, sondern auch genug von den anderen nötigen Ressourcen.

    (4) Die reichen Industrieländer mit nur 20% der Weltbevölkerung verbrauchen 80% der Ressourcen der Welt, von denen also nur 20% für den Rest der Weltbevölkerung bleiben, also für die 80%. Die besagten 20% der Weltbevölkerung verursachen auch 80% der weltweiten Verschmutzung und ökologischen Schädigung.

    (5) Die Diskussion über die Übervölkerung ist nur ein Horrorszenario, ein Manöver der herrschenden Klassen der Welt, um die Aufmerksamkeit der Menschen abzulenken von den wahren Ursachen der Armut, der Ressourcenkrise, der globalen Erwärmung, der Umweltverschmutzung usw. Betsy Hartman, eine prominente Kritikerin des Übervölkerungsdiskurses, soll gesagt haben, nicht von ungefähr werde das Thema der sieben Milliarden Weltbevölkerung ausgerechnet jetzt diskutiert, wo die Menschen endlich politisch aktiv würden und ihre Aufmerksamkeit auf die ungerechte Verteilung und das Chaos auf dem Finanzmarkt richteten (Vergl. Weitlanger 2013). (Diese Behauptung ist aber insofern falsch, als Rufe nach Bevölkerungskontrolle mindestens 40 Jahre alt sind.)

Der Irrtum von der Einen Welt

Auf den ersten Blick erscheinen solche Argumente überzeugend, aber einer genaueren Betrachtung halten sie nicht stand. Sie leiden an dem, was man den Irrtum von der Einen Welt nennen könnte. Ein Ideal wird hier für die Wirklichkeit gehalten. In dem berühmten Brundtland-Bericht von 1987 hieß es: „Die Erde ist eine Einheit, aber die Welt ist es nicht. Wir alle sind für die Erhaltung unseres Lebens abhängig von einer gemeinsamen Biosphäre. Dennoch verfolgt jede Gemeinde, jedes Land Überleben und Wohlstand ohne Rücksicht auf andere. (WCED 1987:27; Hauff 1987: 31). Im Idealfall sollten wir uns vor allem als Menschen ansehen und nicht als Inder, Briten, Chinesen, Ugander, Russen usw. Und idealerweise sollte das Interesse (das Wohlergehen und die Zukunft) der ganzen Menschheit eines der Hauptanliegen jedes Menschen sein. Das sollte zwar unsere Zukunftsvision bleiben. Derzeit jedoch, in der realen Welt, in der wir leben und in der wir handeln müssen, sind wir so weit entfernt von dem Ideal, dass bloße Stammessolidarität als etwas Großartiges gilt.

    Vor diesem realen Hintergrund, zu einer Zeit, in der die österreichische Regierung nicht einmal 7.000 Wirtschaftsflüchtlingen aus problemgeschüttelten Ländern Asyl gewähren wird, ist es völliger Unsinn, uns glauben machen zu wollen, dass es noch viele dünn bevölkerte Gegenden auf der Erde gibt, in denen man größere Zahlen von Menschen aus den dicht besiedelten Ländern ansiedeln könnte (siehe Zitat weiter oben). Kein Staat der Welt würde diesen Vorschlag annehmen, nicht einmal der kontinentale Staat Australien mit seinen lediglich 25 Millionen Einwohnern. Es gibt keine leeren Landflächen mehr wie in früheren Jahrhunderten. Überall werden immer mehr Barrieren errichtet, um die Masseneinwanderung der Armen dieser Welt zu verhindern.

    Was nutzt die Aussage, dass es genug Nahrung in der Welt gebe, die, gleichmäßig verteilt, für die Ernährung der gesamten Weltbevölkerung ausreichen würde? Bauern in Ländern mit Agrarüberschüssen würden ihre Erzeugnisse gern an jeden verkaufen, der das bezahlen kann, aber sie werden nichts verschenken, was sie mit harter Arbeit und erheblichen Investitionen erwirtschaftet haben. Wo will die wachsende Zahl von armen Leuten in den weniger entwickelten Ländern das Geld hernehmen, Lebensmittelimporte zu bezahlen? Übrigens mag es heute genug Nahrungsmittel für alle geben, aber wie wird es zukünftig aussehen – mit einer viel größeren Weltbevölkerung und klimabedingten Missernten?

    Was die für die Weltwirtschaft benötigten Ressourcen angeht, scheinen die Gegner der Bevölkerungskontrolle nicht zu wissen, dass die meisten nur begrenzt zur Verfügung stehen, nicht erneuerbar sind und rapide erschöpft werden, während die Weltbevölkerung ständig wächst. Was erneuerbare Ressourcen angeht – Süßwasser, Holz und andere organische Rohstoffe – so ist auch deren Verfügbarkeit durch ihre Erneuerbarkeitsrate begrenzt. Obwohl die Landfläche fast gleichbleibt (das kann sich in naher Zukunft durch den steigenden Meeresspiegel ändern), verschwindet fruchtbares Land unter Beton- und Asphaltdchungel oder wird unfruchtbar durch Bodenerosion, Versalzung usw. Die Gegner der Bevölkerungskontrolle scheinen noch nie etwas von den Grenzen des Wachstums und dem Problem der Nachhaltigkeit gehört zu haben. Überdies sind zum Leben unbedingt notwendige Ressourcen wie fruchtbarer Boden, Wasser und fossile Brennstoffe ungleichmäßig über den Globus verteilt. Ackerland kann gar nicht importiert werden, Wasser nur begrenzt.

    All das bedeutet, dass die Völker der Welt ihre Probleme selbst lösen müssen, zur Zeit jedenfalls.

Der Glaube an technologische Lösungen

Gegner der Bevölkerungskontrolle hoffen, dass die Nahrungsmittelproduktion um ein Mehrfaches der heutigen Menge gesteigert werden kann. Es ist hinreichend bekannt, dass die Grüne Revolution in der Landwirtschaft in den 1960er und 1970er Jahren sowie danach die Lücke zwischen dem Nahrungsmittelbedarf der Weltbevölkerung und der globalen Produktion schließen konnte. Es ist jedoch auch bekannt, dass der Preis für diese technologische Lösung – hinsichtlich des Ressourcenverbrauchs und der Umweltschäden (z.B. abnehmende Artenvielfalt, Bodenschäden, und Gesundheitsschäden durch Pestizide) – sehr hoch war. Mit zunehmender Bevölkerungszahl wird dieser Preis weiter steigen. Wie Nafis Sadik vom United Nations Population Fund (UNFPA) 1990 schrieb, „ist die Bevölkerungszahl immer Teil der Gleichung. Für jede gegebene Art Technologie, für jedes gegebene Niveau von Verbrauch oder Verschwendung, für jedes gegebene Niveau von Armut oder Ungleichheit gilt: je mehr Menschen da sind, desto größer ist die Auswirkung auf die Umwelt.“ (Sadik 1990: 10). Müssen wir wirklich erst ein Problem schaffen oder ein bestehendes verschlimmern, indem wir unsere Anzahl erhöhen, und dann nach einer technologischen Lösung suchen, diesmal vielleicht durch die Erzeugung genetisch manipulierter Nahrungsmittel mit potentiell gefährlicher Auswirkung auf die Natur und unsere Gesundheit?

    Es gibt ein paar ältere Studien, in denen behauptet wurde, es könne genügend Nahrungsmittel für eine wachsende Weltbevölkerung erzeugt werden, ohne auf neue, hohe Biotechnologie zurückzugreifen. 1982 wurde in einer Studie der Food and Agriculture Organisation (FAO) und der UNFPA behauptet, in den weniger entwickelten Ländern (ohne China) gebe es genug Land, um 33 Milliarden Menschen ernähren zu können – allerdings nur, wenn jeder Quadratmeter kultivierbaren Landes und große Mengen Kunstdünger sowie weitere Chemikalien benutzt würden, für die Produktion einer gerade ausreichenden Menge vegetarischer Nahrung (Vergl. Sadik 1990: 7). Es gab aber auch ein Modell für die Erzeugung ausreichender Nahrung für 15 Milliarden Menschen mit einem mäßigen Einsatz von Kunstdünger und anderen Chemikalien. Es wurde behauptet, dieses Modell erlaube einen ökologisch umsichtigen Umgang mit der Natur (vergl. Simon 1991: 30) In jener Zeit nahm man allgemein an, dass sich die Weltbevölkerung zwischen 2050 und2100 bei 11 bis 14 Milliarden stabilisieren würde.

