Mittwoch, 12. Dezember 2012

Wenn Schon Untergang,
Dann Ganz Demokratisch

Neulich las ich im Internet einen Artikel von Jörgen Randers mit dem Titel "Ein guter Diktator. Das ist der Gipfel" (Der Tagesspiegel, Berlin, 17.06.2012). Randers ist ein ziemlich bekannter Mann. Er war Co-Autor des berühmten ersten Berichts an den Club of Rome "Grenzen des Wachstums" (1972). Und vor einiger Zeit hat er den dritten Bericht an den Club of Rome herausgegeben ("2052 – Eine globale Prognose für die nächsten 40 Jahre").
Dieser dritte Bericht mag interessant sein. Aber viel interessanter ist der Artikel im Tagesspiegel, wo Randers ein großes Problem thematisiert, das die Welt seit langem plagt, nämlich, dass es fast unmöglich ist, für wirklich effektiven Klimaschutz, aber auch für effektive Maßnahmen zur Lösung der allgemeinen Ökologiekrise eine Mehrheit zu finden. Bei punktuellen Umweltverbesserungen, zum Beispiel bei Wasser- oder Luftqualität, hat es in den reichen Ländern – etwa in Deutschland oder Japan – schon manche Fortschritte gegeben. Aber bei den globalen Problemen wie der Erderwärmung, Verschmutzung der Ozeane oder bei Biodiversität und Artenschutz ist fast nichts passiert. Die Serie der gescheiterten Weltklimagipfel ist das bekannteste Beispiel für diese Unmöglichkeit. Randers schreibt nun: "Parlamente lösen langfristige Probleme nicht, … . Wir bräuchten Diktatur auf Zeit."
Randers argumentiert, Parlamente, also die Gesetzgeber, könnten schon etwas tun, nämlich durch Gesetzgebung. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass sie das tun, ist gering. Denn die meisten Abgeordneten würden schnell erkennen, dass die Konsequenz daraus wäre, dass vieles teurer würde: Strom, Gas etc. Sie sind also nicht dafür. Denn ihre Wähler würden sie dafür verantwortlich machen, sie würden dann nicht wieder gewählt. Randers meint, es gebe einige Ausnahmen, z.B. das deutsche Parlament, das Wind- und Solarenergie fördert, ein paar Unternehmen, und China, das sehr früh mit der Förderung von Elektroautos angefangen hat.
Randers schlägt also einen "wohlmeinenden Diktator" als Lösung vor, der die notwendigen schnellen Entscheidungen treffen würde und dann, nach getaner Arbeit, nach etwa fünf Jahren zugunsten eines gewählten Parlaments zurücktreten würde. Bezogen auf die gegenwärtige Welt, erwähnt er drei mögliche Kandidaten bzw. Beispiele: die EU-Kommission, die Kommunistische Partei Chinas, und das supranationale IPCC.
Die Kommentare über diese Idee von Randers sind hart und beleidigend. Hier ein paar Kostproben: Einer schreibt: "Randers ist ein ziemlicher Fachidiot. Wer nur was von Klima versteht, versteht auch das nicht richtig." Ein anderer hält Randers für ein "gefährliches Individuum". Und ein dritter schreibt: "Da hetzen selbsternannte 'Anständige' 'gegen rechts'. … Doch die wahren Verfassungsfeinde und Antidemokraten sitzen schon ganz lange woanders. Ökofaschisten und Diktatoren in ihrem Element." Aber kein einziger der Kritiker geht auf das Dilemma ein, das Randers bewegt hat, seine Idee eines wohlmeinenden Diktators zu äußern.
… Ich erinnere mich, dass im Deutschland der 1980er Jahre, besonders bei den Grünen, die Notwendigkeit von Ökodiktatur, die Gefahr des Ökofaschismus und Ähnliches schon Diskussionsthema waren. Auch damals wurde die Meinung geäußert, dass in einer Demokratie eine echt ökologische Transformation der Ökonomie keine Chance hat. Fast dreißig Jahre später sagt Randers dasselbe.
Das Grundproblem ist, dass die künftigen Generationen, die Noch-nicht-Geborenen, nicht an den Wahlen von heute teilnehmen können. Doch die Weichen für die Zukunft werden heute gestellt. Eine Demokratie aber veranstaltet eine Wahl zwischen alternativen Programmen, Politiken und Kandidaten, die im Idealfall versprechen, die Interessen und das Wohl von heute lebenden Menschen und Unternehmen (oder von Teilen von ihnen) zu schützen und zu fördern. Es liegt auf der Hand, dass die Interessen der heute lebenden und die der zukünftigen Generationen nicht gleich sind. Und es gibt auch einen Widerspruch zwischen den Interessen der Gattung Mensch und denen der übrigen Spezies. Je mehr Menschen auf der Erde leben, desto weniger Platz und Ressourcen gibt es für die anderen Spezies.
Bei dieser Sachlage stellt sich die Frage, ob die heute lebenden Menschen in der Lage sein könnten, ihr eigenes Interesse hintanzustellen und den Interessen der übrigen Natur und der zukünftigen Generationen von Menschen Vorrang zu geben. Das ist offensichtlich sehr schwierig. Denn dazu müssten sie auf einen großen Teil ihres heutigen Wohlstands verzichten.
Randers meint es gut, er hat die Beschimpfungen nicht verdient. Aber er ist naiv. Warum sollten die Abgeordneten der Parlamente der EU-Staaten oder der ganzen Welt bereit sein, ihre Macht an einen wohlmeinenden Diktator abzutreten, wenn sie nicht einmal bereit sind, ihre Kämpfe um aussichtsreiche Listenplätze aufzugeben? Und warum sollten sie einen solchen Diktator nicht wieder stürzen, sobald er eine Entscheidung gegen die Interessen ihrer Klientel trifft?
Verhaltensforscher haben festgestellt, dass sowohl Selbstsucht als auch Altruismus in der Erbanlage von Schimpansen (unseren allernächsten Verwandten) sowie in der von Menschen verankert ist. Es ist also zumindest theoretisch möglich, Menschen dazu zu bewegen, ihr eigenes Interesse hintanzustellen – zugunsten der Interessen der ganzen Menschheit, der künftigen Generationen und der übrigen Natur. Ich denke, dazu ist eine starke und breite politische Bewegung notwendig – beruhend auf der ökologischen Wahrheit und bar jeder Illusion. Wenn eine solche Bewegung die intellektuell-kulturelle Hegemonie im Sinne von Gramsci errungen hat, dann, und erst dann, gibt es Hoffnung, auf demokratischem Weg etwas zu erreichen. Dann wäre möglich, dass eine Transformationspolitik in der Richtung einer ökologischen Ökonomie verfolgen würde, egal, welche Personen oder Personengruppe die Wähler beauftragen, die Arbeit durchzuführen. Ansonsten ist der Untergang der Zivilisation garantiert. Der Prozess wird sehr chaotisch sein, obwohl ganz demokratisch.

