Mittwoch, 20. März 2013

Zwei Diskurse, die aneinander vorbeilaufen

Wenn ein interessierter Mensch die Medienberichte und Kommentare zum zehnten Jahrestag des Beginns der Agenda-2010 liest/hört, könnte er denken, die Deutschen lebten in einem anderen Kontinent als die übrigen Europäer. Während der größere Teil des Kontinents in Trübsinn versunken ist, jubeln die Deutschen schon seit einiger Zeit über ihre geringe offizielle Arbeitslosenquote und mäßige Wachstumsrate. In der Tat, im Vergleich zur Lage in Südeuropa, sogar im Vergleich zu der in Frankreich und Großbritannien, funktioniert die deutsche Wirtschaft glänzend. Auch sieht man hier keine soziale Unruhe, keine Steinewerfer, keine großen Demos gegen die Regierungspolitik. Es gibt zwar Kritik wegen der zunehmenden Kluft zwischen Arm und Reich, aber das gehört seit langem zum Politikalltag. Das alles wird zur Zeit von vielen – regierenden Politikern sowie Fachökonomen und -journalisten – als den Erfolg der Agenda-2010-Reformen verkauft. Und es gibt auch Kritik an dieser Interpretation der Lage. Aber das ist nicht, was mir in die Augen sticht..
Es gibt im Lande gleichzeitig einen anderen Diskurs, den die Teilnehmer am oben genannten Diskurs über die reine wirtschaftliche Lage in Deutschland, anscheinend gar nicht kennen. Ich meine den Diskurs über die sog. Postwachstumsökonomie. Seit einigen Jahren, insbesondere seit dem Ausbruch der jüngsten Finanz- und Staatsschuldenkrise, gibt es Stimmen, die von einer multiplen Krise der Menschheit reden. Gemeint sind – zusätzlich zu den Finanz- und Staatsschuldenkrise, der hohen Arbeitslosigkeit und sinkendem Lebensstandard bzw. steigender Armut – die Klimakrise, die globale Ressourcenkrise (Stichwort Peak-oil), die allgemeine globale Umweltzerstörung und auch die zunehmende Weltbevölkerungszahl. Die aktuelle Wirtschaftskonjunktur in Deutschland spielt dabei keine Rolle. Viele junge Leute, die 1972 noch gar nicht geboren oder noch zu jung waren, haben die Existenz der Grenzen des Wachstums entdeckt. Es sind solche Leute, die den Diskurs über die Postwachstumsökonomie angestoßen haben. Aber etablierte Fachökonomen – genannt seien hier als Beispiel zwei renommierte deutsche, Peter Bofinger und Hans-Werner Sinn – scheinen nicht von den Grenzen des Wachstums gehört zu haben. Sie haben sicher davon gehört. Diese Tatsache spielt aber gar keine Rolle in ihren Diskussionsbeiträgen..
Beide haben schon vor acht bis neun Jahren ihre bekanntesten und wichtigsten Beiträge zu ihrem Diskurs veröffentlicht: Sinn in seinem Buch "Ist Deutschland noch zu retten? (2004), Bofinger in seinem Buch "Wir sind besser, als wir glauben“ (2005). Was stark auffällt, negativ auffällt, ist ihre Kirchturmpolitik, ihre ausschließliche Beschäftigung mit der Lage und Zukunft der deutschen Wirtschaft. Die Teilnehmer an dem Postwachstumsdiskurs hingegen denken über die gesamte Lage nach, in der sich die Menschheit befindet..
Bofinger hat neulich einen Diskussionsbeitrag zur Rolle der Agenda-2010-Reformen veröffentlicht.(1) Er schreibt darin: "Da unsere Wirtschaft schon vor der Agenda nicht fundamental krank gewesen war, gab es auch nichts Fundamentales zu therapieren." Er bescheinigt der deutschen Unternehmenslandschaft, dass sie "von Nachhaltigkeit gekennzeichnet" sei, und er schreibt von einer "langfristig ausgerichteten Unternehmenspolitik" in Deutschland. [Er meint dabei gar nicht langfristige ökologische Nachhaltigkeit!] Er widerspricht dem Jubelchor der Freunde der Agenda-2010, die meinen Deutschland sollte jetzt das Vorbild für alle europäischen Länder sein, die "unter Problemen der Wettbewerbsfähigkeit leiden." Er empfiehlt der Politik: "Vielmehr müssen die politischen Weichen so gestellt werden, dass der Wohlstand wieder in stärkerem Maße bei den Arbeitnehmern ankommt. Nur so ist erneut ein Wachstum möglich, das ohne private und staatliche Verschuldungsexzesse auskommt."..
Im Postwachstumsdiskurs herrscht ein ganz anderer Ton. Nehmen wir als Beispiel Prof. Nico Paech, auch Wirtschaftswissenschaftler. In einem Gespräch mit dem Oldenburger Lokalteil(2) weist er darauf hin, "dass das Zwei-Grad-Klimaschutzziel in Verbindung mit globaler Gerechtigkeit nun mal bedeutet, dass jeder Mensch auf diesem Planeten pro Jahr nur noch 2,7 Tonnen CO2 verursachen darf. Da ist eine jährliche Flugreise nach New York nicht drin." Man müsse sich entscheiden: "Will man Klimaschutz oder will man ihn nicht?" Er sagt, das euro-amerikanische Wohlstandsmodel "in den Untergang führt." Er sieht voraus, dass "dieses Kartenhaus, das wir 'Wohlstand' nennen, zusammenbricht." Die Energiewende in Deutschland hält er für "eine der größten ökologischen Katastrophen." "Wir sind", sagt Paech, "an allen Ausfahrten in Richtung Nachhaltigkeit mit Hochgeschwindigkeit vorbeigerast." Er plädiert für eine schrumpfende Ökonomie, für ein Boden- und Landschaftsmoratorium, es dürfe überhaupt keine Anlage mehr – egal ob Wind, Biogas oder Photovoltaik – gebaut werden. Er plädiert für die Stilllegung von 50 Prozent aller deutschen Autobahnen und 75 Prozent aller Flughäfen. Er betrachtet die gegenwärtige Weltlage als "die letzten Zuckungen eines Körpers, der nicht sterben will;".
Wir müssen uns daran erinnern, das Bofinger der Mann der Gewerkschaften im Rat der fünf Wirtschaftsweisen ist. Und Paech wurde von den Medien beschimpft – als "den größten Miesepeter der Nation", als "eine echte Rampensau". Eine Zeitung fragte: "Spinnt der?" Ich habe bisher nicht gehört, dass Bofinger und Paech zu einem Streitgespräch eingeladen wurden..
Bofinger denkt und operiert systemimmanent. Den Kapitalismus stellt er gar nicht in Frage. Aber auch von Paech (und den meisten seinesgleichen) habe ich nicht gehört, in welchem politischen und polit-ökonomischen Rahmen seine Vorstellungen einer nachhaltigen Ökonomie eine Chance hätten, akzeptiert zu werden. Warum diese Weigerung durchzudenken? Ich meine, das ist nur in einem Ökosozialismus möglich..
1. (http://www.taz.de/!112801/)..
2. (http://www.oldenburgerlokalteil.de/2013/03/12/letzte )

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