    Beide dieser Modelle müssen verworfen werden. Wenn die Menschen in den weniger entwickelten Ländern (ohne China) genug Nahrung für ihren Teil der für 2050 vorausgesagten 9 Milliarden Menschen erzeugen wollen, und das mit nur mäßigem Einsatz von Kunstdünger und anderen Chemikalien, damit sie die Umwelt nicht zu sehr schädigen, dann muss die Landwirtschaft sehr extensiv werden. Dann würden sie mehr Ackerland benötigen, während sie gleichzeitig infolge zunehmender Urbanisierung und Industrialisierung rapide kultivierbares Land verlieren. Dies ist nicht nur ein Szenario für die Zukunft; der zweite Teil dieser Entwicklung beobachtet man schon jetzt. Dieses Ungleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage bei Ackerland hat schon die Aufmerksamkeit von internationalen Investoren erweckt. Seit fünf oder mehr Jahren jagen sie nach fruchtbarem Land in weniger entwickelten Ländern, besonders in Afrika und Südamerika. Auch Investoren aus China und ölreichen arabischen Staaten beteiligen sich an diesem Ansturm. Nach Medienberichten hat kürzlich eine staatseigene chinesische Gesellschaft 100.000 ha Ackerland in der Ukraine gepachtet, wo sie Weizen für die chinesische Bevölkerung anbauen will (Süddeutsche Zeitung, 23.09.2013).

    Außerdem würde die Verwirklichung dieser Modelle bedeuten, dass ein großer Teil der noch verbliebenen Wälder (einschließlich der kostbaren Regenwälder) verlorenginge. Selbstverständlich könnte der Ressourcenbedarf der Luxusindustrien radikal ignoriert werden. Doch selbst die Befriedigung der Grundbedürfnisse von 9 Milliarden Menschen würde eine Menge Holz als Baumaterial und als Energiequelle erfordern. Denn Erdöl und Erdgas (mithin viele andere Mineralstoffe) würden mittelfristig äußerst knapp und sehr teuer werden (Kohle ist schlecht fürs Klima). Das würde unvermeidlich zu andauernder Abholzung immer weiterer Wälder führen. Abgesehen davon, dass wir Menschen selbst einen gewissen Anteil der Landfläche mit Wald bedeckt haben müssten und möchten, sind Wälder (wie auch Sümpfe und andere Biotoparten) der Lebensraum von vielen Tier- und Pflanzenarten, die wir, nebenbei bemerkt, auch für unser seelisches, spirituelles und geistiges Wohlbefinden brauchen. Hat der Mensch das Recht, sich noch mehr Lebensraum anzueignen auf Kosten der anderen Arten der Natur?

    Falls wir uns für intensivere Landwirtschaft entscheiden, sollten wir uns vergegenwärtigen, dass es auch Grenzen der Produktionssteigerung durch immer mehr Chemikalieneinsatz gibt. Schon 1984 schrieb Lester Brown vom Worldwatch Institute, dass Feldfrüchte immer weniger auf zusätzlichen Kunstdüngereinsatz ansprachen, besonders in der Landwirtschaft hoch entwickelter Länder. Während der 1950er Jahre erbrachte die Anwendung einer zusätzlichen Tonne Kunstdünger im Durchschnitt weitere 11,5 Tonnen Getreide. Während der 1960er fiel diese Zahl auf 8,3 Tonnen, in den 1970ern war sie nur noch 5,8 Tonnen (Brown 1984: 179). Und um 1980 stellten Wissenschaftler fest, dass Gewinn pro Einheit Technologieeinsatz im Allgemeinen fiel (vergl. Trainer 1985: 211)

    Heute würde gewiss jeder vernünftige Mensch zustimmen, dass es leichter ist, Geburtenraten zu verringern als Wachstumsraten von Nahrungsmittel- und Industrieproduktion zu steigern.

Die Politik der Übervölkerung

Die übrigen der weiter oben angeführten Argumente der Gegner von Bevölkerungskontrolle sind stets in emotional aufgeladenem Stil vorgetragen worden, fallen aber in die Kategorie billige Politik. So beklagte vor etlichen Jahren eine feministische Aktivistin aus Bangladesch, westliche Politiker, NRO-Aktivistinnen und Institutionen wie die Weltbank, die Bevölkerungskontrollmaßnahmen in diesem Land befürworteten und unterstützten, würden versuchen, Bangladesch zu entvölkern. Zwei ähnlich scharfe Ausdrücke, die von anderen benutzt worden sind, sind „Völkermord“ und „Entsorgung der Armen“.

    Nehmen wir an, dass die derzeitig ungleiche und ungerechte Verteilung von Nahrungsmitteln und anderen Ressourcen der Erde durch eine Art Weltrevolution überwunden werden könnte, die den Kapitalismus und das Patriarchat abschaffte und eine gleiche Verteilung der genannten Ressourcen realisierte. Natürlich wäre das an sich eine großartige Sache, denn dann wären nicht nur alle zurzeit lebenden Menschen frei von Ausbeutung und Unterdrückung, sondern sie würden auch ein gewisses Maß von Wohlstand genießen. Doch das würde der Menschheit nicht helfen, die Probleme der Schrumpfung ihrer Ressourcenbasis, der zunehmenden Umweltdegradation und der Erderwärmung mit ihren verheerenden Folgen zu lösen. Nur würde die Schuld an diesen Geißeln der Menschheit von nun an gleichmäßig verteilt sein. Also würde die dringende Notwendigkeit, unsere Bevölkerungszahlen und unseren Ressourcenverbrauch zu senken, auch nach einer solchen Revolution bestehen bleiben. Gott sei Dank ist es mittlerweile auch vielen wohlhabenden Mitgliedern der gegenwärtig lebenden Generationen klar geworden, dass sie ihren Wohlstand auf Kosten der Natur und der zukünftigen Generationen genießen. Und ihnen sind mehr Gründe für unsere derzeitigen Nöte bewusst als nur der Kapitalismus und der Imperialismus.

    Für die Gegner der Bevölkerungskontrolle ist es unnötig, etwas gegen das Bevölkerungswachstum zu unternehmen, denn sie sind sich sicher, dass sich die Weltbevölkerung um 2050 bei 9 Milliarden stabilisieren wird. Dieser Glaube beruht auf der Theorie des demographischen Übergangs. Sie fußt auf Beobachtungen in westeuropäischen Ländern und besagt: Nachdem ein Land ein gewisses Wohlstandsniveau erreicht hat, fallen sowohl die Geburten- als auch die Sterberaten und erreichen schließlich die gleiche Höhe, so dass sich die Bevölkerung stabilisiert.

    Nun wächst tatsächlich in vielen wohlhabenden westlichen Ländern die Bevölkerung nicht mehr. Und in vielen weniger entwickelten Ländern sinken die Wachstumsraten. In Indien begrenzen nach meiner Beobachtung Mitglieder der gebildeten Mittelschicht die Zahl ihrer Kinder im Schnitt auf zwei. Aber die gebildete Mittelschicht Indiens zählt nur zwei- bis dreihundert Millionen. Der Rest von Indiens 1,2 Milliarden Menschen folgt diesem Beispiel nicht.

    In Westdeutschland fand der demographische Übergang schon 1972 statt. Es besteht aber keine Aussicht mehr, dass die große Zahl der armen Länder insgesamt jemals das Wohlstandsniveau erreichen würden, das Westdeutschland 1972 erreichte. Für die meisten von ihnen ist der Entwicklungstraum vorbei. Und selbst wenn Wohlstand irgendwie kommt – z.B. durch die Entdeckung großer Ölfelder – ist das keine Garantie, dass der demographische Übergang einsetzt. In Saudi-Arabien – mindestens seit Mitte der 1970er ein sehr reiches Land – hat der demographische Übergang noch nicht begonnen. Seine Bevölkerung ist von 9,8 Millionen im Jahre 1980 auf 29,2 Millionen im Jahre 2012 angewachsen. Die derzeitige Wachstumsrate wird auf 1,5% geschätzt (Angaben in Wikipedia). Deshalb sollten wir diesen friedlichen automatischen Weg zu einer stabilen Weltbevölkerung auf einem niedrigeren Niveau vergessen.

    In der Tat wird sich die Weltbevölkerung an irgendeinem Punkt stabilisieren, weil sie einfach nicht endlos wachsen kann. Einige Fachleute meinen sogar, sie werde schon im Jahr 2040 beginnen, sich zu verringern. (vgl. Weitlanger 2013) Was geschehen wird, was schon geschieht, ist, dass immer mehr Menschen sterben würden, bevor sie alt werden. Mangelernährung, schlechte Hygieneverhältnisse, diverse Krankheiten einschließlich der durch Umweltverschmutzung verursa-chten, das Fehlen ausreichender medizinischer Versorgung, Kriege und Bürgerkriege, Terror-istenangriffe, scheiternde und gescheiterte Staaten – all dies fordert bereits unzählige Opfer. In Syrien haben schon nach zweieinhalb Jahren Bürgerkrieg mehr als ein hunderttausend Menschen vorzeitig das Leben verloren.

Objektive Hindernisse – Was kann getan werden?