Dienstag, 6. November 2012

Waning Relevance of Marxism

by Saral Sarkar

Sandip Bandyopadhyay's article "Interest in Marxism Waning?" (Frontier, Autumn Number, 2012) attracted my attention, because I am one of those whose interest in Marxism has waned. It has been waning since the mid 1970s, i.e. since before the CPI(M) started its second and long innings in power in West Bengal and long before socialism was wound up – first in China and then in the Soviet Union and Eastern Europe. It has therefore nothing to do with the betrayal of Marxism or socialism by the CPI(M) or the CPSU(B) or the CPC, nor has it much to do with the cruelties of the Stalinist regime in the Soviet Union or of the CPI(M) cadre in West Bengal. Marxism, the ism, is not the same as the policies and praxis of the above mentioned parties in the countries where they ruled, just as socialism is not the same as the policies of the Socialist Party of France or that of Spain.
In fact, in the second half of the 1960s, Marxism experienced a rejuvenation in Western Europe. The student movements there were largely inspired by Marxism. Young people, particularly students, again became interested in studying Marxist literature, although they were very well informed about and, therefore, very critical of the Soviet model of socialism and the Soviet understanding of Marxism. In Italy and France, where, in those days, big and strong communist parties existed and hence Marxist literature used to be sold and probably also read, young people's interest in Marxism bypassed the established interpretations of Marxism and took the form of an effort to understand the world of their days. It was a different world, very different from the world in which the classics of Marxism were written. This world, they realized, could not be understood or explained adequately by faithfully applying the teachings of Marx and Engels, which originated a century earlier in very different contexts. What actually mattered was to see whether the Marxist tools of analysis were useful for the purpose, and many found them useful.
Bandyopadhyay writes: "There are valid reasons for questioning the relevance of Marxism in the present-day world." He does not state these reasons. What are they?
For about 25 years after the end of the Second World War – from about 1950 to 1974 – Western industrialised countries experienced what has been called an "economic miracle". It was a long period of boom, of rapid economic growth and, along with it, rapid growth in prosperity. Also the working class rapidly prospered. Skilled workers, roughly speaking, rose to the middle class level. Revisionism had already gained the upper hand over revolutionary Marxism and lasted till the end of the 1940s. But until then, the organized working class and their parties, the Social Democratic and communist parties, kept up their critique of capitalism and regarded socialism as their long-term goal. But in the 1950s and thereafter, for all practical purposes, they (except the communist parties) openly accepted capitalism as the best or the most efficient economic system. From then on, the only thing the organised working class struggled for was to get a higher share of the cake. In this situation, the vast majority of this class refused to play the role of the grave-diggers of capitalism. Workers of the highly industrialised countries had no good reason any more to fight against the system, to kill the goose that was laying the golden eggs.
"Pauperization" of the working class proved to be a myth. The assertion of Marx and Engels that "The proletarians have nothing to lose but their chains" did not make any sense anymore. Their call to the proletarians "Working men of all countries, unite" fell on deaf ears. The proletarians of the Western industrialised countries had well-paid jobs and some prosperity to lose. And they profited from the colonial exploitation of the working men of the poor countries of the world. No wonder, interest in Marxism waned. Radical leftists understood the new situation, namely that the working class was no longer the agent of revolution. Some of them thought that perhaps the sub-proletariat, the fringe groups, could be the new agents of revolution.
In India today, as far as I can perceive from this distance (I live in Germany), the material living conditions of workers, particularly of those in the organised sectors of the economy, have improved very much. In the wake of India's integration in the world economy, and against the background of high GDP growth rates, the mood has changed. Not many people are nowadays willing to fight for a great cause or ideal. Instead, there is a rush for making money, making career, and consuming the luxuries offered by the world market. Members of the established communist parties are no exceptions. The only people in India who are today struggling against exploitation, oppression, and injustice are the Adivasi forest dwellers. And their leaders and cadre don't call themselves Marxists.
In this situation, can Marxism again have a relevance for the struggle for a better world? In order to be able to answer this question, we must first be clear about what a better world should mean today.
Two Aspects of a Better World
The book "Limits to Growth" (Meadows et al.) was published in 1972. Ever since, the intensifying global ecological crisis, the dangers arising from global warming, declining biodiversity, exhaustion of all kinds of resources, and continually rising world population are matters of great concern for all those who, for whatever reason, are willing to look beyond their own and their nation's particular interests. One can say, imitating Marx: Capitalists, socialists and communists have till now changed the world in various ways; the point today, however, is to save it. I contend that the work of saving the world from the above mentioned crises and dangers and creating a better world has two aspects. Firstly, the economies of the world must be transformed into ecologically sustainable ones, and they must be based mainly on renewable resources, which we should expend at a rate no higher than the rate at which they are or can be replenished. Secondly, the societies must be transformed into egalitarian ones. Egalitarian societies are not only desirable in themselves. They are also necessary for ensuring peace within a society and peace between different societies. A society having these two qualities can be called an eco-socialist society.*
It has become clear that there is an ineluctable contradiction between ecology and industrial economy we know for the last two hundred years. Marx and Engels were very much aware of the ecological degradations caused by the industrial economies of their days. Marx wrote:
"In modern agriculture, as in the urban industries, the increased productiveness and quantity of the labour set in motion are bought at the cost of laying waste and consuming by disease labour-power itself. Moreover, all progress in capitalistic agriculture is a progress in the art, not only of robbing the labourer, but of robbing the soil; … . The more a country starts its development on the foundation of modern industry, … the more rapid is this process of destruction. Capitalist production … develops technology and the combining together of various processes into a social whole, only by sapping the original sources of all wealth – the soil and the labourer" (Marx 1954: 506-507).
Here Marx is speaking of "soil". In place of "soil", we nowadays should read resources and the environment. And Engels, using the negative environmental effects of deforestation as an example, wrote: "… nature takes its revenge on us"(Marx and Engels 1976, Vol.3: 74-75).
But this awareness did not influence the theory of Marx and Engels. The ecological degradations they described were merely presented as an extra point of criticism against capitalism. They remained growth optimists. So they also saw a way out, a way of avoiding nature's revenge. Engels wrote:
"… all our mastery of [nature] consists in the fact that we have the advantage over all other creatures of being able to learn its laws and apply them correctly.
… with every day that passes we are acquiring a better understanding of these laws and getting to perceive both the more immediate and the more remote consequences of our interference with the traditional course of nature. In particular, after the mighty advances made by the natural sciences in the present century, we are more than ever in a position to realise and hence to control even the more remote natural consequences of at least our day-to-day production activities." (ibid).
In principle, this optimism cannot be flawed, except that Engels forgot to say, firstly, that there are also limits to the possibility of this control – limits that are also inherent in the laws of nature – and, secondly, that this control involves costs and that such costs might be too high for a society to pay. We also know today that some of the negative ecological consequences of our production activities may also become irreversible.
Despite his very fundamental critique of capitalism – namely, capitalism "saps the original sources of all wealth – the soil and the labourer" – Marx assigned this system a world-historic role in preparing the conditions for future human emancipation "The development of the productive forces of social labour is capital's historic mission and justification. For that very reason, it unwittingly creates the material conditions for a higher form of production." (Marx 1981: 368). That means, Marx considered modern industrial production to be a precondition for the future communist society. In the quote further above, however, we see that Marx criticized not only capitalism, i.e. the relations of production capitalism, but also the forces of production, i.e. "modern agriculture", "urban industries" and " modern industry".
Such contradictory positions in Marx's writings allow some Marxologists, such as John Bellamy Foster, to take pains to prove that it is "possible to interpret Marx in a different way, one that conceived ecology as central to his thinking, …" (Foster 2000: vi, emphasis added). After painstaking study, Foster even "came to the conclusion that Marx's world-view was deeply, and indeed systematically, ecological (in all positive senses in which that term is used today), … " (ibid: viii). This is nothing but an effort to defend Marx in an age in which many of his basic positions have become indefensible. But it is not the duty of socialists to defend Marx. It is their duty to strive to create a socialist society, with or without Marx.
Most Marxists, communists, and socialists have failed to take cognizance of the fact that in the years since 1972 a great paradigm shift has taken place in the areas of economic, political, and social thinking. It is a shift from the then prevailing growth paradigm to what I call the limits-to-growth paradigm. One may also call the latter the ecological paradigm. Those who have carried out this paradigm shift in their thinking now see the necessity of a gradual and orderly, in fact planned, retreat from the growth madness of the economies of the world. The socialist societies of the future will either be built in the framework of a hugely contracted world economy, or they will not be built at all. Obviously, that will be a newly conceived socialism, much different from what has been conceived by the great leaders – Marx, Engels, Lenin, Mao up to Castro and Che.
One Marxist, Michael Löwy (2003), who belongs to the Trotskyite stream of Marxism, appears to have partially carried out the paradigm shift mentioned above. He sees the necessity of a convergence of socialism and ecology. He writes: "This convergence is only possible under the condition that Marxists critically analyze their traditional conception of 'productive forces' and ecologists break with their illusion of a true market economy." Löwy wants to "free Marxism from its productivistic slag". But he too wants to save (the rest of) Marxism, i.e. he wants to integrate the rest into his brand of eco-socialism.
Another aspect of the present-day world situation that reduces the relevance of Marxism for a socialist society of the future is the fact that the world, especially the less developed countries, are overpopulated and that the populations of such countries are still growing. Another great flaw in the thoughts of Marx, Engels, Lenin and their followers has been that they totally rejected the views of Malthus. Today, when the absolute availability of important resources in the world is dwindling fast, population growth results first in falling per capita resource availability, and then in conflicts, including war-like conflicts, over resources. No amount of technological development, which itself depends on availability of abundant and cheap resources, will be able to overcome this problem.
Some other aspects of Marxism are however still relevant and will, I think, remain relevant and important: historical materialism, dialectical thinking, stress on class analysis, and thinking in terms of base and superstructure. But the vision of socialism/communism that shines through the works of Marx and Engels and has often been elaborated by their followers is no longer convincing. If they were alive today, Marx and Engels would surely revise their vision and become eco-socialists. And they would not think that the working class would be the main agent of transformation of capitalist society into an eco-socialist one. Marx himself once said: "All I know is that I am not a Marxist" And that was, according to Bettelheim, "no mere witticism" (Bettelheim 1978: 503).
The question as to which kind of people would then lead the transformation must remain undiscussed in this short article.

Notes
* For my detailed argumentation, see: (1) Saral Sarkar (1999 & 2000) and (2) Saral Sarkar and Bruno Kern (2004/2008)
Literature
Bettelheim, Charles (1978) Class Struggles in the USSR – Second Period, 1923-1930. England: Hassocks.
Foster, John Bellamy (2000) Marx's Ecology –Materialism and Nature. New York: Monthly Review Press.
Löwy, Michael (2003) "Überleben statt Profit", in SoZ, January 2003.
Marx, Karl (1954) Capital, Vol. I. Moscow: Foreign Languages Publishing House.
Marx, Karl (1981) Capital, Vol. 3 (Translation by David Fernbach). Harmondsworth: Penguin.
Marx, Karl and Frederick Engels (1976) Selected Works (in 3 Volumes), Vol. 3. Moscow: Progress Publishers.
Saral Sarkar (1999 & 2000) Eco-Socialism or Eco-Capitalism? – A Critical Analysis of Humanity's Fundamental Choices. London: Zed Books & New Delhi: Orient Longman.
Saral Sarkar and Bruno Kern (2004/2008) Eco-Socialism or Barbarism – An Up-to-date Critique of Capitalism. Mainz: Initiative Ökosozialismus & Hyderabad: Chelimi Foundation. (http://www.oekosozialismus.net/en_oekosoz_en_rz.pdf)
Köln, November 5, 2012

Sonntag, 28. Oktober 2012

Apocalypse light

von Jürgen Zenke
T. S. Eliot sagte einmal: Wenn die Welt untergeht, dann nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln (whimper). Auch die Apokalypse kam in drei Raten, mit nicht genutzter Bedenkzeit dazwischen.
Krisen können den Kapitalismus nicht umbringen, weil Krisen essentiell zu ihm gehören, wie viele politische Theoretiker sagen. Er bleibt weiterhin erfolgreich, weil er keinen neuen Menschen braucht, wie ihn der Sozialismus proklamiert hat. Er arbeitet vielmehr mit dem alten Adam und seinen sieben Hauptsünden, d. h. er lebt von unseren niedrigsten Instinkten. Das macht ihn unschlagbar. Er reformiert sich sehr langsam und nur unter großem Leidensdruck, weil die reichen Länder alle Veränderungen als materiellen Abstieg fürchten müssen.
Er wird auch die ökologische Krise überleben mit Hilfe von green-washing, so wie es seit längerem auch die Grünen und ihre Wähler betreiben, die ihren zerstörerischen Lebensstil beibehalten und sich lieber mit Geld und neuer Technik (E-Autos usw.) freikaufen wollen, – Ablasshandel wie zu Luthers Zeiten. Verantwortung für die kommenden Generationen? „Wieso? Was tun die denn für mich? Außerdem geht es Kindern und Enkeln materiell besser als jemals zuvor!“
Wenn fossile und andere Rohstoffe zu Ende gehen, werden sie langsam (!) für immer mehr Menschen unbezahlbar. Dann beginnt Schritt für Schritt der Entzug: Zunächst bei den Armen, anschließend auch beim Mittelstand, dessen Entzug beschleunigt wird, falls ihm die Armen erhebliche Ausgleichszahlungen abtrotzen. Es ist eben so: Viele wollen zurück zur Natur, aber nicht zu Fuß.
Übrigens scheitern alle technischen Lösungen ohne den energischen Willen zur Änderung unseres Lebensstils auch an dem weithin unbemerkten Rebound-Effekt. Bio-Kerosin ist dann z. B. ein Alibi für noch mehr Fliegerei, mit Ökostrom kann ich noch mehr Einfrieren, Warmduschen, im Internet surfen etc., – glaubt jeder unbewusst. Sparsamkeit ist einfach außerhalb Schwabens unsexy.
Wer ist nun der Schurke in diesem Film?
In meiner Ökobank-Gruppe gibt es immer Protest, wenn ich sage: Umweltschädigung nimmt proportional zum Einkommen zu. Arme Leute leben immer nachhaltig, soweit das Menschen möglich ist. Da Wohlstand in allen Kulturen träge macht, ist von den Mittelschichten wenig zu erwarten. Sie werden ihren komfortablen Lebensstil bis zum bitteren Ende verteidigen. Allerdings wird die Umweltkrise national und global die sozialen Verteilungskämpfe verschärfen, bis hin zu Kriegen. Auch das wird langsam gehen – in den reichen Ländern –, wie man an den erstaunlich ruhigen mediterranen Jugendlichen sehen kann, von denen ca. 40% (!) arbeitslos sind, aber eben dennoch relativ reich.
Am vorläufigen Ende wird alles mit weniger Komfort, Konsumgütern und umweltabhängiger Lebensqualität so weiter gehen wie bisher, und alle werden sich daran gewöhnen und immer noch von Wachstum träumen.
Eine große Unbekannte, die diese traurige und banale Entwicklung stören könnte, sind gravierende Kippphänomene, z. B. Stillstand des Golfstroms, unumkehrbares Abschmelzen der Eismassen Grönlands bzw. der Antarktis mit anschließender Überflutung aller flachen Küsten und ähnliche Ereignisse.

Donnerstag, 20. September 2012

Prinzip Hoffnung

Bei nachholender Lektüre alter Zeitungen fand ich eine interessante Buchbesprechung (SZ, 25.02.2012). Schon der Titel ist sensationell: "Fette Jahre". Bernt Rürup, ehemals Mitglied des Sachverständigenrates und Wirtschaftsjournalist Dirk Hinrich Heilmann veröffentlichten dieses Buch Anfang dieses Jahres, d.h. erst vor ein paar Monaten. Der Titel ist sehr mutig, aber auch gewagt. Wie können sie das nur, zumal Rürup ein weiser Wirtschaftswissenschaftler sein soll? Hören wir doch Menschen allenthalben nur von Krisen reden. Des Rätsels Lösung: die Autoren beschränken ihren Blick auf Deutschland.
Tatsächlich, verglichen mit den anderen Industrieländern Europas, auch im Vergleich zu Japan und den USA, geht es Deutschland insgesamt sehr gut, die Autoren sagen "blendend". Deutschlands Wirtschaft blendet tatsächlich, im doppelten Sinne des Wortes. Einerseits: es gibt keine Rezession, zumindest noch nicht. Die Arbeitslosigkeit, die offizielle, ist niedrig. 2011 betrug die Neuverschuldung des Staates nur ein Prozent. Die Exporte überstiegen eine Billion Euro. Rürup und Heilmann prognostizieren für Deutschland eine glänzende Zukunft und wagen überaus positive Prognosen bis 2030. Andererseits: Millionen arbeitenden Deutschen droht Altersarmut. Für solche Leute, sagt die zuständige Ministerin selbst, ist eine Zusatzrente notwendig. Der Niedriglohnsektor mit Mini- und Teilzeitjobs expandiert seit langem. Es gibt keinen gesetzlichen Mindestlohn. Millionen Arbeitende können nicht von ihrem Lohn leben und beantragen deshalb zusätzlich Hartz IV. Hunderttausende können ihre Stromrechnung nicht bezahlen usw. usf. Diese Fakten sind Rürup und Heilmann sicher nicht unbekannt gewesen, als sie ihr Buch schrieben. Bei solchem Faktenmaterial kann man nicht von fetten Jahren reden. Das Deutschlandbild der Autoren ist schlicht falsch, reines Wunschdenken.
Rürup und Heilmann sind keine seltenen Ausnahmen unter Ökonomen und Wirtschaftspublizisten. Ungefähr zur gleichen Zeit erschien in New York Times (Beilage zur SZ, 20.2.2012) ein Artikel von Chrystia Freeland mit ähnlichem Wunschdenken als Inhalt, diesmal bezogen auf die ganze Menschheit. Sie stellt fest, dass dank der Globalisierung und der technologischen Revolution der letzten Dekaden sowohl im Westen als auch in den aufstrebenden Märkten der ehemaligen Dritten Welt eine neue Klasse von Raubrittern ("robber barons") entstanden ist, die durch Ausbeutung der Billiglohnarbeit der urbanisierenden Bauern von China, Indien, Brasilien usw. superreich geworden sind. Diese Leute "leben im Stil einer plutokratischen Pracht des 21. Jahrhunderts, eine Pracht, die sogar Rockefeller und Carnegie geblendet hätte." Für diese Raubritter seien diese Dekaden das neue goldene Zeitalter ("the new gilded age"). Freeland stellt auch fest, dass dieser von den Raubrittern ermöglichte Übergang zum neuen Zeitalter auch vielen Millionen Menschen – besonders in den BRICS-Ländern – den Aufstieg in die Mittelschicht ermöglicht und Hunderte von Millionen von Armut befreit. Sie erwähnt zwar auch die "Belastungen und Konflikte", die aus diesem Prozess resultieren ("Jede Veränderung ist hart", sagt sie). Aber "schließlich wird die Menschheit prosperieren. … Der Kapitalismus wirkt ", zitiert sie übereinstimmend John van Reenan, den Chef des Center for Economic Performance am London School of Economics. Allerdings, anders als Rürup und Heilmann, denken Freeland und Reenan, dass es mittelfristig, d.h. etwa 30 oder 40 Jahre lang, "große Erschütterungen" geben könnte, bevor die Menschheit prosperiert.
Die großen Erschütterungen, die Freeland und Reenan voraussehen, sind schon längst im Gange. Hier nur einige Beispiele aus den BRICS-Ländern: In China, dem erfolgreichsten unter diesen Ländern, brodelt es seit etlichen Jahren. In der mehrheitlich von den muslimischen Uighuren bewohnten Provinz Xinjiang kommt es immer wieder zu blutigen Aufständen gegen die Dominanz der Han-Chinesen. Gegen dasselbe Übel kämpfen in Tibet buddhistische Mönche mit dem Mittel der Selbstverbrennung. Aber nicht nur die Minderheiten, selbst Han-Chinesen gehen oft auf die Barrikaden. Überall gibt es spontane Protestdemos, nicht immer gewaltlos, gegen verschiedenerlei Missstände, behördliche Willkür, Unterdrückung und Ungerechtigkeiten – fast 500 täglich.
Auch in Indien gibt es ethnische und interreligiöse Konflikte (wie z.B. neulich im Bundesland Assam). Migranten aus unterentwickelten Bundesländern in ein entwickelteres Bundesland werden oft verfolgt (z.B. im Bundesland Maharashtra), weil sie den Einheimischen Jobs wegnehmen.
In der Südafrikanischen Republik, seit einiger Zeit auch ein BRICS-Land, wächst die Wut der schwarzen Unterklasse gegen den herrschenden ANC und deren Führungsschicht. Mitte August dieses Jahres wurden dort 34 streikende schwarze Bergarbeiter eines Platin-Bergwerks von der Polizei erschossen.
Aber nicht nur in den BRICS-Ländern und der übrigen Dritten Welt, sondern auch in den entwickelten Ländern gibt es seit einigen Jahren große Erschütterungen. Die Krise in der EU (insbesondere die in der Eurozone) und die gewalttätigen Demos in Griechenland, England und Spanien sind nur ein paar Beispiele davon. In Bezug auf die nicht enden wollende Krise in den USA redet man schon von einem "Hoffnungsdefizit".
Für Prinzip Hoffnung habe ich viel Verständnis. Ohne Hoffnung ist es sehr schwer zu leben. Aber muss die Hoffnung so eine krude sein, "fette Jahre", glänzende Zukunft, "gilded age" der Raubritter? Wir müssen realistisch sein, um die Hoffnung auf eine bessere Welt halbwegs Wirklichkeit werden zu lassen. In materieller Hinsicht kann die Welt nicht mehr prosperieren, denn da gibt es die Grenzen des Wachstums. Aber in Hinsicht auf zwischenmenschliche Beziehung und Frieden zwischen den Völkern könnte noch viel mehr erreicht werden.

Donnerstag, 16. August 2012

Was ist eine Zeit des Umbruchs?
Und was ist eine Systemkrise?

Richard David Precht ist 47 Jahre jung. Er ist Professor, Autor von mehreren Bestsellern und zur Zeit wahrscheinlich der bekannteste Philosoph in Deutschland. Er wird sehr oft zu den Talkshows im deutschen Fernsehen eingeladen. Er ist auch ein sehr populärer Philosoph. Seine Bücher über lebensphilosophische Themen sind auch Otto Normalbildungsbürger verständlich. Und demnächst wird er noch bekannter werden. Im ZDF wird er nämlich eine neue Gesprächsreihe über (bestimmt) seriöse Themen moderieren.
Neulich las ich ein Gespräch, das ein Journalist des Kölner Stadtanzeigers mit ihm führte (KStA, 13.08.12). Es interessierte mich, weil, erstens, ich mich für populäre Philosophie interessiere und, zweitens, weil Precht ein Image als Weichspüler hat. Philosophen sind im allgemeinen tiefgründig denkende Menschen. Ich wollte wissen, warum ein populärer Philosoph so ein negatives Image hat.
Am Anfang findet man eher mutige Äußerungen, mit denen ich sympathisiere. Precht kritisiert das "Literatursyndikat um Grass, Jens, Walser. Lenz und andere …, das einer ganzen Generation von Autoren den Erfolg blockiert hat.". "Das andächtig-vollmundige Lob auf diese Herren" findet er "kitschig, wirklich kitschig". Die Verehrung für solche alten berühmten Schriftsteller sowie für alte Politiker wie Helmut Schmidt, Richard von Weizsäcker, Heiner Geißler und Hildegard Hamm-Brücher, die er pauschal "Großweise" nennt, findet er eine "in Ehrfurcht erstarrte Haltung". Das ist richtig gut. Vor allem der Großweise Helmut Schmidt, der wegen seines viel zitierten zynischen Spruchs "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen" immer noch berühmt ist. Den kann ich auch nicht leiden. Und der Großweise Heiner Geißler, der viele Jahre lang Helmut Kohls Politik nicht nur mitgemacht, sondern auch öffentlich verteidigt hatte, begann nach seiner Pensionierung, den Turbokapitalismus zu kritisieren und wurde Mitglied des Attac. Was soll man zu solchen Leuten sagen?
Dann kommt aber die große Enttäuschung. Precht sagt: "Wir leben in einer Zeit des Umbruchs". Das klingt zunächst wunderbar. Aber was für ein Umbruch ist das? Precht sagt, dieser sei nicht aus Not geboren, sondern er sei "Folge einer technischen Erneuerung". "Das Internet und die sozialen Netzwerke züchten Menschen, die ihre Meinung sagen." Schon bei dem Wort "züchten" sollte man alarmiert sein. Internet et cetera züchten Menschen? Drei Tage zuvor hatte ich, ebenfalls in Kölner Stadtanzeiger (10.08.2012), ein Gespräch mit dem Psychiater und Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer gelesen, mit dem ein paar Tage später auch der TV-Sender 3Sat ein Gespräch führte. Prof. Spitzer hat neulich ein Buch veröffentlich, dessen Titel "Digitale Demenz" die Alarmglocken läuten lassen. Er sagt, kurz gefasst, zu viel Konsum und Gebrauch von den neuen digitalen Medien Menschen, besonders Schüler und junge Menschen, verblödet. Sie verlernen das Denken, was im Alter früh und leicht zur Demenz führt.
Precht aber wertet diese Entwicklung durchaus positiv. Er sagt, die heutige Erziehung (er redet hier nur über die reichen Länder) bringe "selbstbewusste Kinder hervor, die schon mit zwei Jahren gefragt werden, ob sie lieber Vanille- oder Schokoladenpudding möchten. Diese Möglichkeit zur Selbstbestimmung wollen sie später als Jugendliche und Erwachsene nicht mehr abgeben. Das ist die Grundintuition der Piraten: Wir brauchen keine repräsentative Demokratie, denn was ich zu sagen habe, will ich selber sagen."
Selbstbestimmung und selber sagen wollen, auch das klingt gut. Aber haben die Piraten überhaupt etwas zu sagen? Sie lassen sich in die Parlamente wählen. Aber zu den Problemen des Landes, geschweige denn zu den Problemen der Welt, haben sie und ihre Wähler nichts zu sagen. Das ist leicht zu verstehen. Sie haben ja bisher über nichts nachgedacht. Ihr gemeinsamer Nenner ist ihre Liebe zum Computer und Internet. Und sie sind ständig beschäftigt mit diesen Instrumenten. Ihre Hauptforderung ist das Recht auf kostenloses Herunterladen von allem, was im Internet zu finden ist. Prof. Spitzers These ist bestätigt.
Aber Precht hält diese Entwicklung für einen "Umbruch", in positivem Sinne. Er versteht diese Lage sogar als "im Kern eine Systemkrise". Versteht er überhaupt, was eine Systemkrise ist? Oder will er den Begriff bewusst weichspülen?
Ohne Zweifel gibt es eine Systemkrise – nicht nur in Deutschland und der EU, sondern in der ganzen Welt. Aber das System, das in der Krise ist, ist nicht, wie Precht denkt, die repräsentative Demokratie, sondern der Kapitalismus. Selber sagen wollen ist in den repräsentativen Demokratien überhaupt kein Problem, Das ist schon längst ein Bestandteil solcher Demokratien und ist in deren Verfassungen fest verankert. Auch Selbstbestimmung ist da kein Mangelware. Selbst der Lissabonner Vertrag durfte von dem irischen Volk abgelehnt werden. Und Finanzminister Schäuble schlägt vor, dass das deutsche Volk selbst bestimmen soll, ob Deutschland seine Wirtschafts- und Finanzsouveränität an die EU abgeben sollte.
Die Europäer, die in der heutigen Krise am meisten leiden, sind gerade die jungen Leute, die als zweijährige zwischen Vanille- und Schokoladenpudding wählen durften. In Spanien sind über 40 Prozent der 15- bis 24jährigen ohne Arbeit. In Deutschland ist die Lage sehr viel besser. Dennoch demonstrieren hier Tausende von jungen Leuten gegen den Kapitalismus und entwickeln Visionen einer solidarischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die ohne den Profitmotiv und ständiges Wachstum funktionieren kann.
Philosophen sollten eher über diese Lage der gegenwärtigen Welt nachdenken und den Übergang zu einer besseren vorbereiten.