Abgesehen von irrationaler, rein politisch motivierter Opposition gibt es auch einige objektive, durch die reale Welt bedingte Hindernisse für Bevölkerungskontrolle – ökonomische, kulturelle und religiöse. In weniger entwickelten Ländern wie Indien, wo es für die Armen keine institutionalisierte Altersabsicherung gibt, haben Söhne traditionell die Pflicht, die betagten Eltern zu versorgen. Um sicherzustellen, dass mindestens zwei der lebenden Kinder Söhne sind, muss ein armes Paar im Schnitt 5 Kinder zeugen. Dies ist äußerst rationales wirtschaftliches Verhalten. Außerdem sind Kinder für viele Bauern billige Arbeitskräfte, die nur für Kost und Logis „wie Esel“ arbeiten. In den frühen 1970er Jahren machte Mahmood Mamdani eine Studie über das indische Dorf Manupur, wo zuvor ein intensives Familienplanungsprogramm völlig fehlgeschlagen war. Mamdani schrieb:

„Kein Programm hätte Erfolg gehabt, weil Geburtenkontrolle den Kerninteressen der Mehrzahl der Dorfbewohner widersprach. Geburtenkontrolle zu praktizieren hätte bedeutet, mutwillig ein wirtschaftliches Desaster heraufzubeschwören. (Mamdani 1972 : 21)

    Objektive Hindernisse sind auch kulturelle Tradition und religiöser Glaube, sowie oft Wettstreit zwischen religiösen Gruppen, durch größere Zahlen stärker zu werden. Sie wären jedoch an sich nicht unüberwindbar. Die meisten Menschen passen sich ja modernen Zeiten an. Diese fordern allerdings auch, dass jeder seine eigenen materiellen Interessen wahrnimmt und sonst nichts. Der Widerspruch zwischen den unmittelbaren wirtschaftlichen Interessen der Armen und den Interessen der Nation sowie kommender Generationen ist eine harte Realität und deshalb schwerer zu überwinden.

    Trotzdem muss bald etwas getan werden, um das Bevölkerungswachstum zu beschränken. Wir können nicht warten, bis eine sozialistische Revolution stattgefunden hat und die Macht in die Hände von Revolutionären übergegangen ist, die den Kapitalismus und das Patriarchat abschaffen. Wenn heute nichts geschieht, wird sich die Situation weiter verschlimmern, und schließlich werden in einem Land nach dem anderen reaktionäre Kräfte ihre Art von „Revolution“ machen – vielleicht sogar durch Wahlsiege, wie kürzlich in Ägypten und Tunesien geschehen – und dann ihre Republik errichten. Auch sie werden es nicht schaffen, Ordnung in eine brisante Situation zu bringen. Dann wird eine Gesellschaft nach der anderen zusammenbrechen und in einer Herrschaft von Chaos und Terror enden. Die Macht wird dann von örtlichen und regionalen Kriegsfürsten ausgeübt werden, und die werden gegeneinander Krieg führen, um ihr Herrschaftsgebiet auszudehnen.

    Das ist nicht einfach Pessimismus in Bezug auf die Zukunft. Solche Dinge geschehen schon heute, unmittelbar vor unseren Augen. Man denke nur an Somalia, Afghanistan, Irak, Syrien, Libyen, Pakistan und Ägypten. Tunesien hängt prekär an einem dünnen Faden. Sogar in Europa gewinnen reaktionäre Kräfte an Boden – in Griechenland und Ungarn, und, in einem geringeren Maß, sogar in Frankreich und Großbritannien. In der zweiten Gruppe dieser Länder ist die sich verschlechternde Wirtschaftslage der Grund für die besorgniserregende Situation. In der erstgenannten Ländergruppe aber ist das schnelle Bevölkerungswachstum der vergangenen Jahrzehnte der wichtigste Faktor bei der Entstehung der jetzigen Situation gewesen.

An dieser Stelle möchte ich drei Aussagen von Paul Ehrlich zitieren, der in den 1960ern und 1970ern an vorderster Front einer öffentlichen Kampagne zur Bevölkerungskontrolle stand. An Sozialisten gewendet schrieb er:

„Langfristig könnte die fortwährende Degradation unserer Umwelt mehr Tod und Elend bringen als jedes denkbare Auseinanderklaffen von Nahrung und Bevölkerung.“

    „Die Schlacht zur Rettung unseres Planeten ist nicht nur eine Schlacht für Bevölkerungskontrolle und ökologische Vernunft, sondern auch gegen Ausbeutung, Krieg und Rassismus.“

    [Aber] „was auch immer Ihre Sache sei, kämpfen Sie auf verlorenem Posten, wenn wir die Bevölkerung nicht kontrollieren.“ (alle zit. nach Weißmann 1971: XI & XV).

    Ich stimme voll und ganz zu. Das Eintreten für Bevölkerungskontrolle darf nicht den imperialistischen Kräften des Westens überlassen werden. Das heißt, alle Typen von Sozialisten müssen ihre veralteten Programme revidieren. Zusätzlich zu ihren andauernden und langfristigen Bemühungen, eine Gesellschaft ohne Ausbeutung, Unterdrückung, Krieg und Rassismus zu schaffen, müssen sie kurz- und mittelfristig Politiken und Programmen Vorrang geben, die dem Bevölkerungswachstums, der Umweltschädigung und, allgemein gesprochen, der nicht nachhaltigen Nutzung des Planeten Einhalt gebieten. Auch solche Politiken, und nicht nur Wirtschaftswachstum, können die materielle Lage der Armen und der Arbeiterklasse verbessern.

    In weniger entwickelten Ländern, wie z.B. Indien, kann eine vom Volk gewählte Regierung im Rahmen einer kurz- und mittelfristigen Politik sozialdemokratischer Art den Armen, nur den Armen, eine garantierte soziale und Altersabsicherung anbieten, die vom Staat finanziert wird. Als Gegenleistung müssen die Begünstigten die Zahl ihrer Kinder auf zwei begrenzen. Der Staat kann alle Maßnahmen zur wirksamen Geburtenkontrolle voll finanzieren, so dass sich der angesprochene Teil der Bevölkerung keine Sorgen um die Kosten machen müsste. Er kann eine entschiedene Politik für die Emanzipation der Frauen und ihre Stärkung durch Bildung betreiben. Er kann wirksam Kinderehen verbieten, indem er das Mindestheiratsalter auf, sagen wir, 21 Jahre anhebt.

    Eine solche Wohlfahrtspolitik wäre natürlich noch keine sozialistische Politik. Aber, in den Problemländern durchgeführt, würde sie deren Gesellschaften vor völligem Ruin bewahren. Außerdem würde sie den Weg zu einer zukünftigen ökologisch-sozialistischen Gesellschaft ebnen.

 

Literatur

Brown, Lester (1984) „Securing Food Supplies“; in Brown et al. (1984).

Brown, Lester et al. (1984) State of the World. New York: W. W. Norton.

Daley, Susanne & Nicholas Kulish (2013) “Germany: Too Few People?” In The New York Times, 13.08.2013.

Friedman, Thomas (2013A) “Mother Nature and the Middle Class”, in The New York Times, 21.09.2013.

Friedman, Thomas (2013B) “Without Water, Revolution”, in The New York Times, 18.05.2013.

Hauff, Volker (Hrsg.) (1987) Unsere gemeinsame Zukunft (der Brundtland-Bericht1987):. Greven: Eggenkamp.

Mamdani, Mahmood (1972) The Myth of Population Control. New York: Monthly Review Press.

Meadows, Donella, Jorgen Randers & Dennis Meadows (1972) The Limits to Growth. New York: Signet.

Meek, Ronald L. (ed.) (1971) Marx and Engels on The Population Bomb. Berkeley: The Ramparts Press.

Trainer, F. E. (1985) Abandon Affluence!. London: Zed Books.

Sadik, Nafis (UNFPA) (1990) The State of World Population 1990k. New York: UNFPA.

Simon, Gabriela (1991) “Wie viel ist zu viel?”; in blätter des iz3W (November).

Weitlanger, Wolfgang (2013) „Population Boom: Film Widerlegt Überbevölkerung“. Im Internet: http://www.pressetext.com/news/20130917002

World Commission on Environment and Development (WCED) (1987) Our Common Future (besser bekannt als “Brundtland Report”). Oxford: Oxford University Press.

Weißmann, Steve (1971): “Forward”; in Meek (1971).

Wikipedia.

 

Geschrieben im September 2013.
Übersetzt aus dem englischen Original von Dr. Jürgen Zenke, Köln.
Redigiert von Ludwig Hörner.

 

Saral Sarkar
Karl-Begas-Str. 3
50939 – Köln
Deutschland.
saralsarkar@t-online.de

 

Freitag, 18. Oktober 2013

Lampedusa Weiterdenken


Was am 3.Oktober 2013 vor der Küste von Lampedusa geschehen ist, hat das Mitgefühlsvermögen und Gewissen der Europäer aufgerüttelt. Sie stehen zwar in puncto Handeln völlig ratlos da. Aber Mitgefühl ist auf jeden Fall gut.