Donnerstag, 19. Juli 2012

Ökonomik oder politische Ökonomie?

In einem früheren Blog-Text (29.04.2012) habe ich kritisch über ein Memorandum von über 100 Wirtschaftswissenschaftlern berichtet, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Wirtschfts- und Finanzkrise von einer Krise ihrer Wissenschaft redeten. Inzwischen hat die erstere Krise zu einem großen öffentlichen Streit unter den deutschen Wirtschaftswissenschaftlern geführt. Es geht dabei um die beste Politik für die Rettung des Euro und für die Überwindung der Krise in der Eurozone. Aber da ist guter Rat teuer Einen Streit über die richtige Politik in der Krise gibt es auch in den USA. Aber in Deutschland tobt er zur Zeit am heftigsten. 190 Wirtschaftswissenschaftler haben die jüngsten Entscheidungen der deutschen Bundesregierung bezüglich der Eurokrise heftig kritisiert. Und etliche andere haben ihren Kritiker-Kollegen widersprochen – teils mit scharfen Worten (z.B. "beschämend"). All das macht es notwendig, zum Thema Krise der Wirtschaftswissenschaft noch etwas zu sagen.
Warum haben es die Wirtschaftswissenschaftler so schwer? Die Naturwissenschaftler – zum Beispiel Physiker und Astronomen – sind nie zerstritten. Ihre Streite sind meist nur Wissenschaftsstreite über unterschiedliche Erklärungen für beobachtete Phänomene. Sie werden über kurz oder lang entschieden. Auf der Praxisebene schafften sie es sogar, auf der Grundlage ihres Wissens, Menschen mehrere Mondlandungen zu ermöglichen. Aber die Wirtschaftswissenschaftler haben es immer noch nicht geschafft, die Menschheit von der Plage regelmäßig wiederkehrender Krisen zu befreien. Bundestagspräsident Norbert Lammert stellte neulich fest "Von allen denkbaren Verfahren in der Bewältigung dieser Krise … ist das am wenigsten taugliche die Umsetzung von Expertenempfehlungen gewesen" (SZ, 9.7.12) Woran liegt es? Kann es sein, dass, was die praktische Relevanz betrifft, die Wirtschaftswissenschaft, im Unterschied zur Wirtschaftsstatistik, eigentlich keine allzu ernstzunehmende Wissenschaft ist?
Als ich in Indien Student war, wurde das Fach sowohl "political economy" als auch "economics" genannt. Auf Deutsch hieß es "politische Ökonomie", "Nationalökonomie" oder "Volkswirtschaftslehre". Die Vokabeln "politisch", "national" und "Volk" deuteten klar an, dass das Fach zu den Sozialwissenschaften gehörte, dass es keine exakte, etwa mit Physik vergleichbare Wissenschaft war. Damit waren die Wirtschaftswissenschaftler aber nicht zufrieden. Sie versuchten sehr früh, ihre Wissenschaft in die Nähe der Naturwissenschaften zu bringen und ihr universelle Gültigkeit beizumessen. Schon Prof. Marshall sprach von "hoher und transzendentaler Universalität" der Grundprinzipien der Ökonomik. Er behauptete, diese wären auch in "anderen Welten als der unsrigen" relevant – Welten, in denen es keinen Reichtum im gewöhnlichen Sinne gibt. Und Prof. Samuelson war überzeugt, dass das Model eines rational wirtschaftenden Homo Oeconomicus sogar in einer Kolonie von Bienen seine Gültigkeit hat. (1)
Sie führten neue Bezeichnungen ein: "economics", "Ökonomik" (wie physics, Physik), "Wirtschaftswissenschaft", "economic science". Sie begannen sich anders zu bezeichnen: "economist" (statt "political economist"), "Ökonom" (wie Astronom, statt "Nationalökonom" oder "Volkswirt"). Diese Bezeichnungen erweckten den Eindruck, das Fach sei eine richtige, exakte Wissenschaft wie z.B. Physik, Mathematik, Mechanik oder Astronomie. Die hochgradige Mathematisierung des Faches half dabei kräftig, verlieh ihm die Aura der exakten Naturwissenschaften. Es wurde später auch noch ein "Nobelpreis" dafür geschaffen. So konnten die Ökonomen bis vor dem Ausbruch der gegenwärtigen Krise glauben und uns glauben machen, dass dank ihrer Wissenschaft eine ernsthafte große Wirtschaftskrise nicht mehr möglich sei. Aber schon die Stagflation der zweiten Hälfte der 1970er Jahre, die große Asienkrise von 1997-1998, der Wirtschaftszusammenbruch in Argentinien im Jahre 2001 und einige andere mittelschwere Krisen hatten die Ökonomen blamiert, bevor 2008 ihre Wissenschaft in die gegenwärtige Krise geriet.
Es liegt auf der Hand, dass der genannte Versuch der Wirtschaftswissenschaftler nicht ganz gelingen konnte. Anders als Atome, Moleküle und Himmelskörper, können sich wirtschaftende Menschen unberechenbar verhalten. Menschliche Faktoren wie Erwartung, Optimismus, Pessimismus, Angst, Panik, Herdentrieb, kurz Psychologie, spielen im Wirtschaftsgeschehen sehr wichtige Rollen. Darum ist ja Ökonomik eine Sozial- oder Humanwissenschaft.
Aber sie ist nicht nur das. Sie hat auch sehr viel mit Sachen zu tun, die in den Bereich der Naturwissenschaften fallen. Das Wirtschaften – Produktion, Konsumption und Handel – erfordert Sammeln, Verbrauch und Gebrauch von Rohstoffen bzw. Naturkräften. Es ist diese Tatsache – nicht ihre Mathematisierung und die Einführung von modischen Bezeichnungen –, die es erlaubt, die Ökonomik in die Nähe der Naturwissenschaften zu bringen, nämlich in die Nähe der Geologie, Mineralogie, Geographie, Chemie, Industriechemie, Metallurgie, Ingenieurwissenschaften, Biologie, Agrarwissenschaft, Meteorologie usw. Das Gesetz des abnehmenden Grenzertrags, zum Beispiel, gilt sicher auch für eine Gesellschaft von Bienen.
Vor über zwei hundert Jahren hatte Malthus politische Ökonomie schon mit der Agrarwissenschaft und Demographie in Verbindung gebracht. 1966 beschrieb Kenneth Boulding den Unterschied zwischen der Raumschiffökonomie und der Cowboy-Ökonomie. 1971 erklärte Nicholas Georgescu-Roegen die Relevanz des Entropiegesetzes für den Wirtschaftsprozess. Und 1972 zeigte der Meadows-Bericht, warum es eine natürliche Grenze des Wirtschaftswachstums geben muss. Diese Arbeiten summierten sich zu einer Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels in der Ökonomik: von dem Wachstumsparadigma zu dem Grenzen-des-Wachstums-Paradigma (wie ich es nenne). Aber das Gros der Wirtschaftswissenschaftler haben diesen Paradigmenwechsel immer noch nicht vollzogen.
Eigentlich kann man die Ökonomik sehr gut mit einer Naturwissenschaft vergleichen, nämlich mit der Meteorologie. In den beiden Wissenschaften ist es sehr schwierig, zukünftiges Geschehen zu prognostizieren. Im Falle der Meteorologie kann eine plötzliche Eruption auf der Sonnenoberfläche (oder, nach einem berühmten Witz, ein Flügelschlag eines Schmetterlings im Golf von Bengalen) die ganze Wettervorhersage der Meteorologen durcheinander bringen. Im Falle der Ökonomik kann ein irrationaler Panikanfall eines Spekulanten am Wallstreet einen riesigen Börsencrash und die nachfolgende Wirtschaftskrise auslösen.
(1) Für beide Beispiele siehe: Narindar Singh (1976) Economics and the Crisis of Ecology. Bombay usw.: Oxford University Press (S. 113 u. 118).

Freitag, 29. Juni 2012

Wie mächtig ist Indien wirklich?

Indien ist in jeder Hinsicht ein wichtiges Land. Und ich bin Inder, auch was die Staatsangehörigkeit betrifft. Darum bin ich ein bisschen überdurchschnittlich interessiert an Nachrichten und Kommentare aus und über Indien. Aber ich gebe mir Mühe, diese im Kontext des Weltgeschehens zu lesen. Neulich las ich in einem editorischen Kommentar über das magere Ergebnis des Rio+20-Gipfels Folgendes: "Was hatten die Europäer doch schöne Ziele. Eine eigene Umweltbehörde der Vereinten Nationen. Feste Vorgaben für eine nachhaltige Entwicklung. Klare Zuständigkeiten, klare Absprachen – nichts davon haben sie … in Rio erreicht. Die neuen Mächtigen dieser Welt hatten etwas dagegen: Brasilien, Indien, China. … Für Europa ist Rio zur Demonstration der eigenen Ohnmacht geworden." (Süddeutsche Zeitung, 25.06.12).
Als ich dies las, fragte ich mich: soll ich jetzt ein bisschen stolz sein? Ist Indien mächtig geworden? Das ist Unsinn. Eine globale Vereinbarung verhindern zu können, ist kein Beweis von Macht, sondern von Ohnmacht. Wo die Zustimmung aller Länder notwendig ist, kann auch ein kleines, schwaches Land etwas leicht verhindern. Ein Beweis von Macht wäre, wenn Indien etwas Positives hätte durchsetzen können. So gesehen, sind in der Weltumweltpolitik nicht nur die Europäer ohnmächtig, sondern alle, inklusive Indien.
Die angebliche Macht von Indien, China und Brasilien besteht in ihrer rasanten wirtschaftlichen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten. Diese Macht aber befähigt sie zu nichts Positivem. Im Gegenteil. Sie sind alle in der Defensive. Denn der neue Wohlstand ihrer jeweiligen Mittelschicht ist und wird auf Kosten der Umwelt erreicht – in viel höherem Grade als in Europa und Nordamerika. Sie werden deswegen auch international massiv kritisiert. Aber sie sind bereit, diese Kosten und auch die Kritik in Kauf zu nehmen, denn sie sehen keinen Weg, auf dem sie ihre Wirtschaft ökologisch nachhaltig entwickeln könnten. Gerade kurz vor der Rio+20-Veranstaltung hat das brasilianische Parlament durch ein neues Gesetz den Schutz der Amazonas-Regenwald gelockert. Es darf demnächst, wenn die Präsidentin ihren milden Widerstand aufgegeben hat, mehr vom Amazonas-Regenwald zerstört werden als bisher.
Anders als Brasilien ist Indien ein schon übervölkertes Land. Die Landfläche Indiens beträgt nur etwa 38% von der Brasiliens, und da leben heute über 1,2 Milliarden Menschen (in Brasilien etwa 190 Millionen). Nach der jüngsten Volkszählung (2011) wuchs die Bevölkerung Indiens im letzten Jahrzehnt jährlich durchschnittlich um 1,7%. Das heißt, gegenwärtig wächst die Bevölkerung jährlich mindestens um 18 Millionen. Premierminister Singh sagte neulich, Indien müsse jedes Jahr 8 bis 10 Millionen neue Jobs schaffen. Wie soll da weitere Entwicklung nachhaltig sein? Wie soll da die 250 bis 300 Millionen starke Mittelschicht ihren Wohlstand aufrecht erhalten, gar mehren, um die euro-amerikanische Mittelschicht einzuholen, ohne fortwährend die Umwelt zu degradieren?.
Das Perverse an dieser Bevölkerungsentwicklung ist, dass, während der Staat ohnmächtig dieser Entwicklung gegenübersteht, sich manche Denker der Mittelschicht und der Wirtschaftselite über diese Entwicklung, die sie eine "demographische Dividende" nennen, freuen. Klar, für sie bedeuten mehr Menschen mehr spottbillige Arbeitskräfte und mehr Konsumenten.
Aber trotz dieser aus ihrer Sicht positiven Entwicklung, ist neulich für die indische Wirtschaft eine schlechte Zeit angebrochen. Nach Medienberichten ist die Zeit der glorreichen Wachstumsraten der letzten Jahre (8 bis 9%) jäh zu Ende gegangen. Im letzten Jahr betrug die Wachstumsrate nur 6.5%. Im ersten Quartal dieses Jahres fiel sie weiter auf 5,3%. Indiens Währung, die Rupie, verliert an Wert gegenüber dem Dollar, Investitionen fallen, Inflationsrate steigt, und allerlei Defizite erodieren die Staatskasse (SZ/NYT., 11.06.12). Ausländische Investoren ziehen ihr Geld zurück. So könnte Indien seinen Status als G-20-Mitglied verlieren(BBC). Auf die Benzinpreiserhöhung im Mai dieses Jahres reagierte die Bevölkerung wütend. Sogar in der Hauptstadt Neu Delhi herrscht akuter Wassermangel. Eine Mafia kontrolliert das Geschäft mit Wasser. Das Bundesland West Bengalen, dessen Hauptstadt Kalkutta ist, hat große Mühe, die Gehälter seiner Angestellten zu zahlen. Es sitzt auf einem großen Schuldenberg und macht immer neue Schulden. Folglich wird West Bengalen das Griechenland Indiens genannt.
Aufgrund dieser wirtschaftlichen Schwäche kann sich Indien keine Wohltaten für die Umwelt leisten. Aber auch China und Brasilien nicht. Auch Chinas Wachstumsrate fällt, ihr Immobiliensektor verzeichnet einen Abschwung, die Exporte stagnieren, die Handelsbilanz verzeichnete zuletzt ein Minus. Auch Brasiliens Wirtschaft kühlt ab. Es ist halt so: entweder Wohlstand oder Umweltschutz. Beides können wir nicht haben.
Indien hat kaum Öl, aber eine große Bevölkerung. Wenn es einmal zum Klimaschutz einen weltweiten Emissionshandel gibt, bei dem alle Bürger der Welt eine gleiche Menge an Emissionszertifikaten zugeteilt bekämen, dann könnte Indien dadurch reich werden, dass es auf dem freien Weltmarkt viele Emissionszertifikate verkauft, wie heute z.B. Nigeria Öl verkauft. Für die große Mehrheit der Inder sehe ich keinen anderen Weg zum Wohlstand.

Freitag, 8. Juni 2012

Die Krise und der grüne europa-patriot Fischer

In meinem letzten Blog-Text "Wer kümmert sich um unsere Schulden bei der Natur" (29.05.12) habe ich darüber geklagt, dass zur Zeit auch die Grünen vehement einen Kurswechsel zur Wachstumspolitik fordern. Inzwischen ist es notwendig geworden, noch einmal etwas zu diesem Thema zu schreiben. Denn Joschka Fischer veröffentlichte am 4.06.12 in der Süddeutschen Zeitung einen Artikel mit dem feurigen Titel "Das europäische Haus steht in Flammen". Auch für seine Kritik an Frau Merkels Austeritätspolitik benutzt Fischer das Bild eines Brandes. Er schreibt, Feuerwehrfrau Merkel lösche mit Kerosin.
Zwei Sachen sind gut an Fischers flammender Kritik. Es schien bis vor einigen Monaten, als wären die meisten Deutschen zufrieden mit dem Krisenmanagement ihrer Regierung. Im Vergleich zu den anderen großen Wirtschaften der EU ging es ja Deutschland glänzend. Durch seine hyperbolische Formulierung heizt Fischer jetzt auch hierzulande die Debatte über die Krise an. Und zweitens, anders als die meisten Deutschen denkt Fischer an ganz Europa, nicht nur an Deutschland.
Doch Fischers Argumente sind falsch. Für seine Kritik bemüht er die Wirtschaftsgeschichte. Er schreibt: Eigentlich sollte die Erkenntnis, "… dass eine solche Sparpolitik in einer großen Finanzkrise diese nur zur Depression verschärft," seit der Großen Depression der 1930er Jahre Allgemeingut sein. Die Sparpolitik von Hoover in den USA und Brüning in Deutschland waren damals tatsächlich ein falsches Rezept gegen die Krise. Woran aber Fischer nicht gedacht hat, ist, dass seit 1932 viel Wasser den Bach hinuntergeflossen ist. In den folgenden 80 Jahren haben Ökonomen viel Krisenforschung gemacht und viel über die Krisendynamik gelernt. Auch ist es Wirtschaftspolitikern – Keynesianern sowie Neoliberalen – bis 2007 immer gelungen, die kleinen und die paar großen Krisen zu überwinden. Aber diesmal gelingt das ihnen nicht, obwohl sie alles Erdenkliche versuchen. Warum?
Die Antwort ist ganz einfach. Vor 80 Jahren gab es noch sehr viel Potential für weiteres Wirtschaftswachstum. Darum gelang es Roosevelt mit seinem New Deal die Lage in den USA zu bessern, bis der Zweite Weltkrieg die Depression endgültig überwand. Darum gelang es auch Hitler, mit seinen Infrastrukturinvestitionen und Kriegsvorbereitungen Deutschland aus der Großen Depression zu führen. Später schaffte es eine Mischung von Kriegskeynesianismus und zivilem Keynesianismus, einen 25 Jahre dauernden "langen Boom" zustande zu bringen.
Dieses Potential scheint jetzt weitgehend erschöpft zu sein. Politiker konnten lange die 1972 vorausgesagten Grenzen des Wachstums ignorieren. Aber jetzt kommen die Warnungen von vielen Seiten wieder. Am 4.06.sagte sogar Martin Faulstich, der Vorsitzende des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) klar und deutlich: „In einer begrenzten Welt kann es kein unbegrenztes Wachstum geben“. Und am 5.06. sendete Arte in bester Sendezeit einen Dokumentarfilm, in dem sogar die ganze Fortschrittsidee in Frage gestellt wurde. Es war da von einer Fortschrittsfalle die Rede.
Zwar reden nicht alle Befürworter einer Neuauflage der Wachstumspolitik einfach vom Wachstum. Grüne im allgemeinen, aber auch viele andere, sprechen etwas differenzierter. Seit Anfang der gegenwärtigen Krise reden sie von einem Green New Deal. Grünes Wachstum. nachhaltiges Wachstum, ökologische Ökonomie und grüne Energie sind alte Parolen. Seit Fukushima gibt es auch die Parole Energiewende. Trotzdem stagnieren die Wirtschaften von Europa und den USA. Die Energiewende, die das Herzstück eines Green New Deals in Deutschland sein sollte, kommt nicht gut voran; sie kämpft mit vielen Problemen.
Der eigentliche Grund dafür hat der deutsche Wirtschaftsminister Rösler so formuliert: "Aus meiner Sicht fehlt in der energiepolitischen Debatte ein Stück weit Ehrlichkeit" Er nannte das EEG "ein reines Subventionsgesetz". (Online Focus, 5.06.2012).Woher sollen aber die Subventionen kommen, wenn die Wirtschaft stagniert und gerade die Hauptquelle des Reichtums der Industriegesellschaften, nämlich die fossilen Energien, ersetzt werden sollen durch die teuren erneuerbaren Energien? Inzwischen hört man, dass einige führende Unions- und FDP-Politiker zum Sturmangriff auf das EEG aufrufen. (Die Grünen, in DNR-Fachverteiler, 5.06.2012)
Fischer fordert "uneingeschränkter Kauf der Staatsanleihen der Krisenländer durch die EZB; Europäisierung der nationalen Schulden mittels Euro-Bonds, Wachstumsprogramme, um eine Depression in der Euro-Zone zu verhindern und Wachstum zu generieren." Er stellt sich die "wüste Polemik in Deutschland über ein solches Programm" vor und kontert: "… der Boom der deutschen Exportwirtschaft gründet genau auf solchen Programmen in den Schwellenländern und in den USA. Hätten China und die USA seit 2009 nicht massiv und teils schuldenfinanzierte Steuergelder in ihre Wirtschaften gepumpt, dann hätte es den Exportboom in Deutschland kaum gegeben."
Dieses Argument von Fischer ist unsinnig, auch wenn wir, um der Argumentation willen, annähmen, dass es in der Welt noch Potential für weiteres Wachstum gibt. Wenn die Krisenländer Griechenland, Portugal, Irland und Spanien neue Schulden machen, um ihre neue "Wachstumsprogramme" zu finanzieren (sie hatten doch vor 2008 auf diesem Wege viel Wachstum erzielt!), dann werden sie die Schulden haben, und die deutsche Exportwirtschaft wird boomen. Das wäre sicher gut für die deutsche Wirtschaft Aber wäre das auch gut für die Krisenländer? Das ist kein Europapatriotismus. Europapatriotisch wäre, wenn die Deutschen und die anderen Europäer bewusst bevorzugt Produkte der europäischen Krisenländer kaufen würden. Aber das wäre Planwirtschaft, verboten im neoliberalen globalisierten Kapitalismus.