    Was sollen die Europäer tun, um Wiederholungen von Tragödien dieser Art vor ihrer Haustür zu verhindern? Kann da überhaupt etwas getan werden? Mit dem, was ich zu dieser Frage in den Medien und Freundeskreisen bisher gelesen, gesehen und gehört habe, bin ich sehr unzufrieden. Mitleid und Rettungsaktionen bezeugen, dass wir noch nicht ganz kaltherzig geworden sind. Aber Problemlösung ist eine ganz andere Sache. Dazu gehört als erster Schritt eine tiefschürfende Ursachenanalyse, und als zweiter Schritt der Wille, das Problem zu lösen.

     Zur Ursachenanalyse gehört die Erkenntnis, dass es sich hier um ein globales Problem handelt. In Zusammenhang mit den letzten paar Bootsunglücken im Mittelmeer hörte man von Flüchtlingen aus Somalia, Eritrea, Syrien und, im allgemeinen, von Nordafrika. Aber Flüchtlinge kommen aus allen Herren Ländern, sogar aus den aufstrebenden Schwellenländern China und Indien. Und ihr Ziel ist nicht nur Europa, sondern auch die USA und Australien. Im Falle von Flüchtlingen aus Syrien und Somalia, teilweise auch denen aus dem Irak, ist die Ursache ganz klar die dortigen Bürgerkriege. Aber global gesehen, sind die meisten von ihnen nicht Kriegsflüchtlinge. Sie sind auch keine Armutsflüchtlinge, die an Hunger leiden. Die wirklich Armen und ihre Familien haben kein Geld, den Preis zu bezahlen, die die Schlepper fordern. Es sind eigentlich Wirtschaftsflüchtlinge, junge Leute, die in den hoch entwickelten reichen Ländern ihr Glück probieren wollen. Sie gehen dabei hohe Risiken ein, sie können bei dem Versuch sterben. Aber so ist halt die Jugend. Ihr trostloses Leben in der Heimat können sie nicht ertragen.

    Um dieses globale Problem zu verstehen, müssen wir die ganze heutige Weltlage etwas gründlicher verstehen. Selbst im scheinbar eindeutigen Falle der syrischen Flüchtlinge, genügt die unmittelbare Ursache, nämlich Bürgerkrieg, nicht. Wir müssen auch die Ursache des Bürgerkriegs verstehen. Er wurde durch eine Mischung von zunehmender Bevölkerungszahl, sich verschlechternder Lage der Umwelt und einer schlechten Wirtschaftspolitik verursacht. Syriens Bevölkerung wuchs von 8,7 Millionen im Jahre 1980 auf heute knapp 23 Millionen. Der Missmut der Bevölkerung begann mit einer Dürre, die bald zur Haupttriebkraft des Aufstands gegen das Regime wurde. Der US-amerikanische Journalist Thomas Friedman paraphrasierte neulich in The New York Times (18.05.2013) die Aussagen des syrischen Ökonomen Samir Aita mit den folgenden Worten: „Die Dürre verursachte den … Bürgerkrieg nicht, … aber das Scheitern der Regierung bei der Suche nach einer Antwort auf die Herausforderung spielte eine enorm große Rolle dabei, den Aufstand anzuheizen. Was geschah, war, dass Assad nach seiner Machtübernahme im Jahre 2000 den großen Farmern den bis dahin regulierten Landwirtschaftssektor öffnete. Sie kauften viel Land auf und bohrten so viele Brunnen wie sie wollten – mit dem Ergebnis, dass der Grundwasserspiegel stark fiel. Das führte zur Vertreibung von Kleinbauern weg von ihrem Land in die Städte, wo sie nach Arbeit herumsuchen mussten.“ Friedman kommentierte: „Im Zeitalter des Klimawandels werden wir wohl noch mehr solche Konflikte erleben.“

    Die Wurzeln vieler solcher Aufruhre der Gegenwart liegen bei diesen zwei miteinander verflochtenen Problemen. Je mehr die Bevölkerung wächst, desto mehr degradiert sie die Umwelt. Und je mehr die Umwelt degradiert wird, desto weniger kann sie der Bevölkerung bei der Erwirtschaftung ihres Lebensunterhalts helfen. Nehmen wir noch zwei Beispiele:

    1979 lebten in Ägypten 40 Millionen Menschen, 2011 – das Jahr, in dem die Revolte gegen Mubarak stattfand – lebten dort 85 Millionen. Über die Lage der Umwelt lesen wir: „Bodenkompaktheit und steigender Meeresspiegel haben schon dazu geführt, dass Salzwasser ins Nildelta eingedrungen ist. Überfischung und Überentwicklung bedrohen das Ökosystem des Roten Meeres. Und unregulierte und unnachhaltige Landwirtschaftspraktiken in den ärmeren Gegenden plus extremere Temperaturen tragen zur Bodenerosion und Wüstenbildung bei. Die Weltbank schätzt, dass Umweltdegradation Ägypten jährlich 5 Prozent des Bruttoinlandprodukts kostet“ (Artikel von Friedman in NYT, 21.09.2013.)  

    Nehmen wir als Beispiel auch den Iran, wo 2009 die Jugend der Mittelschicht gegen das Regime revoltierte. 1979 betrug die Bevölkerung des Landes 37 Millionen. Zurzeit leben da 75 Millionen Menschen. Was aber für die Zukunft des Landes noch gefährlicher ist, ist die Verschlechterung der Lage der Umwelt. Irans ehemaliger Landwirtschaftsminister, Issa Kalantari, sagte neulich: „Das Hauptproblem, das uns bedroht, das gefährlicher ist als Israel, Amerika oder politische Kämpfe, ist die Frage des Lebens im Iran. … Das Problem ist, dass die iranische Hochebene unbewohnbar wird. … Die Grundwassermenge hat abgenommen, und eine negative Wasserbilanz ist weitverbreitet. … Ich mache mir große Sorgen um die künftigen Generationen. … Wenn diese schlechte Situation nicht behoben wird, wird der Iran in 30 Jahren zu einer Geisterstadt. … Alle natürlichen Wasservorräte im Iran trocknen aus, … Wüsten breiten sich aus. … Die Menschen müssen auswandern. Aber wohin? Ich kann leicht sagen, dass von den 75 Millionen Menschen im Iran 45 Millionen in ungewissen Zuständen leben müssen“ (zitiert nach Friedman in NYT, 21.09.2013)

    Kalantari stellte die rhetorische Frage, wohin die iranischen Umweltflüchtlinge in Zukunft auswandern könnten. Die Wirtschaftsflüchtlinge von heute wissen es schon: nach Europa, Amerika und Australien. Ihre Versuche scheitern zumeist, sie enden oft tragisch, wie neulich vor Lampedusa. Eine andere Folge dieser Versuche ist der Aufstieg von rassistischen, rechtsradikalen und fremdenfeindlichen politischen Kräften in den reichen Ländern, wo schwarze, braune und gelbe Flüchtlinge total unwillkommen sind, wo sie regelmäßig Opfer von faschistischen Pogromen werden.

    Kann denn überhaupt etwas getan werden, um das Problem zu lösen? Was es ganz sicher nicht lösen würde, ist die Öffnung aller Ländergrenzen, die einige Gutmenschen, darunter viele Radikallinke, seit etlichen Jahren fordern. Anders als in den 1950er und 1960er Jahren, wenn die westeuropäischen und nordamerikanischen Wirtschaften boomten, gibt es heute keinen Job für die hunderttausende ungelernte Wirtschaftsflüchtlinge, die bei totaler Grenzöffnung in diese Länder strömen würden. Die Wirtschaften der reichen Länder stagnieren seit langem, und sie werden auch in Zukunft weiter stagnieren, wenn nicht gar schrumpfen. Zudem sind die meisten arbeitsintensiven Industriebranchen der Vergangenheit entweder radikal nach Billiglohnländern ausgelagert oder radikal automatisiert worden, was auch hohe Arbeitslosigkeit in den reichen Ländern zur Folge hat. Niemand wird von einer solchen Politik profitieren als die rassistischen und rechtsradikalen politischen Kräften. Und ganz sicher wird keine Regierung der reichen Länder so eine Flüchtlingspolitik verfolgen, nicht zuletzt aus Angst vor rechtsradikalen und ausländerfeindlichen Mobs.

    Die Länder, von denen die Wirtschaftsflüchtlinge kommen, werden also ihr Überbevölkerungsproblem nicht durch die Förderung von Emigration der überschüssigen arbeitslosen Menschen lösen können. Sie müssen ihre Probleme selbst und zu Hause lösen. An guten Ideen dazu mangelt es nicht. Die wichtigste davon ist die schnelle Senkung der Geburtenrate. Die medizintechnischen Möglichkeiten sind ja schon da. Die reichen Länder können ihnen dabei etwas helfen. Mehr aber nicht.

Donnerstag, 19. September 2013

Amerika wieder Entdecken

Neulich erntete ein vom Greenhouse Infopool verteilter Artikel [http://tinyurl.com/nk2lsrv] von Jan Willmroth einige lustige, aber auch misslaunige Bemerkungen. Der Artikel ist ein Bericht über eine Studie, der in „Down Under“ entstand, „wo die Menschen mit dem Kopf nach unten stehen“, also in Australien, wo alles in der Weltsprache Englisch geschrieben wird und nicht in der Provinzsprache Deutsch.
Der Artikel trägt den Titel „Verrechnet: Industrieländer schaden der Umwelt viel mehr als gedacht“. Da lesen wir, dass Tommy Wiedmann, ein australischer Ökonom und Nachhaltigkeitsforscher, und seine Kollegen „ein drastisches Urteil über die Folgen des Wirtschaftswachstums in entwickelten Ländern“ gefällt haben; sie hätten mit großem Forschungssaufwand nachgewiesen, dass die Welt viel mehr Ressourcen verbrauche, als Regierungen und Organisationen wie die UN vorrechneten. Daraus müsse man schlussfolgern, dass die in entwickelten Industrieländern gerne behauptete „relative Entkopplung“ von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch in Wirklichkeit nicht stattfinde. Wiedmann und Kollegen führen dieses Verrechnen darauf zurück, dass die Menge an Rohstoffen, die für Förderung und Transport benötigt werden, nicht in die Arbeit der Entdecker der Entkopplung einfließen. Wenn man diese mit berechne, dann komme man auf die richtige Größe, die sie den „materiellen Fußabdruck“ nennen. Der Begriff ähnelt dem des CO2-Fußabdrucks.
All diese Erkenntnisse sind nichts Neues. Nach der Lektüre des Artikels schrieb Roland Schnell: „Schon seltsam. Wenn ein Forscher aus Down-Under so etwas publiziert, dann springen die Medien an. Dabei ist diese Banalität schon seit den 1980er Jahren in Deutschland bekannt.“ Ich möchte hinzufügen, dass sie sogar in Down-Under, in dem gesamten englischsprachigen Raum, bekannt sein müsste. Zum Beispiel schrieben schon die Autoren des berühmten Brundtland-Berichts (1987), dessen Original in Englisch erschien: „Doch auch die industriell am fortgeschrittensten Wirtschaften brauchen nach wie vor eine kontinuierliche Versorgung mit Grundfertigwaren. Ob diese im Inland hergestellt oder importiert werden, ihre Produktion wird weiterhin große Mengen Rohstoffe und Energie erfordern.“ Schnell schreibt resigniert: „Aber da der Prophet im eigenen Land nichts gilt, bleibt nichts anderes übrig, als die Arbeit von Wiedmann als Erkenntnis aus dem englischen Sprachraum zu verbreiten.“
Auch der Begriff „materieller Fußabdruck“ ist nichts Neues. In der Provinzsprache Deutsch ist er längst bekannt als „Materialintensität pro Dienstleistungseinheit“, Abkürzung MIPS (Material Intensity Per Service-Unit). Der Erfinder dieses Begriffs ist Prof. Friedrich Schmidt-Bleek, ehemaliger stellvertretender Direktor des Wuppertal-Instituts. Er meldete sich auch zum Wort. Er schrieb: „Das ist ja ein Ding! Wer immer diese Zeilen über Down Under und die Neuigkeiten von dort geschrieben hat [er meinte Roland Schnell], kennt offenbar die Arbeiten in Deutschland und anderen Ländern in Europa sowie in Japan nicht so sehr, und dem Mann mit dem Kopf nach unten sind sie wohl auch nicht bekannt.“
Was die Menge an Rohstoffen inklusive der Energiestoffe betrifft, die für Förderung und Transport von Rohstoffen benötigt werden, muss man sagen, dass sie alle im Begriff MIPS inbegriffen sind. In seinem Aufsatz Die Ressourcen der Ökonomie berücksichtigte Volker Schneiders schon 1984 sogar „die exponentiell wachsende Gesteinsmenge …, die zerkleinert, transportiert, verarbeitet, eingeschmolzen und auf Abraumhalden geschafft werden muss.“
Da sich, spätestens jetzt, herausgestellt hat, dass die Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch eine unwahre Geschichte ist, müsste man meinen, dass nachhaltiges Wachstum eine Illusion ist. Aber die Grünen sowie allerlei Ökos klammern sich immer noch fest daran. Das war auch in den 80er und 90er Jahren so. An nachhaltiges Wachstum glaubte erstaunlicherweise sogar Prof. Schmidt-Bleek, der in den 90er Jahren forderte, dass der Ressourcenverbrauch der Umwelt zuliebe um einen Faktor 10 reduziert werden müsse. 1999 sagte er in einem Zeitungsinterview: „Wir haben Lust auf Wachstum. … Ökologie muss nicht wachstumsfeindlich sein.“ (Was seine heutige Position ist, weiß ich nicht.) Zwei Jahre zuvor, d.h. 1997, hatte Fred Luks nachgewiesen, wenn der Ressourcenverbrauch in den Industriegesellschaften in den nächsten 50 Jahren um einen Faktor 10 sinken soll und wenn gleichzeitig die Wirtschaft weiter um zwei Prozent pro Jahr wachsen soll, dann muss die Ressourcenproduktivität um einen Faktor 27 ansteigen. Wiedmanns Studie zeigt, dass in den letzten 16 Jahren in Sachen Ressourcenproduktivität kein Fortschritt gemacht werden konnte.
Das sollte eigentlich niemand wundern, der den Kapitalismus auch nur oberflächlich verstanden hat. Makroökonomisch gesehen, funktioniert er wie eine Maschine, die mit Hilfe von Energie und Arbeitskraft Rohstoffe zu Gütern und Dienstleistungen veredelt. Wenn Rohstoffverbrauch insgesamt zurückgehen muss, kann die gesamtwirtschaftliche Leistung (??) nicht steigen. Denn dann haben die Kapitalisten, die Arbeiter und die Maschinen weniger zu tun.
Nachdem die Wikinger – heute heißen sie Norweger – Amerika entdeckt hatten, vergaßen sie ihre Entdeckung total. Darum musste Columbus Amerika wieder entdecken. Wie die Menschen in der Zeit von Kolumbus, aber im umgekehrten Sinne, sehe ich darin einen Hoffnungsschimmer, dass viele junge Leute in Deutschland nach vierzig Jahre langer Vergessenheit die Grenzen des Wachstums wieder entdeckt haben. Sogar die Attac-Bewegung hat eine Postwachstumsökonomie auf ihre Fahne geschrieben. Ich hoffe, dass sich die jungen Leute von heute eine echt nachhaltige Ökonomie vorstellen können.

Donnerstag, 15. August 2013

Die Macht der Religionen und die Ohnmacht der Linken


Vorwort:

Für Sozialisten – allgemein gesprochen, für alle Linken und Fortschrittlichen – ist dies eine grässlich schlechte Zeit. In der schweren multiplen Krise, in der sich die Welt gegenwärtig befindet, kämpfen die Massen vielerorts nicht gegen den eigentlichen Gegner, nämlich den Kapitalismus, sondern gegen vermeintliche Gegner, die Andersgläubigen: Sunniten gegen Schiiten, Sunniten gegen Alawiten, Muslime gegen Christen (in Ägypten und Indonesien), Buddhisten gegen Muslime (in Burma, und Sri Lanka), Muslime gegen Buddhisten (in Indonesien). Einige Jahre früher haben die Hindus gegen die Muslime und Christen gekämpft (in Indien). Und allgemein kämpfen, wie zurzeit in Ägypten, Säkulare und religiös Fundamentalisten gegen einander. Vor diesem Hintergrund möchte ich den folgenden Artikel von mir, der zuerst im Januar 2005 veröffentlicht wurde, wieder veröffentlichen. Er wurde geschrieben, nachdem in den Niederlanden ein fanatischer Islamist den Filmemacher van Gogh gemordet hatte.

 
Die Macht der Religionen, die uns Linken seit einiger Zeit beunruhigt, zeigt sich in drei Phänomenen: religiöser Fundamentalismus, politische Religion und religiös motivierte Gewaltakte. Alle großen Religionen haben diese Machtausdrücke, schon seit langem. In Indien führte der Sieg des militanten Islamismus schon 1947 zur Teilung des Landes und der Gründung der Islamischen Republik Pakistan. Der anfänglich sozialistische (in Algerien) oder halb-sozialistische arabische Nationalismus ist längst vom radikalen Islamismus verdrängt worden. Heute wird der arabische Kampf gegen den Imperialismus hauptsächlich von den militanten Islamisten geführt. In Nordirland geht der "Dreißigjährige Krieg" unter den Christen weiter. In den USA haben die fundamentalistischen Evangelikalen, die die ganze Welt christianisieren wollen, die Macht erobert.