Dienstag, 29. Mai 2012

Wer kümmert sich um unsere Schulden bei der Natur?

Spätestens seit Francois Hollande Präsident von Frankreich geworden ist, steht Medienberichten zufolge Frau Merkel, die Eiserne Lady mit ihrer strengen Sparpolitik, in der euro-amerikanischen Gemeinschaft ziemlich isoliert. Da diese Politik bisher keinen Erfolg gezeitigt hat, da, im Gegenteil, die Wirtschaften der EU-Länder weiter an Rezession bzw. Stagnation leiden und da außerdem einige der leidenden Völker Widerstand gegen diese Politik leisten, heißt es nun überall, zur Bewältigung der Krise genüge Sparen nicht. Die Wirtschaft müsse auch wachsen, damit der Staat mehr Steuer einnehmen könne. Sonst könne auch der Haushalt nicht saniert werden. Die Argumente der Gegner der Sparpolitik scheinen zu greifen. Da sie inzwischen auch einige für sie unangenehme Wahlergebnisse verkraften muss, zeigt sich Merkel ein bisschen kompromissbereit. Sie sagt: Wachstum ja, aber nicht auf Pump, denn das führe die EU zurück zu der Situation, in der die gegenwärtige Krise begann. Aber wie soll sonst wieder Wachstum bewirkt werden?.
Eine überzeugende Antwort auf diese Frage, habe ich bis jetzt nicht gehört. Die Wirtschaftspolitiker der Welt sind mit ihrem Latein am Ende. Kann es sein, dass es keine überzeugende Antwort auf diese Frage gibt? Da muss zuerst Klarheit über die Lage geschaffen werden..
Die EZB hat vor einiger Zeit eine riesige Menge neues Geld gedruckt – eine Billion Euro – und dieses ganz billig an europäische Banken geliehen. Diese haben mit dem Geld, wie es in den Medien heißt, zweierlei getan: (a) Sie haben neue Anleihen der Krisenländer gekauft, was von der EZB gewollt war. Wenn alles gut geht, werden die Banken mit diesem Geschäft sehr viel Profit machen. (b) Und sie haben das Geld gebunkert, damit sie bei Verschärfung der Bankenkrise den Bankrott abwenden können. Dieses neu gedruckte Geld ist, allgemein gesprochen, nicht in die Realwirtschaften der Krisenländer geflossen. Das ist das Geheimnis des Ausbleibens einer starken Inflation. Die Verbraucher wagen es nicht, einen Konsumentenkredit zu beantragen. Und Handel und Gewerbe haben Schwierigkeit, neue Kredite zu bekommen; die Banken haben Angst. Und auch das Geld, das die Krisenländer durch den Verkauf ihrer neuen Anleihen bekommen haben, ist nicht im Keynesschen Sinne ausgegeben worden. Die Regierungen haben mit diesem Geld nur die alten Schulden bedient. Wir sehen, trotz dieser riesigen Summe von neu gedrucktem Geld stagniert die Wirtschaft der EU, und eine neue Rezession ist prognostisiert worden. Wo soll also noch mehr Geld herkommen, das die Staaten in noch mehr Infrastrukturprojekte, in Bildung etc. investieren sollen, damit Arbeitsplätze entstehen? Steuererhöhung ist doch als Geldquelle ausgeschlossen!.
Ist es vielleicht so, dass kein Potential mehr für weiteres Wachstum existiert? In Spanien wurde kurz vor der Krise ein Flughafen gebaut, wo keine Maschine abflog. In Irland, Spanien und England wurden Häuser und Wohnungen gebaut, die wegen ihrer zu hohen Kosten keinen Käufer oder Mieter fanden. In der aufstrebenden Wirtschaftsmacht Indien ist wegen zu hohem Preis von Flugkerosin eine große Fluggesellschaft pleite gegangen. Auch um Löcher im Boden zu graben und sie wieder zuzuschütten, muss ein Staat Geld leihen, das er später nicht wird zurückzahlen können. Wie kann dann die Konjunktur wieder angekurbelt werden?.
Was mich sehr erstaunt, ist, dass jetzt auch die deutschen Grünen ins gleiche Horn stoßen wie Hollande und die deutschen Sozialdemokraten. Sie fordern einen Politikwechsel zur Wachstumsförderung. Dabei stand bei der Gründung ihrer Partei Wachstumskritik an der ersten Stelle ihrer Programmatik. Da war die Rede von sparsamem Umgang mit Ressourcen. Alles vergessen. Ökologie vergessen, zukünftige Generationen vergessen, Arme unterentwickelte Länder vergessen. Wachstum ist das neue Mantra der Grünen..
In der grünen Literatur der 1980er Jahre habe ich oft von "unseren Schulden bei der Natur" gelesen. Oft war auch die Rede davon, dass wir auf Kosten der künftigen Generationen leben. Wie sollen unsere Schulden bei der Natur reduziert werden, wenn wir immer mehr in Infrastrukturbau investieren? Solche Schulden steigen doch mit jeder solcher Investition..
Merkel ist keine Grüne, und sie will auch keine sein. Aber ihre Sparpolitik ist ein Stück echt grüne Politik, obwohl sie das nicht weiß. Ich wünsche ihr viel Erfolg dabei. Das Problem der Arbeitslosigkeit kann auch anders gelöst werden als durch Wachstum. Das ist in Deutschland vorexerziert worden. 2009, im schlimmsten Krisenjahr mit einer Rezession von -5%, wurde Kurzarbeit eingeführt, und so mussten viel weniger Arbeiter entlassen werden, als gefürchtet wurde. Dieses Beispiel könnte als eine generelle Arbeitsmarktpolitik adoptiert werden – in einer Zeit, in der die Grenzen des Wachstums spürbar geworden sind. Auch von Hollande könnte Merkel etwas übernehmen. Ihm folgend könnte sie ihr eigenes Gehalt und das ihrer MinisterkollegInnen um 30% kürzen. Das würde ihre Glaubwürdigkeit in Griechenland und Spanien verbessern.

Mittwoch, 21. März 2012

Öl oder Bücher?

Schon seit langem hören wir gelegentlich vom "Fluch des Öls". Was man damit ausdrücken will, ist dreierlei. Erstens will man damit auf die bekannten Konflikte unter Nationalstaaten hinweisen, die unvermeidlich bei der Verfügung über diese wertvolle Ressource entstehen. Man denke an die Machenschaften der USA in den 1950er Jahren, um den damaligen iranischen Premierminister Mosaddeq zu Fall zu bringen. Man denke an den Irak-Krieg und den Konflikt zwischen Großbritannien und Argentinien über die Falklandinseln im Südatlantik. Zweitens will man damit auf die oft bewaffneten Konflikte innerhalb eines Nationalstaates hinweisen, bei denen es um die Verteilung des Einkommens vom Ölreichtum der Nation geht – zum Beispiel in Nigeria und in Sudan, wo es zu einem regelrechten Bürgerkrieg kam.
Die dritte Bedeutung des Ausdrucks ist sehr viel anders als die ersten zwei. Man will sagen, dass Länder, die viel Öl oder andere hochwertige Ressourcen haben, in punkto wirtschaftliche Entwicklung zurück bleiben. Dieser vermutete Zusammenhang wird dadurch erklärt, dass sowohl die führende Klasse als auch das Gros der Bevölkerung dank den üppigen Einnahmen vom Rohstoffexport bequem leben können. Infolgedessen fehlt ihnen der Antrieb zur harten Arbeit für wirtschaftlichen Entwicklung. Es werden Beispiele gegeben, die, oberflächlich gesehen, überzeugen: Die ölreichen Staaten wie Saudi Arabien, Kuwait, Venezuela usw. und das diamantenreiche Botswana sind Beispiele für die These. Wirtschaftlich erfolgreiche Länder wie Japan, die asiatischen Tiger der 80er bis 90er Jahre, Israel usw. haben keinen bzw. wenig Ressourcenreichtum, von dem sie gut leben könnten. Auch die heutigen aufstrebenden Wirtschaftsgiganten China und Indien haben wenig Rohstoffe zu exportieren.
Thomas Friedman, Kolumnist der New York Times, schrieb kürzlich (NYT in SZ, 19.3.2012) über Israel: "Israel hat eine der innovativsten Wirtschaften, und seine Bevölkerung genießt einen Lebensstandard, den die meisten ölreichen Länder der Region nicht anbieten können." Er erklärt dieses Phänomen so: "Taiwan hat seine 23-Millionen-Bevölkerung miniert, ihre Talente, Energie und Intelligenz – Männer und Frauen." Das Land habe kein Öl, kein Eisenerz, keine Wälder, keine Diamanten, kein Gold, nur einige wenige Kohle- und Erdgasvorkommen. Darum hat es "die Gewohnheit und Kultur entwickelt, die Fähigkeiten des Volkes zu schleifen, die eigentlich die wertvollste und die einzige echt erneuerbare Ressource der Welt sind."
So was Ähnliches haben wir sehr viel früher auch in Deutschland gehört. Schon 1989 schrieb ein Autor namens Herman Laistner, Deutschland werde – dank der überlegenen "grauen Hirnzellen" seiner Wissenschaftler, Techniker und Ingenieure – den entscheidenden Markt erobern, nämlich den für "besonders 'intelligente' Produkte" sowie technologisch hochstehende Maschinen und Fertigungserzeugnisse. Den Markt für "Massenwaren" und "minderwertigen Ramsch" möchte er "anderen überlassen".
Solche Gedanken implizieren, als wären das Bildungs- und Ausbildungsniveau, Talent, Intelligenz, Fleiß und Fertigkeiten die einzige Quelle des wirtschaftlichen Erfolgs und Wohlstands einer Nation. Ein solches Denken führte auch dazu, dass man seit einiger Zeit von Wissensgesellschaft und "knowledge-based economy" redet.
Friedman nennt solche Sachen Ressourcen. Das ist aber falsch.
Das sind keine Ressourcen. Ressourcen sind eigentlich fruchtbarer Boden, Süßwasser und die Sonnenstrahlung, Arbeitskraft von Tieren, Energiequellen wie Holz, Kohle, Öl und Gas, Grundstoffe wie Metalle, seltene Erden und andere chemische Substanzen. Ohne diese kann ein noch so intelligentes und hoch ausgebildetes Volk nichts schaffen.
Natürliche Intelligenz und Talente sind unter den Völkern gleichmäßig verteilt, und sie sind tatsächlich erneuerbar, weil sie mit den Genen den Nachfahren weitergegeben werden. Auch Bildung und Ausbildung können überall organisiert werden, wenn genug Ressourcen da sind. Die wirklichen Ressourcen sind aber unter den Völkern sehr ungleichmäßig verteilt. Darum entstand ja die Notwendigkeit von internationalem Handel. Friedman schrieb, Taiwan müsse sogar Sand und Kies für Häuserbau von China importieren.
Zudem sind die für eine Industriegesellschaft wichtigsten der oben genannten Ressourcen, die fossilen Energiestoffe, knapp und nichterneuerbar. Auch die Metalle, erst recht die seltenen, sind schwer recyclebar. Nicholas Georgescu-Roegen nannte sie "die begrenzte Mitgift", die wir einmalig von Mutter Natur bekommen haben.
In der kapitalistischen Weltordnung sind die Völker ungleich situiert. Sie haben sich geschichtlich unterschiedlich entwickelt. Das ist auch der Grund dafür, dass das ressourcenarme Taiwan heute ein wohlhabendes Land ist, während, zum Beispiel, das ölreiche Nigeria an Armut und Chaos leidet. Wenn wir aufhören, die Völker der Welt im einzelnen zu betrachten, und sie stattdessen als eine Menschheit ansehen, dann ergibt sich ein anderes Bild. Alle Völker der Welt können nicht reich werden, weil ja die wertvollen Ressourcen knapp und nichterneuerbar sind. Sie könnten aber miteinander in Frieden leben, wenn die Jagd nach Macht und Reichtum aufhören würde.