    Nicht Aufregung, sondern tiefes, besorgtes Nachdenken über diese Phänomene tut not. Denn sie stellen nicht nur eine zweite Niederlage des Sozialismus dar. Sie bedeuten auch, dass die Aufklärung zunehmend an Boden verliert.

 
Ursachenanalyse

Viele von uns können nicht verstehen, dass überhaupt jemand an Gott und eine Religion glaubt. Doch machen wir es uns nicht so leicht! Eine tiefe Wurzel der Religiosität liegt in der conditio humana selbst. Wir wissen nicht alles. Was uns die Wissenschaft über die Entstehung des Universums und des Lebens sagt, sind doch nur zurzeit mögliche intelligente Hypothesen! Außerdem bleiben mehrere grundsätzliche Fragen unbeantwortet: Wozu ist all das entstanden? Was ist der Sinn von all dem, vom Leben? Und was ist der Sinn vom Menschenleben? Woher haben wir unser Bewußtsein, unsere Intelligenz, unsere Moral? Sind wir nur ein Zufallsprodukt der Evolution? Wenn ja, warum will ein solches Wesen, das nur eine Spezies unter Millionen ist, überhaupt eine Moral haben? Katzen kümmern sich doch nicht um die Natur oder die zukünftigen Generationen! Warum leiden einige Menschen und die anderen nicht? Was ist Sterben?

    Solche Fragen können schnurstraks zur Gottgläubigkeit und Religion führen, oder, in einem günstigen Fall, zur harmlosen Spiritualität. Insbesondere braucht ein geschundener Mensch oder einer, der am Boden liegt, eine Troststelle. Wenn sie im Diesseits nicht zu finden ist, ist es verständlich, dass er sie im Jenseits gefunden zu haben glaubt, wo ihn ein Gott angeblich bedingungslos liebt oder wo er endlich glücklich sein würde. Bekanntlich begannen die Erkenntnissuche des jungen Buddha und sein Weg zur Religiösität mit dem Anblick eines Schwerkranken, eines gebrechlichen Greisen und eines Toten. Nach dem Kollaps der Sowjetunion strömten die verelendeten, vormals atheistischen Russen wieder in die neu gegründeten Kirchen. Marx hatte schon erkannt, dass Religion "der Ausdruck des wirklichen Elends", "der Seufzer der bedrängten Kreatur" ist.

    Religion ist nach Marx auch Opium. Er erkannte aber auch, dass sie nicht immer nur Seufzer und Opium ist. Sie ist auch "die Protestation gegen das wirkliche Elend". Es ist besser zu sagen, dass sie auch das sein kann. In der Tat hat sie in der Geschichte oft Menschen zum Protest angestachelt, in verschiedenen, inklusive der gewalttätigen, Formen. Thomas Müntzer, ein protestantischer Reformer, führte im 16. Jahrhundert eine Bauernrevolte. Manche Marxisten sehen ihn als einen Vorläufer im Kampf für eine klassenlose Gesellschaft. Luther führte die Revolte gegen die korrupte christliche religiöse Hierarchie. Im 18. Jahrhundert führte in Ostindien eine Gruppe von Hindu Sannyasins eine Revolte gegen die Fremdherrschaft. Im 19. Jahrhundert führte Muhammad Ahmad Ibn 'Abd Allah – ein Sufi, der sich den Titel "Mahdi" gab – im Sudan eine Massenbewegung und eine revolutionäre Armee, um sowohl den Islam zu reformieren als auch sein Land von der unterdrückerischen Fremdherrschaft der Ägypter zu befreien.

    Müntzer, die Sannyasins und der Mahdi führten bewaffnete Kämpfe gegen eine weltliche Ordnung, die sie aus verschiedenen Gründen für unerträglich hielten. Und Luther war der geistliche Führer der Fürsten, die die militärische Revolte gegen die Herrschaft des Papstes führten. Der Mahdi und seine Anhänger wollten den Islam zur ursprünglichen Form zurückführen, in der der Prophet ihn praktiziert hatte, waren also im heutigen Jargon Fundamentalisten. Was diese historischen Beispielen besagen, ist, dass in der Menschheitsgeschichte oft militante, religiöse Fundamentalisten oder auch nur religiös motivierte politische Kämpfer, die keine Fundamentalisten gewesen sein müssen, auf verschiedene Weisen gegen irgendein wirkliches oder so empfundenes Unrecht oder irgendwelche Missstände gekämpft haben.

 
Die verratene Aufklärung, die verratenen Menschenrechte, die verletzte Würde

Seit der Aufklärung und seit den verschiedenen Erklärungen der Menschenrechte, spätestens aber seit der weltweiten Verbreitung der revolutionären sozialistischen Bewegung nach dem Zweiten Weltkrieg hätte es keiner religiösen Motivation für solche Kämpfe bedürfen sollen. Aber sowohl die Aufklärung als auch die Menschenrechte wie auch der Sozialismus wurden von denselben Völkern verraten, die diese Ideale erfunden hatten, nämlich den euro-amerikanischen. Im Namen der Bürde des weißen Mannes, seiner angeblichen zivilisatorischen Mission, wurden Kolonialkriege geführt. Die Völker der eroberten Länder wurden nicht nur ausgebeutet, sondern auch rassistisch behandelt. Der Sklavenhandel ging bis 1864 weiter. Frankreich führte bis 1962 Krieg, um seine Kolonialherrschaft in Algerien aufrechtzuerhalten.

    Schon der bewaffnete Kampf des Mahdi galt nicht nur der ägyptischen Herrschaft in Sudan, sondern auch dem britischen Imperialismus, der die Ägypter unterstützte. Der britische Oberst Gordon, der den Sudan für die Ägypter retten sollte, wurde nach seiner Gefangennahme getötet. Aber warum musste der Mahdi ein religiöser Fundamentalist sein? Es ist vielleicht ein Gesetz der Sozialgeschichte, dass immer, wenn einem Volk oder einem Teil davon seine allgemeine Lage, auch ohne Fremdherrschaft, als miserabel erscheint, wenn es sich in einem materiell desolaten oder moralisch dekadenten  Zustand sieht, insbesondere wenn, in unserer Zeit, sich die Versprechungen der Moderne als illusorisch erweisen, besinnt sich zumindest ein Teil dieses Volkes auf die eigene religiös-kulturelle Tradition, will das vermeintlich goldene Zeitalter der eigenen Geschichte, das nicht unbedingt im materiellen Sinne zu verstehen ist, wiederbeleben.

    Diese Rückbesinnung muss nicht immer als ein Zusatz zum Kampf um die weltliche Macht erscheinen. Sie kann auch in einem unabhängigen, aber in irgendeiner Art von Krisenzustand befindlichen Land eine friedliche sozio-kulturelle Renaissance zum Ziel haben. So gründeten in Indien die Hindus im 19. Jahrhundert die an den Veden orientierten Bewegungen Aryasamadsch und Brahmasamadsch. 1928 entstand die "Muslimbruderschaft", die für eine Rückkehr zum Koran und dem Hadith als Leitlinien für eine gesunde, moderne islamische Gesellschaft eintrat. Ähnliches beobachtet man heute unter den christlichen Fundamentalisten, die ob des moralischen Verfalls der modernen westlichen Gesellschaften ein tiefes Unbehagen empfinden und darum diese zurück zu den biblischen Werten führen wollen. Und im heutigen Indien haben viele Hindus auf die moralische Verkommenheit ihrer Gesellschaft mit dem Traum reagiert, das Ramradschja, das Königreich des Gott-Königs Rama, wiederzubeleben. Klar, viele Politiker instrumentalisieren diese Empfindungen, Gedanken und Träume. Aber die gibt es.

    Für uns ist die jüngste Geschichte von Algerien die lehrreichste. Nach einem erfolgreichen Befreiungskampf wurde dort ein sozialistischer Staat gegründet, der von Ölreichtum gesegnet war. Es gab zwar einige rein ökonomische Gründe für die Krise des Landes. Aber die führende, verwestlichte, frankophone Schicht der herrschenden FLN war auch moralisch degeneriert. Vor diesem Hintergrund konnten die unterprivilegierten Schichten, insbesondere deren unter Massenarbeitslosigkeit leidende Jugend, deren absolute Zahl sowie deren Anteil an der Bevölkerung rapide zunahmen, leicht von der Islamischen Heilsfront (FIS) für ihre Politik gewonnen werden – im Namen des Panarabismus und der Wahrung der religiös-kulturellen Identität. Der Rest der Geschichte – Bürgerkrieg und gegenseitiges Massaker – ist reichlich bekannt.

    Bekanntlich kommen die islamistischen Terroristen der Gegenwart im allgemeinen nicht aus den armen Unterschichten, sondern mehrheitlich eher aus der gebildeten Mittelschicht. Wenn sie in einem Land an die Macht kämen, würden sie auch nicht die Ausbeutung der unteren durch die oberen Schichten abschaffen. Hier machen manche westlichen, auch linken, Beobachter einen Denkfehler. Beim islamistischen Terror geht es nicht primär um die Verteilung der Reichtümer der Welt oder des eigenen Landes, sondern um die Würde und um Hass und Rache als zwei Mittel zur Wiederherstellung der Würde. Das Würdegefühl der arabisch/islamischen Völker, eigentlich eines jeden Dritte-Welt-Volkes, leidet ohnehin ständig an materieller Unterentwicklung. Es wird seit langem zusätzlich von den westlichen, imperialistischen Ländern, zu denen auch Israel gehört, verletzt. Wenn auch ein paar Bombenanschläge den Imperialismus nicht besiegen können, so können sie das Rachebedürfnis der geschundenen Völker befriedigen. Das ist der wichtigere Sinn der Anschläge der Islamisten gegen die Westler und die Israelis. Nur so kann man auch die Ermordung von Theo van Gogh verstehen.

    Die Motivation für die Erfüllung dieser Art von Bedürfnissen kann nicht aus Idealen wie der Aufklärung und dem Sozialismus bezogen werden, wohl aber aus den fundamentalistischen Interpretationen der großen Religionen sowie aus dem Nationalismus. Die Motivation für den Kampf der Islamisten gegen den Westen und den der Tschetschenen gegen die Russen wird aus beiden dieser Quellen gespeist.

    Es ist nicht von ungefähr, dass man beim Begriff "islamistischer Terrorist" kaum an einen Türken denkt, obwohl es auch in der Türkei zwei von türkischen Islamisten verübte Bombenanschläge gegeben hat. Die Türkei war nie eine Kolonie. Im Gegenteil, sie war selbst eine Kolonialmacht. Und heute ist sie OECD- und NATO-Mitglied. Der türkische politische Islam kann daher eine milde Form annehmen. Das beweist, dass erst die Kombination von Muslim sein und Dritte-Welt-Mensch sein einen besonders anfällig für den militanten Islamismus macht.

 
Die Funktion der Identität

Die FIS konnte die religiös-kulturelle Identität "arabisch-islamisch" so erfolgreich ausnutzen, weil die von den Linken bevorzugte Identität "Arbeiter" den algerischen Unterschichten in ihrem Kampf gegen die FLN-Bonzen und die Oberschichten, die sich als Sozialisten verkauften, wenig genutzt hätte – zumal auch innerhalb der Arbeiterklasse Klassendifferenzen existierten. Auch im Kampf gegen den Imperialismus nutzt die Identität "Arbeiter" wenig, da ja auch euro-amerikanische Arbeiter objektiv Nutznießer des imperialistischen Systems sind. So erstarkten die Islamisten. Mit Hilfe der Identität "islamisch" können sie auch die Klassenprobleme in den eigenen Reihen unter den Teppich kehren. Es ist eine Schwäche der euro-amerikanischen Linken, dass sie den objektiv existierenden Interessenkonflikt zwischen der Arbeiterklasse des Zentrums und der der Peripherie nicht wahrhaben wollen.

 
Was tun?

Wie sollen wir uns diesen Phänomenen gegenüber verhalten? Die große Mehrheit der Gläubigen nimmt ihre heiligen Bücher nicht allzu ernst. Das sind realistische Menschen. Leben und leben lassen, das ist ihre Haltung Andersgläubigen gegenüber. Wenn auch wir ihr Gläubig-sein tolerieren, dann ist eine politische Zusammenarbeit möglich. Die Massen, die die anfängliche sozialistische Politik der FLN unterstützten, waren gläubige Muslime. Und die Christen haben ihre Befreiungstheologie und Christen für den Sozialismus. Wir können die Wichtigkeit der Glaubensfrage verneinen, eine agnostische Position beziehen, sagen, dass wir nicht wissen, ob es einen Gott gibt, und die rhetorische Frage hinzufügen: was kann man mit einem Gott anfangen, der uns nicht helfen kann?

    Wir müssen aber auch differenzieren. Die Fundamentalisten, die die Worte des Koran, der Scharia oder der Bibel als die Gesetze des gesellschaftlichen Lebens durchsetzen wollen, die müssen wir bekämpfen. Denen jedoch, die für ihren Kampf gegen die vielen Übel in dieser Welt keine andere Quelle der Kraft und Inspiration finden als ihre Religion, müssen wir eine andere Quelle bieten. Der holländische Journalist Joost Kircz klagte: "Die Linke kann den jungen, islamisch beeinflussten Menschen keine Alternativen bieten. .... Es gibt auch keine vergleichbaren heroischen Kämpfe gegen die herrschenden Verhältnisse, an denen diese Jugend einen neuen emanzipativen Sinn erlernen und erproben könnte" (SoZ 12/04). Dieses Defizit von uns muss bald aufgehoben werden.

 

 

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Geschrieben im Dezember 2004.

Das erste Mal erschienen in SoZ, Januar 2005.

Freitag, 9. August 2013

Zwei Amerikanische Helden – eine Laudatio

Alle Linken, Freiheitlichen und Demokraten müssen darüber total verwundert gewesen sein, dass der Westen in kurzer Zeit gleich zwei Helden nach ihrem Geschmack hervorgebracht hat: Bradley Manning und Edward Snowden. Und beide kommen ausgerechnet aus den USA, aus dem Zentrum einiger der größten Übel der Welt, aus einer Gesellschaft, die durch die Herrschaft von Geld und Gewalt durch und durch verdorben ist.
Wir haben alle gewusst, aus dem Westen kann allerhöchste wissenschaftliche und technologische Leistung kommen. Und es können von dort auch Helden wie Neil Armstrong et al. kommen, die auf dem Mond gelandet sind, oder Helden wie Reinhold Messner, der alle Achttausender der Welt bestiegen hat. Aber wer hat sich vorstellen können, dass aus den USA Helden wie Manning und Snowden kommen würden, diese zwei kleinen, jungen, schmächtigen, bebrillten Männer, die viel jünger aussehen als sie in Wirklichkeit sind? Die beiden haben nichts geleistet wie eine Mondlandung oder die Überquerung der Antarktis zu Fuß. Dennoch haben sie Größeres geleistet als Armstrong oder Messner: Sie haben gegen das Empire gekämpft, gegen die größte imperialistische Macht der Weltgeschichte, und sie haben dabei Kopf und Kragen riskiert. Bradley Manning wird den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen müssen, und Edward Snowden im ewigen Exil...
Solche Helden, die gegen das Empire kämpfen (gekämpft haben) oder gegen die hausbackenen Unterdrücker und Vasallen des Empires im eigenen Land, gibt es viele in Ländern an der Peripherie. Aber wir hatten gedacht, das Empire könne mit seinem Geld und Macht alle eigenen Leute zufrieden stellen, die die Intelligenz und das Wissen haben, die notwendig sind, um das Üble an den herrschenden Verhältnissen zu erkennen, und auch die Emotion, sich dagegen aufzulehnen. Wir haben doch schon gesehen, dass sogar viele ehemalige Linke, Revolutionäre und Streetfighter sich haben aufkaufen lassen. Auch Manning und Snowden, diese Computer-Nerds, sind hoch intelligent, und ihr Wissen und Können sind dem Empire höchst nützlich. Dennoch haben sie sich gegen das Empire, gegen ihr Vaterland, gestellt.
Snowden sagte: "Du kannst nicht gegen die mächtigste Spionageagentur der Welt kämpfen und dabei kein Risiko eingehen.” "Ich beabsichtige nicht zu verheimlichen, wer ich bin." "Ich verstehe, man wird mich für meine Aktion leiden lassen." "Es gibt keine Rettung für mich."
Auch Armstrong und Messner sind, wie jeder Abenteurer, großes Risiko eingegangen. Die Mondlandung und die Besteigung eines Achttausenders hätten schief gehen können. Aber sie waren für ihr Abenteuer technisch bestens vorbereitet. Und sie waren ganz sicher, dass bei Erfolg Weltruhm und materieller Reichtum der Lohn der risikoreichen Aktion sein würden. Manning und Snowden aber wussten, dass bei ihrer Aktion das Risiko Hinrichtung oder lebenslange Haft war und dass sie bei Erfolg keinen Ruhm und keine materielle Belohnung erwarten durften, sondern Verachtung der Mehrheit ihrer Landsleute und ein bisschen zaghafter Beifall der Bürgerrechtler. Sie haben es dennoch getan.
Für ihre Heldentaten haben sie sehr viel Mut und Opferbereitschaft an den Tag gelegt. Und sie handelten auf der Grundlage hoher ethischer und moralischer Prinzipien. In Bezug auf seine Motivation sagte Snowden: “Ich möchte nicht in einer Welt leben, in der es keine Privatsphäre gibt und mithin keinen Raum für intellektuelle Exploration und Kreativität." Er hatte einen guten und sicheren Job. Aber für ihn "gibt es wichtigere Sachen als Geld." Er hat ganz allein gehandelt. Er sagte: "Ich hatte nach Führern gesucht, aber ich begriff, Führung besteht darin, als erster zu handeln."
Das sind inspirierende Worte. Schade nur, dass seine Motivation oder sein Ziel so wenig ist: eine Welt, in der die Privatsphäre unantastbar ist. Soll man nur deswegen gegen die mächtigste Spionageagentur der Welt kämpfen? Die jungen Leute, die die Wall-Street okkupiert hatten, waren sehr viel weiter. Sie hatten das Gesellschaftssystem überhaupt, den Kapitalismus, angeprangert, in dem krasse Ungerechtigkeit und Ungleichheit herrschen. Sie hatten die Ausbeuter genannt, die einen Prozent Supereiche. Aber wer weiß, vielleicht sind Snowden und Manning Geistesgenossen der Wall-Street-Besetzer! Ich vermute es gerne. Sie haben zur Schaffung einer besseren Welt das beigetragen, was sie beitragen konnten, nämlich ihre Enthüllungen. Andere sollen die anderen notwendigen Sachen tun. Vielleicht durfte Snowden in einem fremden Land, von dem er für seine Sicherheit abhängig war, nicht mehr sagen als soviel.
Sara Harrison, die WikiLeaks-Vertreterin, die Snowden bei seinem Martyrium begleitete, twitterte, nachdem Russland Snowden vorläufiges Asyl gewährt hatte, "Wir haben die Schlacht gewonnen – jetzt ziehen wir in den Krieg". Richtig, eine Schlacht haben sie gewonnen. Aber was bedeutet hier "der Krieg"? Was ist das Ziel des "Krieges"?
Amerikas Jugend hat wieder Heldenmut. Sie braucht aber jetzt ein größeres Ziel. Das kann nur eine ganz andere und bessere Welt sein. Sonst wird genau das geschehen, was Snowden selbst fürchtet. Er sagte: "Was die Konsequenzen dieser Enthüllungen für Amerika betrifft, habe ich die große Furcht, dass sich nichts ändert."..