Montag, 13. Februar 2012

Eine stagnierende Ökonomie ist eine gute Ökonomie
eine schrumpfende wäre eine bessere

Neulich las ich ein paar interessante Zeitungsartikel über die wirtschaftliche Lage in Japan. Wie meine Leser wohl wissen, gilt Japan in Ökonomenkreisen als der gefallene Riese. Die neunziger Jahre und die danach galten als die "verlorenen Jahrzehnte", Jahre der Stagnation. Auch die heutige Lage ist düster: die Staatsverschuldung beträgt 220 Prozent des BIP. Trotz Zinssätzen von unter einem Prozent braucht der Staat ein Viertel seiner Einnahmen für den Schuldendienst. Es gibt wenig Hoffnung, dass das Land die Misere durch Wirtschaftswachstum überwinden könnte. Seine Bevölkerung schrumpft und altert. Sie wird künftig weniger konsumieren usw. Nach Erdbeben, Tsunami und Fukushima ist die Lage noch schlimmer geworden. 2011, zum ersten Mal in 30 Jahren, verzeichnete das Land eine negative Handelsbilanz. Ein CNN-Kommentator beschrieb Japan als "ein sehr demoralisiertes Land", es sei wirklich zurückgeworfen worden.
Einer der Artikel (New York Times in SZ, 23.1.2012) aber widerspricht dieser Lagebeschreibung. Der Autor Eamonn Fingleton nennt sie "einen Mythos". Er behauptet, in vieler Hinsicht habe die japanische Wirtschaft in den so genannten verlorenen Jahrzehnten sehr gut abgeschnitten, in einiger Hinsicht sogar besser als die USA und Westeuropa.
Fingleton argumentiert unkonventionell. Als Beleg für seine Behauptung verweist er auf einige Errungenschaften, die wenig zu tun haben mit den gewöhnlichen Wirtschaftsindikatoren. Obwohl das BIP pro Kopf in den Jahren seit 1989 durchschnittlich nur um 1 Prozent wuchs, und obwohl weder die Immobilienpreise noch die Aktienkurse zur gleichen Höhe zurückkehrten wie in den Jahren vor dem Crash von 1990, konnte Japan seinen Bürgern, so behauptet Fingleton, einen immer besseren Lebensstil bescheren. Als Errungenschaften nennt er zwar ein paar belanglose Sachen wie die Anzahl von neu gebauten Hochhäusern, die Anzahl von Städten mit schnellstem Internetdienst, den steigenden Wechselkurs des Yen, und den Leistungsbilanzüberschuss. Aber als Errungenschaft nennt er auch die Tatsache, dass zwischen 1989 und 2009 die Lebenserwartung von 78,8 auf 83 Jahre gestiegen ist, was auf bessere Gesundheitsfürsorge zurückzuführen ist. Aber der stärkste Beleg für die Überlegenheit der japanischen Wirtschaft gegenüber denen anderer Industrieländer ist die sehr niedrige Arbeitslosenquote von 4,2 Prozent.
Ich halte die Betonung dieser zwei qualitativen Aspekte der Wirtschaftsentwicklung für einen Lichtblick in der Publizistik. Hinter dem scheinbaren Paradox von einer sehr niedrigen Arbeitslosenquote in einer stagnierenden Wirtschaft liegt eine soziale Errungenschaft. Aus institutionellen/kulturellen Gründen ist es in der japanischen Wirtschaft nicht so leicht bzw. nicht üblich, Beschäftigte bei Rückgang in Produktion oder Umsatz sofort zu entlassen. Es gibt da die Tradition der lebenslangen Beschäftigung bei derselben Firma. Bei großen Konzernen gilt diese Tradition vielleicht nicht mehr, oder nur begrenzt. Aber die Arbeitslosenquote zeigt, dass sie noch immer gilt.
Nach Lektüre dieser positiven Bewertung der Lage in Japan könnten sich Menschen mit der Idee einer Postwachstumsökonomie anfreunden. Man könnte denken, so schlecht kann es also nicht sein, wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst. Aber nicht so schnell! Wir dürfen nicht vergessen, dass Japan, und auch Deutschland, wo zurzeit sehr viel über ein Szenario jenseits des Wachstums geredet wird (besonders in Attac-Kreisen), schon eine sehr hohe Stufe der wirtschaftlichen Entwicklung erreicht haben. In unterentwickelten Ländern, selbst in Schwellenländern wie Indien und China, kann man nicht so einfach eine positive Einstellung zu einem wachstumslosen Wirtschaften einnehmen, zumal in solchen Ländern die Bevölkerungszahl stetig steigt, und zudem in manchen solcher Länder etwa 50 Prozent der Bürger unter 30 Jahre alt sind.
Die wirtschaftliche Stagnation in Japan ist nicht gewollt, genau wie die Stagnation im größeren Teil Europas nicht gewollt ist. Aber auch wenn sie nicht gewollt ist, sollten wir sie aus ökologischen und Ressourcen-Gründen begrüßen. Jedoch Stagnation auf hohem Niveau macht noch keine steady-state Ökonomie aus. Dazu gehört ein starkes Zurückfahren des Ressourcenverbrauchs und ein gewollter Rückgang der Bevölkerungszahl.
Werden die Protagonisten einer Postwachstumsökonomie in Europa (besonders Attac-Aktivisten) unmissverständlich für eine Wirtschaftsschrumpfung plädieren? Und werden die Umweltaktivisten in den Dritte-Welt-Ländern für eine Schrumpfung ihrer Bevölkerungszahl eintreten? Das wären zwei gute Anfangsbeiträge zur Transformation der gegenwärtigen Weltwirtschaft zu einer steady-state Weltwirtschaft.
Mit einer steady-state Wirtschaft muss die Gesellschaft nicht zu einer langweiligen, regressiven Gesellschaft werden. Dazu zwei Zitate:
Schon 1931 schrieb Keynes, dass er "…tief davon überzeugt ist, dass das ökonomische Problem … eine schreckliche Verwirrung ist. … . Die westliche Welt [hat] schon die Ressourcen und Technologien, die … in der Lage sind, das ökonomische Problem … zu einem Stellenwert sekundärer Wichtigkeit zu reduzieren." Er hoffte, dass "… die Arena des Herzens und des Kopfes von unseren wirklichen Problemen besetzt, oder wiederbesetzt, werden wird – von den Problemen des Lebens und der Verhältnisse der Menschen untereinander, der Schöpfung, des Verhaltens und der Religion." Man kann hier erkennen, was Keynes für die wirklichen Probleme der Menschheit hielt. Wirtschaftswachstum gehörte nicht zu ihnen.
Noch viel früher, im Jahre 1857, schrieb John Stuart Mill, dass "… ein Zustand konstanten Kapitals und gleich bleibender Bevölkerungszahl nicht mit einem stillstehenden Zustand menschlicher Erfindergabe gleichzusetzen ist. Es gäbe ebensoviel Spielraum für alle Arten geistiger Kultur, für moralischen und sozialen Fortschritt, genau so viele Möglichkeiten, die Lebensführung zu verbessern, und es wäre wahrscheinlicher, dass dies auch geschehen würde."

Sonntag, 22. Januar 2012

Noch einmal über "grüne Energie"