Donnerstag, 18. Juli 2013

Demokratie ist kein Allheilmittel

 In Ägypten ist die Armee wieder an der Macht. Der Arabische Frühling scheint jetzt restlos vorbei zu sein.
    Aber auch vor dem Militärputsch in Kairo ist die Lage nicht gerade frühlingshaft gewesen. In Tunesien regiert von Anfang an eine islamistische Partei, die vom Volk gewählt wurde; in Ägypten wurde vor einem Jahr der Islamist Mursi zum Präsidenten gewählt; in Libyen kann die gewählte Regierung die bewaffneten Milizen nicht kontrollieren; in Syrien tobt der Bürgerkrieg schon seit über zwei Jahren.
    Die Erwartungen waren groß. Aber die gewählten Regierungen haben das Volk enttäuscht. Am meisten enttäuscht sind aber die gebildeten und westlich orientierten jungen Leute, die die Rebellion initiiert hatten. Sie jagten zwar die Diktatoren weg, aber es waren die bei ihnen sehr unbeliebten Islamisten, die die Macht eroberten. In Syrien, wo der Diktator noch nicht weg ist, reißen die islamistischen Kämpfer die Führung der Rebellion an sich.
    Das muss man verstehen. Abgesehen davon, dass die Menschen in den genannten Ländern in ihrer großen Mehrheit mehr oder weniger fromme Muslime sind, waren es doch die Muslimbrüder und sonstige islamistische Gruppierungen (in Tunesien die Leute der En-Nahda Partei), die vor dem Ausbruch der jüngsten Rebellionen gegen die Diktatoren opponiert hatten. Sie waren es auch, die den Armen in Notsituation geholfen hatten. Währenddem hatten die meisten gebildeten, säkularen und westlich orientierten Leute mit den Herrschern arrangiert. So war es eigentlich kein Wunder, dass bei den Wahlen die Islamisten siegten, und nicht die Säkularen. Aber das Volk, inklusive der Wähler der Islamisten, hatten von den demokratisch gewählten Regierenden viel mehr erwartet als nur eine islamistische Regierung.
    Ich habe oft Leute einen berühmten Spruch vom ehemaligen US-Präsidenten Clinton zitieren hören. Während eines Wahlkampfes sagte er: "It is the economy, stupid!". Er hatte recht. Hauptsächlich die Lage der Wirtschaft entscheidet über die Karriere eines Präsidenten bzw. eines Präsidentschaftskandidaten. Auch Brecht schrieb: "Erst kommt das Fressen, dann die Moral." So war es auch im Falle vom Sturz des Präsidenten Mursi.
    Die Lage der ägyptischen Wirtschaft war schon vor 2011 schlecht. Sie wurde während der Rebellion, gerade wegen des Chaos und der Konflikte immer schlechter. Nach einem Bericht des Spiegels (Nr.27/2013) wurden trotz Subventionen Brot, Benzin und Gas immer teurer. Die Arbeitslosigkeit stieg. Im Juni dieses Jahres betrug die offizielle Rate zwölf Prozent. Fast jeder zweite Ägypter lebt unterhalb der Armutsgrenze von zwei Dollar pro Tag. Die Bevölkerung wächst kontinuierlich. Es fehlen Jobs für junge Leute. Um ausreichend Jobs zu schaffen, müsste die Wirtschaft jährlich um acht Prozent steigen. Zuletzt wuchs sie aber um weniger als zwei Prozent. Die Zahl der Touristen fiel drastisch. Der ägyptische Pfund befindet sich im freien Fall. Nach einem anderen Bericht herrschte ein dramatischer Mangel an Dieselkraftstoff. Es gab häufige Stromausfälle. Nach diesem Bericht kam nicht nur die Versorgung und die Landwirtschaft zum Erliegen, das gesamte Leben trieb dem Stillstand entgegen.
    Es mag stimmen, dass zum Teil Sabotage-Aktivitäten der Getreuen des gestürzten Mubarak-Regimes die dramatische Verschlechterung der Wirtschaftslage bewirkt haben. Aber auch sonst wäre die Lage wegen der weltweiten Krise und des Bevölkerungswachstums immer schlechter geworden. Schließlich ist die Lage auch in Griechenland, Portugal, Spanien, Irland etc. schlecht geworden – ohne Sabotage-Aktionen der Opposition.
    Sich in einer solch schlimmen Situation primär um die formale Demokratie zu sorgen, wie es manche euro-amerikanischen Politiker und Publizisten tun, ist Unfug. Die Mehrheit der Ägypter – unter ihnen viele Mursi-Wähler – waren nicht bereit, ihr Leben zerstören zu lassen, bloß weil Mursi vor einem Jahr gewählt wurde. Man kann es ihnen nicht übel nehmen, wenn sie einen anderen Weg aus der Misere probieren wollen. In ähnlich schlimmer Lage haben vor nicht allzu langer Zeit auch die Argentinier und Bolivianer ihre gewählten Präsidenten verjagt. Demokratie verliert ihren Sinn, wenn stures Festhalten an ihr das Leben der Menschen zerstört, oder wenn das Leben der Menschen zerstört wird, weil die gewählten Regierenden ihre Treue zur herrschenden Wirtschaftsordnung für wichtiger halten als alles andere, wie es zur Zeit in Griechenland der Fall ist.
    Viele Ägypter sagen, sie wollen eine zweite Chance, eine "wirkliche Demokratie" aufzubauen zu beginnen – eine mit garantierten gleichen Rechten für alle und Trennung von Religion und Politik. Diesem ihrem Wunsch müsste man entgegenkommen. Das Überleben einer Nation ist wichtiger als die Einhaltung der Regeln der formalen Demokratie, die ja nicht mehr ist als eine Legitimationsform der politischen Herrschaft. Ich denke allerdings, sie sollten, alle sollten, in der heutigen Lage der Welt ihr Hauptaugenmerk auf die Wirtschaftsordnung richten und nicht ausschließlich auf die politische Ordnung. Im Volksmund heißt es, "Geld regiert die Welt". Besser ausgedrückt, es ist die heutige Wirtschaftsordnung, die die Welt regiert, die unser Leben größtenteils bestimmt, eigentlich zerstört. Dann ist es wichtig, Fukuyamas These vom Ende der Geschichte abzulehnen und dringend nach Alternativen zum globalisierten neoliberalen Kapitalismus und zur westlichen formalen Demokratie zu suchen. Denn im Kapitalismus und in westlicher formaler Demokratie sind gleiche Rechte für alle nicht möglich. Und es ist auch sehr wichtig, dringend und ernsthaft Gedanken über die Tragfähigkeit der Erde und des eigenen Landes zu machen.