Ich verfolge die Debatte seit den frühen 1990er Jahren und bin immer noch nicht klüger geworden. In meinem Buch "Die nachhaltige Gesellschaft" (2001, Kapitel 4) habe ich gezeigt, wie unterschiedlich die Schätzungen der verschiedenen Forscher über die "Energierücklaufzeit" (auch "energetische Amortisationszeit" genannt) der Fotovoltaik-Technologie in den 1990er Jahren gewesen sind. Die Zahlenangaben stiegen stetig: von 1,2 Jahre (1991) bis 10 Jahre (1995), trotz aller technologischen Entwicklungen. Schwer zu erklären. Das heißt, es ist sehr schwierig, diesen Wert zu errechnen.
1996 schätzte der amerikanische Forscher Howard D. Odum (zitiert in Heinberg, 2004), die EROEI (energy return on energy invested, auf Deutsch: Verhältnis von gewonnener zu investierter Energie) von Windkraftanlagen sei 2. Das heißt für eine Einheit investierter Energie erntet man 2 Einheiten Energie. Das heißt, Nettoenergiegewinn in diesem Fall sei 1 Einheit. Jetzt höre ich von Georg Löser (in Greenhouse Infopool): "Die energetischen Amortisationszeiten [von Windkraftanlagen auf Land] liegen zwischen gut drei und sechs Monaten. Es ergeben sich daraus bei einer kalkulatorisch angesetzten Lebensdauer von 20 Jahren Erntefaktoren [EROEI] von etwa 70 für die große Anlage beziehungsweise 40 für die kleine."
Die Diskrepanzen sind so groß, dass man Zweifel haben muss. Offensichtlich gibt es keine Einigung unter Forschern über die Kalkulationsmethoden. Energiekosten (anders als Geldkosten) einer Energietechnologie von der Wiege bis zur Bahre zu errechnen, ist auch sehr schwierig. Die Kalkulation muss auf zu vielen unsicheren Annahmen beruhen. Die Gefahr ist nicht gering, dass der Forscher solche Annahmen macht, die das gewünschte Ergebnis produzieren. Oder er macht schlicht Fehler.
Einem interessierten Laien wie mir bleibt also nichts anderes übrig, als eine andere logische Denke anzuwenden: Wegen immer schwieriger werdender geographischer und geologischer Verhältnisse steigen die energetischen Extraktionskosten der meisten Rohstoffe – von Öl, Kohle, Gas und Uran, über die bekannten Industriemetalle bis zu den seltenen Erden (das ist einer der wichtigsten Gründe dafür, dass ihre Geldpreise sehr stark gestiegen sind und weiter steigen werden.) Mithilfe eben solcher Rohstoffe werden auch Fotovoltaik-Module und Windkraftanlagen gebaut. Das bedeutet, dass der notwendige Energieinput für deren Bau stetig steigt. Der durchschnittliche Energiegehalt von Sonnenschein und Wind bleibt aber unverändert. Unter diesen Bedingungen kann der Nettoenergiegewinn der genannten erneuerbaren Energietechnologien nicht sprunghaft steigen. Wahrscheinlicher ist, dass er eher sinkt. Es sei denn, dass Wunder geschieht, was eigentlich nie geschieht, obwohl kleine Fortschritte nicht auszuschließen sind.
James Lovelock, Vater der Gaia-Theorie, arbeitete an einem Projekt, das auf die Frage antworten wollte, ob es auf dem Mars Leben gibt. Er dachte: Es ist sehr schwierig, auf dem Mars zu landen und ein paar tausend Bodenproben zu sammeln. So stellte er sich die Frage, wie wäre die Marsatmosphäre, die leichter zu untersuchen ist, chemisch, wenn es da Leben gäbe. In ähnlicher Weise frage ich mich, wie wäre die finanzielle "Atmosphäre" der erneuerbaren Energietechnologien, wenn ihre Erntefaktoren tatsächlich ungefähr 40 bis 70 wären. Sie hätten längst alle konventionellen Energietechnologien vom Markt vertrieben. Denn nach Odum/Heinberg beträgt der Erntefaktor vom Öl aus dem Mittleren Osten nur 8,4, der von Kohle aus Wyoming 10,5, und der von terrestrischem Gas 10,3.
Statt den Markt rapide zu erobern, verlangen die erneuerbaren immer noch Subventionen in verschiedenen Formen. Wie soll man das überhaupt verstehen? Und warum gerät die Fotovoltaikindustrie in Panik, wenn die Regierung die Förderung etwas kürzen will? Und warum sind in den letzten Monaten drei große Solarenergiefirmen trotz aller Subventionen pleite gegangen (zwei in Deutschland, eine in den USA)? Der Fakt, dass die erneuerbaren Subventionen brauchen, ist ein Indiz dafür, dass sie zwar machbar, aber allein nicht lebensfähig sind – in dem Sinne, dass der Nettoenergiegewinn, wenn es den überhaupt gibt, zu gering ist, um damit die zweite Generation der Solar- und Windkraftwerke zu bauen, nachdem die Lebensdauer der ersten Generation ausgelaufen ist. Dann nutzt es nichts, dass sie beim Betrieb kein CO² ausstoßen.
Man muss verstehen, woher die Subventionen kommen. Sie kommen vom Gesamtertrag der ganzen Wirtschaft, die bekanntlich größtenteils von den konventionellen Energien, hauptsächlich von fossilen Brennstoffen, getrieben wird. Wie können erneuerbare Energietechnologien die Energietechnologien ersetzen, von denen sie leben? Sie sind Parasiten, die sterben würden, sobald der Wirt stirbt.
Eine andere Frage, die man aufwerfen muss, ist, warum das sonnen- und windreiche Indien, immer noch neue Kohle- und Atomkraftwerke bauen will. Für indische Ingenieure wäre es doch keine schwierige Aufgabe, jedes Jahr ein paar tausend Windkraftanlagen und kleine und große Solarkraftwerke zu bauen. Und warum exportieren die Chinesen lieber ihre Fotovoltaikmodule nach Europa und Amerika, statt mit ihnen ihren CO²-Ausstoß zu reduzieren?
Zugegeben, das sind alle Indizien, indirekte Argumente, keine Beweise. Aber ich muss diese Denkart anwenden, weil die Zahlen der Forscher unzuverlässig sind. Ich denke, der Disput wird in den nächsten zehn Jahren entschieden sein.

Montag, 16. Januar 2012

Optimismus zum neuen Jahr —
ausnahmsweise

Von jeher wünschen wir uns am Jahresende gegenseitig ein gutes neues Jahr, eines, das schön und erfolgreich sein soll. Bis vor vier Jahren war das ein realistischer Wunsch. Dann kam die große, nicht enden wollende, Angst einflößende Krise. Da gibt es nicht nur die vielseitige Weltwirtschaftskrise. Parallel dazu scheiterte eine UN-Klimakonferenz nach der anderen. Seitdem klingen solche Neujahrswünsche für viele unrealistisch, hohl, wie eben eine traditionelle Formalität. Überall herrscht eine pessimistische Grundstimmung. Sogar Frau Merkel sagte in ihrer diesmaligen Neujahrsansprache, das Jahr 2012 werde für die Deutschen schlechter sein als das vergangene Jahr.
Aber am Vorabend des neuen Jahres las ich in der SZ einen Text, der, was die Stimmung betrifft, total konträr zu der pessimistischen Grundstimmung steht. Er trägt auch den Titel "Optimismus". Das ist ein Gespräch mit dem erfolgreichen britischen Buchautor Matt Ridley, ein promovierter Zoologe, der in den 1980er Jahren der Wissenschaftsredakteur des renommierten britischen Wirtschaftsmagazins "The Economist" war.
Man sollte den Text schon lesen. Denn, wenn Ridley recht hat, dann haben wir Grund, entspannt auf die Zukunft zu blicken. Dabei ist Ridley kein einfacher, charakterlich unverbesserlicher Optimist. Er sagte: "Instinktiv bin ich genauso wenig Optimist wie die meisten. Es sind Zahlen, Daten, Fakten, Trends, die mich überzeugt haben." Es wäre wunderbar, wenn er recht hätte.
Seine Fakten scheinen auf den ersten Blick überzeugend zu sein: Er sagte: "Allein zu meinen Lebzeiten [er ist 53 Jahre alt] ist der Durchschnittserdenbürger … dreimal reicher geworden, dabei hat sich die Bevölkerung verdoppelt." "Der Durchschnitts-Chinese ist zehn Prozent reicher als vor einem Jahr, der Durchschnitts-Inder neun, der Durchschnitts-Afrikaner fünf"
Als ich diese Sätze las, war ich zunächst entsetzt. Wie kann ein ausgebildeter Naturwissenschaftler so was Plattes sagen? Aber man kann da wohl nichts anderes erwarten. Er hat schließlich seine politische Ökonomie bei "The Economist" gelernt, dem Sprachrohr des britischen Kapitals. Solche Leute haben gelernt, man soll das Bruttoinlandprodukt (BIP) und dessen Wachstumsraten anschauen. Basta! Das ist genug für sie.
Meine Kritik an solcher Begründung für Optimismus beruht nicht nur, aber auch auf der fragwürdigen Aussagekraft von Durchschnittszahlen. Der Durchschnitt von einem Millionär und einem armen Slumbewohner ist ein Mittelschichtbürger. Auch Ridley weiß um die Tücken von Durchschnittswerten und Pauschalbegriffen wie "reicher". Er sagte, wohl an die Menschen in reichen Ländern denkend: "Natürlich sehe ich auch, dass die Fettleibigkeit oder das Verkehrschaos oder auch psychische und geistige Erkrankungen schlimmer werden, …". Und er weiß auch, dass die Lage im größten Teil Afrikas sehr schlecht ist. Dennoch bleibt er bei seinem Optimismus: "Weite Teile Afrikas zeigen seit zehn Jahren phantastisches Wachstum. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass Afrika nicht schafft, was vierzig, fünfzig Jahre zuvor die asiatischen Schwellenländer geschafft haben. Ich bin überzeugt, dass in vierzig Jahren Durchschnittsafrikaner den Lebensstil haben wie Asiaten heute."
Ridleys Denkfehler Nummer 1: Im ganzen Gespräch ließ er weder das Wort "Ressourcen" noch das Wort "Knappheit" fallen. Reichtum, Wohlstand, Lebensstil – all das haben seinem Verständnis nach nichts zu tun mit Ressourcen. "Das Geheimnis menschlichen Wohlstands" ist seiner Meinung nach, dass "wir füreinander arbeiten", also globalisierter Freihandel. Als ob man überhaupt keine Ressourcen bräuchte. Es ist weit schlimmer als, was Prof. Beckerman – seinerzeit Leiter des Fachbereichs Ökonomik an der berühmten Universität von Oxford – 1995 schrieb. Er sah schon ein, dass für Wohlstandsproduktion Ressourcen notwendig sind. Aber er war überzeugt, dass die Ressourcen, die in der Erdkruste bis zu einer Tiefe von einer Meile vorhanden sind, für kontinuierliches Wirtschaftswachstum für die nächsten 100 Millionen Jahre genügen würden.
Ridleys Denkfehler Nummer 2: Er hat anscheinend bis jetzt keine Kritik an der Messgröße BIP gehört. Dabei haben wir in den letzten Jahren Studien vorgelegt bekommen, die sagen, dass das BIP wenig zu tun hat mit Wohlstand. Eine davon wurde sogar von Sarkozy in Auftrag gegeben. Zu den Autoren gehörten berühmte Ökonomen, darunter Nobelpreisträger Amartya Sen und Joseph Stiglitz.
Ridleys Denkfehler Nummer 3: Er kennt anscheinend nur Kurven, die linear nach oben gehen. In Afrika gab es in den letzten Jahren fünfprozentiges Wirtschaftswachstum. Also werden die Afrikaner in 40 Jahren den gleichen Lebensstandard genießen wie heute die Chinesen und die Inder. Er kennt offensichtlich keine Kurve, die nach einem Höhepunkt nach unten geht.
Und sein letzter Denkfehler: Er hat wohl nichts davon gehört, dass der Wert von Wirtschaftsleistungen, die entstandene Schäden kompensieren oder geleistet werden, um sich vor Schäden zu schützen, nicht zum BIP gehören sollte. Sie sind Kosten, kompensatorische und defensive Kosten. Dem chinesischen nationalen Statistikamt zufolge entsprachen die Kosten der ökologischen Zerstörung in China im Jahr 2004 3% des Bruttoinlandprodukts
Gibt es denn absolut keinen Grund für Optimismus? Wenn überhaupt begründet von Optimismus geredet werden darf, dann nicht in Kategorien von Wachstum des BIP, oder in Kategorien von nachholender Entwicklung, wobei diese faktisch nichts anderes bedeutet als rapides Wirtschaftswachstum im üblichen Sinne. Man kann aber schon ein bißchen optimistisch sein, wenn man sieht, dass heutzutage viele Menschen, wenn sie ihre Zukunftsvision darstellen, in ganz anderen Kategorien reden, in Kategorien von Bruttoinlandglück, solidarische Ökonomie, Gemeinwohlökonomie, Postwachstumsökonomie, gesunde Umwelt usw. Sie reden nicht vom Recht der Schwellenländer auf Entwicklung, wie neulich Sunita Narayan, eine angeblich führende Ökologin Indiens, forderte. Seit einiger Zeit greifen diese Konzeptionen um sich. Solche Gesellschaftsvisionen brauchen für ihre Verwirklichung keine unmögliche Rate von Wirtschaftswachstum. Sie brauchen eher Wirtschaftsschrumpfung, De-development, Decroissance, die sowieso geschieht oder geschehen wird, weil ja die Ressourcen, insbesondere die fossilen Energieressourcen, zur Neige gehen.